Zu
Hunderttausenden gingen die Menschen auf die Straße.
Der Anteil der jungen Generationen dabei war hoch,
auch der Migrantenanteil schien beträchtlich.
Anweisungen der Sicherheitskräfte wurden des
Öfteren ignoriert. Es kam zu Ausschreitungen, bei
denen im Land insgesamt 292 Menschen festgenommen
wurden. In den Pariser banlieues war
der Verkehr auf den Bus- sowie Straßenbahnlinien
am Spätnachmittag eingestellt worden, so dass viele
Einwohner/innen in ihrer Mobilität eingeschränkt
wurden.
Nein, die Rede ist an dieser Stelle nicht von den
Sozialprotesten in Frankreich im Laufe der
vergangenen Monate, sondern vom vorigen Sonntag
Abend, den 15. Juli d.J. Nach einem angespannten
Endspiel - und trotz anfänglich mehrheitlich
kroatischen Ballbesitzes - war die französische
Nationalmannschaft, zum zweiten Mal seit 1998, Fußballweltmeister
geworden. Auf den Straßen feierte daraufhin
eine bunt gemischte Menge mehr oder minder
ausgelassen. Unter die zahlreichen blau-weiß-roten
mischten sich dabei am frühen Abend laut
Beobachtungen des Verf. dieser Zeilen auf den
Champs-Elysées auch algerische, brasilianische und
andere Fahnen. Neben Vive la France
ertönte mitunter auch Vive l’Afrique,
was der familiären Herkunft eines guten Drittels
der Bleus entspricht.
Auch wenn die französische Bevölkerung – welcher
Abstammung auch immer – als relativ protestfreudig
gilt, blieb die Mobilisierung zu den sozialen
Protesten im Frühjahr und Frühsommer 2018 dahinter
weit zurück. Die seit dem 03. April 18 in einem
vorab festgelegten Rhythmus, an zwei Tagen im je
fünftägigen Zyklus, streikenden Eisenbahner konnten
sich anders als bei vielen früheren Arbeitskämpfen
nicht durchsetzen: Am 27. Juni dieses Jahres
unterzeichnete Staatspräsident Emmanuel Macron das
Gesetz zur künftigen Bahnreform. Es beinhaltet die
Einführung privatrechtlicher Arbeitsverträge und
läuft de facto, auch wenn die Regierung es
hartnäckig leugnet, auf eine Privatisierung hinaus.
Einschlägige Dokumente aus Regierungs- und
Bahnvorstandskreisen, die im Mai 2018 durch die
Boulevardzeitung Le Parisien
publiziert wurden, belegen es und widersprechen den
offiziellen Beteuerungen. Auch der studentische
Protest scheiterte in diesem Frühjahr 18: Er konnte
die Einführung eines Auswahlverfahrens in Gestalt
des Dispositivs Parcoursups nicht
verhindern. Letzteres stellt die allgemeine
Hochschulreife mit dem Abitur in Frage und lässt,
neben Noten, auch etwa subjektive Bewertungen
„durch Schuldirektor und Klassenlehrer“ im Rahmen
einer als undurchsichtig geltenden Prozedur einfließen.
Während die
Oberschüler/innen den dagegen streikenden Teilen
der Studierenden im Protest überwiegend nicht
folgten, sondern sich ab Juni dieses Jahres auf das
Abitur konzentrierten, lief sich der Protest tot.
Zu einer letzten Demonstration im Rahmen der
Sozialproteste der letzten Monate, zu welcher am
28. Juni d.J. die Gewerkschaftszusammenschlüsse
CGT, FO und Solidaires – erstmals seit zwei Jahren
– wieder gemeinsam aufrief, kam in Paris nur eine
dreistellige Teilnehmer/innen/zahl.
Das klingt erstaunlich; denn die Kombination aus
Arbeitskämpfen insbesondere bei der Eisenbahn und
Studierendenprotesten galt noch in jüngerer
Vergangenheit als explosiv und wurde durch die
Regierungen gefürchtet. Eine ähnliche Kombination
verhinderte etwa im Herbst 1986 den bisher letzten
Versuch, unter dem damaligen Premierminister
Jacques Chirac und während der PrÄsidentschaft
François Mitterrands, den Universitätszugang
einzuschränken. Millionen gingen damals im Kontext
unterschiedlich motivierter, doch zeitgleicher
Protestbewegungen auf die Straße.
Ähnliches wiederholte sich im Herbst 1995. Damals
präsentierte Premierminister Alain Juppé unter dem
nunmehrigen Präsidenten Chirac ein Maßnahmenpaket,
das unter anderem einen - ungefähr mit der jetzt
auf dem Tisch liegenden „Reform“ der SNCF zu
vergleichenden – Angriff auf die französische
Eisenbahn enthielt. Damals sollten 11.000
Streckenkilometer Bahnlinien als nicht ausreichend
lukrativ verschwinden. In diesem Jahr sind es „nur“
9.000 Kilometer, allerdings verschwanden einige
Strecken auch bereits im Rahmen kleinerer
Einsparungsmaßnahmen in den 2000er Jahren.
Auch war die Deckelung der staatlichen
Gesundheitsausgaben ein Bestandteil des
„Reform“pakets, eine Hochschulreform zählte
ebenfalls dazu.
Nach einem dreiwöchigen Streik nicht allein der
Bahnbeschäftigten, sondern aller öffentlichen
Dienste (Post, Energiesektor, Nahverkehr) sowie der
Studierenden musste die damalige Bahnreform
ersatzlos zurückgenommen werden. Alles, was die
Regierung Juppé in den kommenden anderthalb Jahren
anfasste, misslang ihr: Bei jeder neuen Ankündigung
einer größeren „Reform“ folgte ein
Aufschrei, und binnen einer Woche war sie vom
Tisch. In jener Phase 1996/97 bildete sich ferner
eine Massenbewegung aus Solidarität mit den
„illegalisierten“ Einwanderern oder Sans
papiers, und die Gewerkschaften - vor allem
ihr stärkster Dachverband, die CGT- vollzogen genau
damals einen Positionswechsel: Hatte die CGT bis
dahin und seit den 1970er Jahren „illegale
Zuwanderung“ als Quelle einer Gefahr des
Sozialdumpings abgelehnt und bekämpft, schrieb sie
nun die allgemeine Solidarität und den Kampf für
Rechtsgleichheit aller Lohnabhängigen als
Gegenmittel gegen ein solches Dumping auf ihre
Fahnen. Dies machte einen Unterschied ums Ganze in
der gesamtgesellschaftlichen Debatte aus.
Bis zu 150.000
Menschen gleichzeitig demonstrierten allein in
Paris im Februar 1997 gegen eine damalige
Verschärfung im Ausländerrecht. Von solchen
Zuständen lässt sich heute nur träumen – die
ebenfalls von vielen Initiativen und NGOs getragene
Mobilisierung gegen die drastische Verschärfung vor
allem des Asylrechts, die seit April 2018 im
französischen Parlament debattiert wird, zog in
ihren Hochphasen bis zu 3.000 Menschen bei
Kundgebungen an.
Damals, vor gut
zwanzig Jahren, schien die gesamte französische
Gesellschaft in Gärung zu geraten. Unterbrochen
wurde diese immer breitere Kreise umfassende
Mobilisierung durch den Regierungseintritt der
Sozialdemokratie infolge der vorgezogenen
Parlamentswahlen vom Mai und Juni 1997; Letztere
hatte die Regierung Juppé anberaumt, weil sie nicht
mehr ein noch aus wusste. Die Sozialdemokratie
unter ihrem nunmehrigen Premierminister Lionel
Jospin als Spitzenkandidat hatte viele der
Forderungen der sozialen Protestbewegungen
übernommen – so lange sie sich in der Opposition
befand. An der Regierung führte sie die
kapitalistischen „Tagesgeschäfte“ weitgehend
ungebrochen fort.
Dennoch blieb
Frankreich aus Sicht von Teilen der europäischen
Bourgeoisie ein „Sorgenkind“, denn manche
tiefgreifenden regressiven Umwälzungen im Sinne des
Kapitals konnten hier nur in kleinen Schritten und
mit Bedacht umgesetzt werden.
Ein weiteres Motiv kommt derzeit hinzu, gilt es zu
erklären, warum Präsident Emmanuel Macron zu
schaffen scheint, was seinen Vorgängern misslang.
Anders als etwa der in vielen Vorhaben gescheiterte
Präsident Chirac weist er nicht die
Legitimationsschwäche auf, die daraus erwächst, vor
und nach den Wahlen jeweils gegenteilige Dinge zu
erzählen. Jacques Chirac war am Ende von vierzehn
Jahren sozialdemokratischer Präsidentschaft
François Mitterrands, die die etablierte
Regierungslinke vorübergehend restlos diskreditiert
hatte, als Kandidat um seine Nachfolge angetreten.
Wählen ließ er sich jedoch faktisch mit
einem weitgehend sozialdemokratischen
Wahlkampfdiskurs, in dem Bemühen, die Lücke
aufzufüllen, welche der damals bereits kriselnde
Parti Socialiste (PS) hinterlassen
hatte. Dies hatte auch zur Ursache, dass neben
Chirac ein weiterer Kandidat aus seinem eigenen
konservativ-wirtschaftsliberalen Lager antrat, der
damalige Premierminister Edouard Balladur, von dem
er sich profilmäßig absetzen musste. Vier
Monate nach seiner Wahl, also kurz nach der
Sommerpause, setzte er sich im September 1995 ins
französische Fernsehen und verkündete folgende
Botschaft: Tut mir leid, Leute, aber eine von mir
angeordnete Bilanz der Staatsfinanzen zeigt, dass
ich die Probleme unterschätzt hatte. Aus dem
angekündigten Politikwechsel wird leider nichts
werden – und tschüs dann, danke für Ihre
Aufmerksamkeit. Solcherart Verschaukelung, wie sie
in breiten Kreisen angesehen wurde, kam nicht gut
an.
Emmanuel Macron kann sich zugute halten, bereits
vor den Wahlen im Frühjahr 2017 das meiste von dem,
was er heute tut, auch so oder ähnlich angekündigt
zu haben. Dies gilt allerdings nicht für die
SNCF-Reform, für die übrigen Maßnahmen
hingegen schon.
Wie es geht es nun
weiter, und wird Macron weiterhin mit dem Bulldozer
die vom Kapital gewünschten „Reformen“ umsetzen
können? Die nähere Zukunft steht nicht fest, doch
Emmanuel Macron würde sich sicherlich täuschen,
würde er davon ausgehen, dass er nun ohne
Widerstände durchregieren kann.
Als nächste sind umfassende Umbaumaßnahmen
bei Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenkasse
geplant. In ihrem Rahmen plant Macron unter
anderem, bei einer für demnächst geplanten
Verfassungsreform – die insbesondere der
Verkleinerung des Parlaments um ein Drittel, und
der faktischen Einschränkung der Oppositionsrechte
dienen soll – die Erwähnung des
Sozialversicherungssystems Sécurité sociale
im Verfassungstext zu streichen. Dies würde den
Sozialkassen ihre bisherige höchstmögliche
juristische Garantie nehmen. Seit einigen Wochen
führten Ankündigungen, wonach die Witwenrenten, die
vor allem in einer älteren Arbeitergeneration die
oft einzige Einkommensquelle von
(Hinterbliebenen-)Haushalten darstellen,
abgeschafft werden sollen. Macron dementierte dies
bei seiner Rede vor den beiden, zum „Kongress“ im
Versailler Schloss versammelten Parlamentskammern ,
bei der er sich verbal für einen „Sozialstaat
des 21. Jahrhunderts“ stark machte. Er
sprach davon, die bisherigen Bezieherinnen und
Bezieher sähen ihre Pensionen garantiert. Was
allerdings auch bedeuten kann, wie der
linksnationalistische Oppositionspolitiker Jean-Luc
Mélenchon argwöhnt, dass sie für all diejenigen,
die etwa ab dem kommenden Jahr eine Pension
beziehen könnten, gestrichen werden.
Der Kampf um die Sozialkassen, die in ihrer
heutigen Form direkt eine Errungenschaft der
Résistance im Zweiten Weltkrieg und des aus ihr
resultierenden „Programm des Nationalen Widerstands
(CNR)“ darstellen, könnte u.U. mit großer
Verbitterung geführt werden, falls die Regierung
den Eindruck erweckt, hier nun wirklich historische
Errungenschaften zu attackieren. Derzeit hält sie
sich noch bedeckt und verweist auf ein- bis
anderthalbjährige „Vorbereitungsgespräche mit den
Sozialpartnern“, die zum Gutteil noch zu führen
seien, bis zu einer Verabschiedung im Hochsommer
2019.
Editorischer
Hinweis
Wir erhielten
den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung eines
Artikels, der in Kurzfassung in der Wochenzeitung
Jungle World vom 19. Juli 18 erschienen ist.
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