Makkabi Haus. Eine
große viktorianische Villa mit vielen Räumen in
West Hampstead, Heimat des Londoner Zweiges des
ersten und bedeutendsten jüdischen Sportvereins.
Das Haus erlebte die Rückkehr von Mitgliedern, die
Jahre vorher in den Krieg gegangen waren. Unter
diesen Rückkehrern waren frühere Kriegsgefangene
der Nazis und der Japaner, RAF-Crews, die ihr Glück
genossen, überlebt zu haben, Angehörige der Kriegs-
und Handelsmarine, wie ich selbst, und Veteranen
fast aller Truppengattungen. Es gab Juden, die
zusammen mit den Alliierten gekämpft hatten, ein
Dutzend Polen bildete die größte Gruppe unter
ihnen, und da niemand aus ihren Familien überlebt
hatte, wollten sie nicht nach Polen zurückkehren.
Mit zweien von ihnen, sie waren an der Erstürmung
und Eroberung der Nazi-Festung Monte Cassino
beteiligt gewesen, freundete ich mich an. Sie
hatten bei ihren früheren Waffenkameraden einen
solch starken Antisemitismus erfahren, daß Polen
ihnen verhaßt war. Zwölf Makkabäer kerirten nie
zurück.
Die überschwengliche
Freundlichkeit, die in der Vorkriegszeit im Makkabi
Haus geherrscht hatte, war verschwunden. An ihre
Stelle war eine gedämpfte Atmosphäre getreten, die
die Ermüdung und Unsicherheit der Nachkriegszeit
widerspiegelte. Die Toleranzschwelle der
Ex-Soldaten war niedrig, und zwischen ihnen und
den jüngeren Mitgliedern, die nicht gekämpft
hatten, bestand eine unangenehme Spannung. Die
ehemaligen Soldaten in ihren schlechtsitzenden
Entlassungsklamotten, die sich unbeholfen dem
Vakuum der Friedenssituation anzupassen
versuchten, hatten wenig gemeinsam mit den
extrovertierten, lauten Jugendlichen in
>Zoot-Suits<, einer damaligen häßlichen Mode:
Schenkellange Jackets, verschönert durch
verschlungene Silberketten, die von der Brusttasche
bis in Kniehöhe herunterbaumelten. Die Hosen,
sackförmig von der Taille bis zum Knie, verengten
sich an den Knöcheln zu 35 cm breiten Säumen. In
stillschweigendem Einverständnis hielten sich die
ehemaligen Soldaten in den zwei Klubräumen vor der
Kantine auf, während sich die Zoot-Suit-Träger
anderswo trafen.
Die jüdischen
Ex-Soldaten begannen über die faschistischen
Versammlungen, die plötzlich in jüdischen
Wohnbezirken wie Hackney, Edgware und Stamford Hill
abgehalten wurden und über antisemitische Plakate,
die dort aufgetaucht waren, zu reden. Sie
betrachteten das neue Anwachsen des Faschismus mit
einem müden Dejävu-Gefühl. Befangen im Zivilleben
und sensibel gegenüber dem Konflikt zwischen ihren
früheren Mitkämpfern bei den britischen Truppen,
und den Juden in Palästina, fragten sie sich, ob
sich überhaupt irgendwas zum Besseren gewendet
hatte.(1) Aus dem Kino zu kommen, wo in
der Wochenschau die Leichen jüdischer Männer,
Frauen und Kinder in den Konzentrationslagern
gezeigt wurden, die von Bulldozern in Kalkgruben
geschoben wurden, und dann draußen an
Faschistenversammlungen vorbeizukommen oder
Hakenkreuze an jüdische Häuser oder Synagogen
geschmiert zu sehen, führte bei den ehemaligen
Soldaten zu Gefühlen, die von cholerischer Wut bis
zu einem kalten, übermächtigen Wunsch reichten,
diese Verbrecher zu töten. Diese Wut wuchs und
verbreitete sich unter ihnen.
Das Hauptthema der
Gespräche war Palästina, die Flut der jüdischen
Überlebenden, die versuchten, dort hinzugelangen
und die Anstrengungen der britischen Streitkräfte,
diese Flut einzudämmen. Es gab unaufhörlich
hitzige Diskussionen zwischen denen, die sich mehr
britisch als jüdisch fühlten und denen, deren
Solidarität völlig auf der Seite der jüdischen
Überlebenden lag. Es war eine schmerzhafte doppelte
Loyalität. Aber alle, egal welcher Ansicht sie
waren, waren sich voller Schmerz der Tatsache
bewußt, daß in den letzten sechs Jahren zu viele
Juden umgekommen waren. Als der
Labour-Außenminister Ernest Bevin erklärte »Die
Juden sollten nicht versuchen, sich an die Spitze
der Schlange zu drängen«, konnten die Juden selbst
nur an die Schlangen vor den Gaskammern denken.(2)
Bevin traf einen bloßliegenden Nerv und verursachte
einen zweitägigen Aufstand in Tel Aviv, bei dem
sechs jüdische Zivilisten von britischen Soldaten
erschossen wurden. Im Mak-kabiklub brachte dieser
Vorfall einige Ex-Soldaten aus der >mehr britisch
als jüdisch<-Fraktion auf die andere Seite. Es
erreichten uns auch Berichte über die ersten Juden
in der britischen Armee in Palästina, die sich
weigerten, gegen ihre Glaubensgenossen vorzugehen.
Die Armee verhängte nur leichte Strafen und
versetzte die Beschuldigten. Diese Vorfälle
zeigten, woher bei den Juden auf der ganzen Welt
der neue Wind wehte, und wir alle wurden davon
beeinflußt.
Was uns aber vor
allem verrückt machte, war das Ausmaß der Greuel in
den Konzentrationslagern, das jetzt enthüllt wurde.
Es erfüllte jeden der Ex-Soldaten mit einem
verzehrenden Gefühl der Scham, daß niemals Versuche
unternommen worden waren, die Gefangenen in den
Lagern zu retten. Luftwaffenangehörige hatten
keinen Zweifel, daß es möglich gewesen wäre, durch
gezielte Angriffe Gaskammern, Verbrennungsöfen
und SS-Baracken zu zerstören. Frühere
Fallschirmjäger und Angehörige der Special Forces
machten geltend, daß durch den Einsatz von
Luftlandetruppen gegen die Lager viele Menschen
hätten gerettet werden können, aber das war nie
versucht worden. Kampferprobte Männer verließen das
Kino, weil sie diese Wochenschauen nicht ertragen
konnten. Mit ansehen zu müssen, wie die Royal Navy
schrottreife Kähne aus Griechenland und der
Türkei, vollgestopft mit den kranken und
gebrochenen Überlebenden der Lager, aufbrachte, und
diese hilflosen Menschen dann in den Wochenschauen
von Pathe Gazette und Movietone auf
Zypern eingesperrt hinter Stacheldraht
wiederzusehen, schien Abgründe der Inhumanität
aufzutun. Und während all das passierte, saßen wir
kaffeetrinkend im Makkabi Haus und überlegten, ob
wir uns einen schönen Abend im West End machen
sollten. Wir fühlten uns nutzlos.
Es war fast eine
Erleichterung, als Ernest Bevin,
ungeachtet der Opposition aus beiden Seiten des
Parlaments und eines Teils der britischen Presse,
die Internierung jüdischer Führer in Palästina
anordnete. Das führte zu einem fast hundert Meter
langen Protestzug, der in der Com-mercial Road
begann, über Gardiners Corner ging und am Trafalgar
Square mit Reden endete. In den vorderen Reihen
gingen Sam Klampf, Sergeant bei den
Fallschirmjägern, der in Arnheim(3)
gekämpft hatte, Gerry Flamberg, ebenfalls
Fallschirmjäger, der bei Arnheim verwundet und
später ausgezeichnet worden war, Professor
Brodetsky, der frühere U-Bootmatrose Tommy Gould,
Träger des Viktoria-Kreuzes, und ein amerikanischer
Infanteriesoldat, der auf seine Entlassung und den
Transport nach Hause wartete. Auf dem ganzen Weg
schlossen sich immer mehr
Menschen der Demonstration an: Männer und Frauen,
Jugendliche in Zoot-Suits und Arbeiter, Juden und
Nichtjuden, und zahllose
Soldaten und Soldatinnen der Alliierten, der Briten
und des Commonwealth. Gelegentlich hörte man einen
höhnischen Pfiff, aber im großen und ganzen war das
Schweigen der zuschauenden Menge weit davon
entfernt, feindselig zu sein.
Obwohl die Ereignisse
im Ausland uns bereits genügend erregten,
beschäftigten uns die untrüglichen Zeichen eines
wiederauflebenden Faschismus in unserem eigenen
Land mehr. Eine Sammlung faschistischer Literatur
war ins Makkabi Haus gebracht worden. Wir alle
waren Zeugen der öffentlichen
Faschistenversammlungen gewesen, auf denen die
Redner >Weg mit den Juden< und >Brennt die
Synagogen nieder!< brüllten und wir alle hatten die
Hakenkreuze und die Buchstaben >PJ< (Perish Judah)
mit dem Blitzsymbol dazwischen an den Mauern von
Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen
gesehen. Jetzt kam es zu den ersten Zwischenfällen.
Anfang Januar 1946,
nachdem Dame Sybil Thorndyke das New Yid-dish
Theatre in der Adler Street, in Ostlondon, besucht
hatte, waren die Mauern mit antijüdischen Parolen
und den Blitzsymbolen der Faschisten beschmiert.
Wir reichten die Ausgabe der The Truth vom
4. Januar herum, die von Colin Brooks, dem
ehemaligen Sekretär Lord Rotherme-res,
herausgegeben wurde. Darin forderte Brooks die
Juden auf, das Land zu verlassen und ihre Wohnungen
den zurückkehrenden britischen Soldaten zu
überlassen. Der stellvertretende Chefredakteur von
The Truth war A. K. Chesterton, der vor dem
Krieg Action, das offizielle Organ der BUF,
geleitet hatte.
Ich erinnere mich,
daß ich an einem kalten, nassen Januarabend 1946
mit meinem Cousin Harry Rose, der gerade aus der
Armee entlassen worden war, an der Ecke der Star
Street in Kilburn stand. Harry war Sergeant in
General Wingates Kommandotruppe gewesen, die hinter
den japanischen Linien in Burma operiert hatte.
Sein Krieg war hart gewesen. Harry blieb der Mund
offen stehen, als er dem faschistischen Redner auf
der Tribüne zuhörte, dann rief er:
»Dem Arschloch stopf
ich das Maul!«
»Tu das nicht!«, ich
hielt ihn am Arm fest, »die Polizisten da drüben
können dich festnehmen, wenn du die öffentliche
Ruhe< störst, Zwischenrufe, Schlägereien, die
Plattform umstoßen, alles kann dich in den Knast
bringen.«
»Das ist es verdammt
nochmal wert«, knurrte Harry und setzte hinzu: »Tut
denn niemand was dagegen?«
»Das fragen wir uns
alle«, antwortete ich. »Was man tun kann, und wie
man es am besten anfängt.«
In diesen frühen
Tagen lebten die Faschisten in einem Hochgefühl.
Sie wußten, daß sie vor gerichtlicher Verfolgung
sicher waren und daß die Polizei sie schützte.
Opposition gab es kaum. Aber, ohne es zu ahnen,
waren sie dabei, einen Orkan zu entfesseln. Die
britischen Juden des Jahres 1946, besonders die
Ex-Soldaten unter ihnen, waren von einem anderen
Kaliber als die jüdische Gemeinde der
Vorkriegszeit. Die Mentalität des
>duck-dich-und-geh-schnell-nach-Hause< war
verschwunden. Das Gefühl, das sich in der Losung
>Niemals wieder!< ausdrückte, verbreitete sich in
jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt und erfaßte
genau die neue Stimmung. Mitglieder von Makkabi
berichteten über faschistische Kundgebungen an
neuen Plätzen: Brockwell Park, Clapham
Common, Church Hill, Walthamstow und Chapel
Market in Islington. Die Frustration stieg, und
eine unbehagliche nervöse Unruhe lag in der Luft.
Dann, am letzten Februarsamstag 1946, abends,
passierte das Unvermeidliche.
Gelangweilt vom
Kaffeetrinken und von ziellosen Gesprächen
quetschten sich vier von uns in meinen Ford Prefect
und fuhren auf einen Drink und einen Szenenwechsel
zum Jack Straw's Castle in Hampstead Heath. Es
waren Gerry Flamberg, Alec Carson, ein
Ex-RAF-Lieutenant, der mit einem hohen
Luftwaffenorden ausgezeichnet worden war, Len
Sherman, ehemaliger Soldat bei den Welsh Guards,
trainierter Ringer und Judoexperte, und ich. Ich
hatte auf See gedient. Als wir zum Whitestone Pond
hochstiegen, sahen wir, daß dort, auf der Wiese
neben dem Teich, eine Kundgebung im Gange war. Ein
großer Union Jack, der über der Tribüne flatterte,
zeigte uns, daß die Faschisten bis hierher gekommen
waren.
»Zu Befehl«, sagte
Alec, »die 18b Regulation Füsiliere sind da!« Das
Podium trug die Aufschrift >The British League of
Ex-Servicemen and Women< und davor verkauften vier
muskulöse junge Männer Exemplare von Britain
Awake. Ungefähr 60 Leute hatten sich
versammelt. Wir parkten den Wagen und schlenderten
zum Rand der Menge.
Der Sprecher war
Jeffrey Hamm, ein Vorkriegsmitglied der BUF und
18b-Internierter. Er war ein großer, magerer,
haßerfüllter Mann, mit dünnen, zurückgekämmten
blonden Haaren und angespanntem Gesicht. Seine
einzige Zielscheibe waren >die Fremden in unserer
Mitte<, diejenigen, die >auf dem Schwarzmarkt fett
geworden waren<, während >unsere Jungs< in fremden
Ländern im Kampf gestorben waren. Ein älterer
deutscher Jude neben mir griff nach meinem Arm.
»Hat sich denn nichts
geändert, nach all dem was passiert ist?«
»Vergeßt die Drinks«,
murmelte Gerry, »jetzt geht's los!« Plötzlich
drängte er sich durch die Menge und auch wir
drängelten uns Seite an Seite nach vorne. Wir
erreichten die vorderste Reihe des Publikums —
Juden und NichtJuden, jung und alt — alle wirkten
eher verwirrt als sonstwas. Wir traten den Ordnern
entgegen.
»Die Plattform gehört
mir«, wisperte Gerry.
»Ich nehme die zwei
links«, antwortete Len. Alec und ich suchten uns
jeder ein Ziel aus. Len ging zu seinem Paar und tat
so, als ob er in seiner Tasche nach Kleingeld
suchte, er sagte:
»Ich nehme zwei von
diesen Britain Awake.« Dann, mit der
blitzartigen Geschwindigkeit des Trainierten,
packte er die Köpfe der beiden und knallte sie
zusammen. Ich hörte den dumpfen Ton
und sah sie zu Boden gehen. Gerry stürzte
die Rednerplattform um und ich sah, wie Hamm
rückwärts ins Gras fiel. Eine Frau kreischte. Ich
trat meinen Gegner zwischen die Beine und er
krümmte sich vor Schmerzen. Alec kämpfte mit seinem
Widersacher, der sich losriß und zwischen Bäumen
und Büschen hindurch in Richtung der West Heath
Road den Berg hinunterrannte.
Die Menge zerstreute
sich schreiend in alle Himmelsrichtungen, ein
gebeugter Hamm schleppte seine Plattform und die
Fahne zu einem grauen Lieferwagen. Der Ordner, den
ich getreten hatte, verdrückte sich bis zu den
Bäumen, wo er stehenblieb und uns zuschrie:
»Judenschweine! Wir kriegen euch, wartet
bloß ab!« Gerry stieß ein triumphierendes Gebrüll
aus und rannte auf ihn zu. Der Ordner verschwand in
der Pflanzenwelt. Wir riefen Gerry zurück. Nur der
ältere deutsche Jude war geblieben und bestand
darauf, jedem von uns die Hand zu schütteln. Dann
drängte er: »Haut ab, Jungs, los, bevor die Polizei
hier ist. Haut ab!« Er schubste uns buchstäblich
zum Auto. Die Fahrt zurück zum Makkabi Haus war
fast ausgelassen, in unserem Hochgefühl redeten wir
alle durcheinander.
»Einfachste Sache der
Welt, oder?«, sagte Len. »Wie war's bei dir, Alec?«
»Das ist ja alles
schön und gut, wenn man so fit ist wie ihr
Saukerle, aber Flugzeuge fliegen war eher eine
sitzende Beschäftigung«, antwortete
Alec.
»Dafür hätten wir
einfahren können.« »Dann wird es Zeit, daß die
Gesetze geändert werden!« »Ich habe gehört, daß sie
in der ganzen Stadt Versammlungen abhalten.«
»Dann haben wir eine
Menge zu tun!«
Die pure Bösartigkeit
des Redners hatte uns dazu gebracht, zu handeln.
Dies war die erste Nachkriegskundgebung der
Mosley-Anhänger, die durch physische Gewalt beendet
wurde. Zurück im Makkabi Haus ergötzten wir die
anderen, die sich voller Neid wünschten, sie wären
dabeigewesen, mit unseren Erlebnissen. Bis jetzt
waren mutige Einzelne, die bei Faschistentreffen
energisch protestiert hatten, zusammengeschlagen
und gelegentlich auch noch festgenommen worden,
aber an diesem Abend im Makkabi Haus breitete sich
eine neue erregte Stimmung aus. Ohne es zu wissen,
hatten wir den Weg vorgezeichnet: Die Faschisten
konnten und mußten angegriffen werden, aber auf
organisierte und disziplinierte Weise.
Wir beriefen an einem
Wochentag in der ersten Märzwoche im Makkabi Haus
eine Versammlung ein und suchten uns dafür einen
wenig genutzten Raum. Wir unterrichteten die
Verwaltung nicht davon und kündigten das Treffen
nicht öffentlich an. Die von uns Informierten
sollten einfach Gleichgesinnte mitbringen. 38
Ex-Soldaten und 5 Frauen tauchten auf. Unter ihnen
war Joe Zilliacus, ein Freund von Gerry, der
Offizier bei der Marineinfanterie gewesen war und
dessen Vater Labourabgeordneter für einen
Glasgower Wahlbezirk war. Joe war kein Jude. Aber
er leitete später viele Angriffe auf faschistische
Straßen- und Saalveranstaltungen.
Dieses erste Treffen
war gedämpft und erwartungsvoll, alle Anwesenden
wußten, daß diese Organisation sie in sehr
stürmische Gewässer führen konnte. Gerry gab einen
mitreißenden Bericht über den Vorfall am Whitestone
Pond und darauf folgte die allgemeine Diskussion.
Ein Jurastudent stellte klar, daß die vier, die die
Kundgebung gesprengt hatten, wegen
Landfriedensbruch, Verstoß gegen den Public Order
Act, schwerer Körperverletzung und Gott weiß was
noch hätten verhaftet und angeklagt werden können.
Sie hätten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt
werden können und als vorbestraft gegolten. Wären
alle hier bereit, dieses Risiko einzugehen?
»Wärst du?«, brüllte
jemand.
»Nach drei Jahren mit
der 8. Armee in Afrika, Sizilien und Italien ist
die Antwort ja — ich bin nicht besonders glücklich
darüber, aber, ja, ich wäre verdammt nochmal dazu
bereit!«
Er bekam Beifall.
Sein Beitrag bestimmte den Stil der weiteren
Diskussion. Einige betonten, daß das Jewish
Defence Committee (JDC) des Board of
Deputies sich des Wiederauflebens des
Faschismus genau bewußt sei und von ihnen sicher
Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Außerdem
veranstaltete AJEX eigene Straßenkundgebungen, um
den jüdischen Standpunkt zu vertreten.
»Verteidigen,
verteidigen, immer nur Verteidigung«, protestierte
Jackie Graham, ein stämmiger Ex-Soldat mit der
härtesten Faust außerhalb eines Boxrings. »Dieses
ewige Verteidigen macht mich krank, wenn man mit
denen fertigwerden will, dann muß man sie
angreifen!«
Alec Black, ein
Infanterieoffizier, der am D-Day in Frankreich
gelandet war und die schweren Kämpfe von La
Falaise und Caen überlebt hatte, ergriff das Wort.
Ruhig und deutlich stellte er fest, daß die Juden
immer eine integrierte und gesetzestreue
Gemeinschaft gewesen waren, und daß daher das
jüdische Establishment keine Aktivitäten gutheißen
könne, die möglicherweise gegen das Recht
verstießen.
»Kurz gesagt«, sagte
Alec nüchtern, »das Verteidigungskomitee kann
nur verteidigen, es muß die Gesetze einhalten
und kann daher noch nicht mal stillschweigend
dulden, daß die Faschisten angegriffen werden, wenn
das bedeutet, Gesetze zu brechen. Also müssen wir
das tun, was ihnen nicht möglich ist.«
Alle Anwesenden waren
in ihren Zwanzigern, unverheiratet und noch nicht
beruflich etabliert. Ein Taxifahrer bot für jeden,
der es benötigte, sein Taxi an, egal ob tagsüber
oder nachts, und fügte hinzu, daß einige seiner
Kollegen dasselbe tun würden. Ein Drucker bot an,
zum Selbstkostenpreis zu drucken, ein Arzt, ein
Baugutachter, Elektriker, ein Funktechniker und
zwei Besitzer von Autowerkstätten, alle stellten
ihr berufliches Wissen und ihre Dienste zur
Verfügung. Wir machten eine Liste der Ressourcen
und Fähigkeiten der Mitglieder, die sie umsonst und
auch zu den unmöglichsten Zeiten anboten. Nach
eineinhalb Stunden wurde die Diskussion beendet und
Alec Black faßte die Ergebnisse zusammen.
»Wir sind uns darüber
einig, daß wir eine Organisation gründen, um die
Faschisten zu bekämpfen. Diese Organisation ist
nicht politisch festgelegt. Alle, die Faschismus
und Antisemitismus bekämpfen wollen, egal welcher
politischen Anschauung, sind willkommen. Außerdem
ist allen klar, daß die Mitglieder das Risiko
eingehen, bei den möglicherweise gewalttätigen
Konfrontationen verletzt, vielleicht sogar schwer
verletzt, oder festgenommen zu werden. Wenn also
irgend jemand hier nicht mitmachen will, soll er
oder sie freundlicherweise den Raum verlassen und
niemand wird es ihnen übelnehmen.« Niemand rührte
sich. Er wiederholte den Vorschlag, aber immer noch
stand keiner auf.
»Also«, fuhr er fort,
»alle Anwesenden wollen mitarbeiten?«
»Verdammt nochmal,
klar wollen wir!«, brüllte ein stämmiger junger
Mann, »deswegen sind wir doch verdammt nochmal
hier, oder was?« Gelächter löste die Spannung, und
dann legte der provisorische Gründungsausschuß die
beiden Ziele fest, die vorher umrissen worden
waren.
-
Den Kampf gegen die
emporkommenden Faschisten aufzunehmen, mit dem
Ziel, sie zu vernichten.
-
Das Parlament
dahingehend zu beeinflussen, rassistische Hetze
unter Strafe zu stellen und als Verbrechen zu
behandeln, das mit einer Freiheitsstrafe geahndet
wird.
Beides wurde
begeistert angenommen. Jetzt kam die Suche nach
einem Namen, eine ausgelassene Diskussion, in der
die Vorliebe der Faschisten für großspurige Namen
imitiert wurde. Endlich rief eine erschöpfte
Stimme:
»Um Himmelswillen! Es
ist doch nicht wichtig, wie wir uns nennen sondern
was wir tun! Wir sind 43 Leute hier, also nennen
wir uns >The 43 Group<! Ich muß auch mal nach
Hause!«
»Und ich könnte einen
Kaffee vertragen«, rief jemand anders, »ich
unterstütze >The 43 Group<!«
Dieser Vorschlag fand
einmütige Zustimmung. Die Faschisten hatten die
Arena nun nicht mehr für sich allein.
Anmerkungen
1)
Die jüdischen Ex-Soldaten fühlten sich zwei Seiten
gegenüber loyal: gegenüber den britisch-Truppen,
mit denen sie gekämpft hatten und gegenüber
denjenigen Überlebenden des Holocaust, denen jetzt
verwehrt wurde, sich ein neues Leben aufzubauen.
2) Pressekonferenz zu Palästina, 1. März 1946
3) Eine in GB bekannte Militärkatastrophe:
September 1944 versuchten britische Fallschirmjäger
die Rheinbriicke bei Arnheim (NL) zu erobern, um
ein schnelleres Vorankommen der Alliierten nach
Deutschland zu ermöglichen. Das britische 2.
Armeekorps schaffte es jedoch nicht, nach Arnheim
durchzubrechen, und die Truppen dort wurden von
Einheiten der Waffen-SS belagert und nach 4 Tagen
äußerst erbitterter Kämpfe besiegt.
Editorische
Hinweise
Morris Beckman, The 43 Group, Antifaschistischer
Kampf in Großbritannien 1946-1950, Berlin 1995,
S. 22-30
Das sehr lesenswerte Buch ist
nur noch antiquarisch erhältlich.
|