Exekutivratsmitglied
der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans
(KCK), Rıza Altun hat sich im ANF-Interview zur
aktuellen Krise zwischen den USA und der
Türkei, dem Ausmaß und den Hintergründen der
Krise sowie zu den Entwicklungen in Syrien und
im Iran geäußert.
Eine
neue Krise der türkisch-amerikanischen
Beziehungen hat begonnen. Ausdruck dieser Krise
ist der US-amerikanische Pastor Andrew Brunson.
Beschränkt sich diese Krise nur auf ihn oder gibt
es tiefer liegende Gründe?
Die Beziehungen
zwischen der Türkei und den USA kann man nicht
losgelöst von der Krise der kapitalistischen
Moderne bewerten. Wir sprechen von einer
allgemeinen Krise der kapitalistischen Moderne
und ihren Auswirkungen auf die Region. Die Krise
zwischen der Türkei und den USA muss als Teil der
globalen Krise der kapitalistischen Moderne
betrachtet werden. Zusätzlich dazu hat die Krise
eine Ausprägung im Mittleren Osten. Wenn man all
dies nicht ganzheitlich betrachtet, kann man
keine treffende Analyse machen. Es wäre falsch,
die Situation des Priesters Brunson oder die
Festnahme von Hakan Atilla als Grund für die
Krise zu sehen. Der eigentliche Grund liegt der
herrschenden Systemkrise zu Grunde. Die aktuellen
Ereignisse spiegeln diese Krise und
problematische Mittelost-Politik beider Seiten
nach außen wider. Wenn es statt Widersprüchen
mehr Übereinstimmung in der Politik zwischen den
USA und der Türkei gegeben hätte, dann wären die
Verfahren von Brunson und Hakan Atilla ohne viel
Lärm gelöst worden. Doch wenn sich Widersprüche
vertiefen, können selbst die kleinsten Probleme
zu großen Krisen werden.
Der Kapitalismus
steckt in einer Krise. Weder die USA noch die
Türkei befinden sich außerhalb dieser Krise. Wenn
in diese Krise eingegriffen werden soll, dann
muss zuerst das Weltsystem überdacht werden.
Veränderungen im Weltsystem betreffen jedoch auch
die verschiedenen Teile ihres Systems. Das
passiert nun. Insbesondere nach dem Niedergang
der Sowjetunion hat sich dies verstärkt. Was für
eine Form wird die kapitalistische Moderne
annehmen, wie wird sie ihre Existenz fortführen?
Die aktuellen Ereignisse sind ein Teil der
Antworten auf diese Fragen.
Was für
eine Form möchte die kapitalistische Moderne mit
dieser Krise den Nationalstaaten, insbesondere im
Mittleren Osten, aufdrücken?
Zuallererst hat
jeder mit jedem Probleme. Dies zeigt sich durch
Konfrontationen, auch wenn es für gewisse Zeiten
Bündnisse gibt. Das typische Beispiel dafür ist
Europa. Beispielsweise gibt es seit Anfang an ein
scheinbar sehr starkes Bündnis zwischen Europa
und den USA. Es scheint so, als ob alle
Interessen dieselben wären. Doch bei näherer
Betrachtung werden interne Probleme deutlich. Es
gibt Probleme zwischen England und den USA,
zwischen England und der EU, zwischen Frankreich
und Deutschland und diesen beiden mit den USA. Es
gibt auch Probleme zwischen den Kräften, die die
kapitalistische Moderne auf zentraler Ebene
vertreten, und den Nationalstaaten. Es ist
beispielsweise ein ernsthaftes Problem, wie weit
die Nationalstaaten, die die Basis des
Weltsystems bilden, für die vom Kapitalismus
aufgezwungenen Veränderungen offen sind. Parallel
dazu hat jeder das Problem, in dieser Zeit der
unumgänglichen Transformation seine eigenen
Interessen in den Prozess einzubringen und im
neuen System repräsentiert zu sein. Wenn man all
dies zusammenbringt, dann wird klar, wie
schwerwiegend das Problem ist.
Was für
eine Beziehungsdialektik hat die kapitalistische
Moderne mit der Türkei?
In dieser
genannten Welt hat die Türkei eine bedeutende
Rolle. In der Vergangenheit hat sie als
asiatischer und mittelöstlicher Staat eine Rolle
mit ihrer Form als Nationalstaat übernommen.
Später verfügte sie über eine von der
kapitalistischen Moderne aufgetragene Mission.
Diese Mission ist wichtig. Sie akzeptierte die
Verwestlichung und lehnte dafür ihre eigene
Kultur ab. Die Türkei ist ein Land, das den
Kapitalismus vertritt und die Rolle seiner
Gendarmerie übernimmt. Sie hatte eine wichtige
Rolle als der Kapitalismus in den Mittleren Osten
eindrang und sich die Nationalstaaten im
Mittleren Osten formten. Sie hatte auch eine
Schlüsselrolle beim Einstieg der westlichen
Kultur in den Mittleren Osten gegen den
Sozialismus der Sowjetunion. Deshalb gibt es mit
der kapitalistischen Moderne ein historisches
Beziehungsnetzwerk. Doch nun sieht das Weltsystem
den Nationalstaat als Hindernis für die
Globalisierung des Kapitals. Und das ist der
Hauptwiderspruch zwischen beiden. Weil sich die
Türkei der Veränderung widersetzt, kommt es zur
Konfrontation mit dem Weltsystem.
Im Grunde ist
die Intervention des Weltsystems im Mittleren
Osten und damit auch in der Türkei nichts Neues.
In diesem Sinne kann man nicht von einer neuen
US-Intervention in der Türkei sprechen. Die
Intervention der USA und Europas im Mittleren
Osten hat mit dem internationalen Komplott gegen
unseren Vorsitzenden Öcalan begonnen. Alle
gesellschaftlichen Strukturen im Mittleren Osten
waren damals das Ziel. All Kräfte, seien es
Staaten oder Organisationen, die über eine
soziale, politische und organisatorische
Identität verfügten, waren direktes Ziel dieses
Eingriffs.
Wie sah
diese Intervention aus?
Mit der
Entführung des Vorsitzenden sollten die
Erfahrungen und die gesellschaftliche Basis der
PKK dazu genutzt werden, den kurdischen
Nationalismus zu instrumentalisieren. Natürlich
gab es sehr spezifische Interventionen. Es gab
zum einen die direkte militärische Intervention
gegen Saddam. Gegen die PKK gab es ein
internationales Komplott und die arabischen
Länder wurden mit wirtschaftlichen und sozialen
Mitteln angegriffen.
Die Loslösung
der AKP von der Tradition Erbakans war eine
Intervention in die Türkei. Eine Gruppe, die von
Erbakans Tradition losgelöst wurde, wurde an die
Regierung gebracht und in eine politische Partei
der Türkei transformiert. Diese politische Partei
erreichte innerhalb kürzester Zeit einen
ernsthaften Einfluss. Das war ein Projekt der
internationalen Intervention. Der Aufstieg der
AKP und Erdoğans hat sich also nicht von selbst
ergeben.
Warum
hat die kapitalistische Moderne eine solche
Intervention durchgeführt?
Das Ziel hierbei
war glasklar. Es gab kein sehr tiefgreifendes
Veränderungsprojekt des Weltsystems. Man wollte
den Nationalstaat etwas flexibler gestalten, im
wirtschaftlichen Sinne liberalisieren und der
Ausbeutung der Monopole den Weg ebnen. Im
politischen Sinne wollte man die Nationalstaaten
liberalisieren und eine Atmosphäre schaffen, in
der die Gesellschaften etwas Luft schnappen
können. Damit sollten angesichts der sich
vertiefenden Systemkrise unvorhergesehene Folgen
verhindert sowie die Krise abgemildert und
kontrolliert werden. Weil die Türkei zweifellos
ein Teil dieses Systems ist, hat sie ihren Teil
davon abbekommen.
In der Türkei
wurden Kurden, Islamisten und Sozialisten in der
Vergangenheit vom Kemalismus außerhalb des
Systems gehalten und hatten ein Problem damit,
sich selbst zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere
der Widerstand, der sich um die kurdische Frage
drehte, setzte den Staat ernsthaft unter Druck.
Die konservativ-islamistischen Tendenzen in der
Gesellschaft fanden die Möglichkeit, sich durch
den vom kurdischen Widerstand geschaffenen Rahmen
zu organisieren. Auch die linken und
sozialistischen Bewegungen entwickelten sich. Die
Völker und sozialen Kreise in der Türkei hatten
mit ihrem Streben nach Gleichheit und Freiheit
revolutionäres Potential. Die strukturelle Krise
des kapitalistischen Systems förderte solche
Organisierungen und die Forderung nach
revolutionären Umbrüchen. Genau an diesem Punkt
intervenierte das Weltsystem Anfang der 2000er
Jahre mit der Gründung und Institutionalisierung
der AKP in der Türkei. Das Ziel war es, mithilfe
der AKP dieses Potential zu ersticken.
Was
möchten die USA von der Türkei? Was ist
Gegenstand der Verhandlungen?
Die
gegenseitigen Forderungen der Türkei und USA
bringen unüberbrückbare Widersprüche hervor. Wenn
die USA die Forderungen der Türkei akzeptiert,
dann kehrt sie von ihrer eigenen
Mittelost-Politik ab, denn die Türkei möchte von
den USA die Bewahrung des Status quo im Mittleren
Osten und die Vernichtung der kurdischen
Freiheitsbewegung. Das bedeutet folgendes: der
Iran wird nicht angetastet, Syrien wird in seinen
alten Zustand zurückversetzt und die Kurden, die
in der Veränderung im Mittleren Osten viele Opfer
bringen mussten, werden liquidiert. Wenn die USA
das akzeptieren, machen sie sich zu einem
schlichten Werkzeug der Türkei. Doch die USA sind
eine hegemoniale Kraft, die in der Region
interveniert. Sie fordern, dass die Türkei sich
ihrer eigenen Politik anpasst. Das bedeutet
folgendes: Eine Politik, die sich bei den Themen
Iran, Russland und Syrien parallel zur US-Politik
verhält.
Die Krise hat
außerdem noch folgenden Aspekt: Die Türkei hat
mit Russland und dem Iran eine Beziehung gegen
die USA und den Westen gepflegt und dies als
Druckmittel genutzt. Da diese Beziehung, die
zwecks Druckausübung eingegangen wurde, anfangs
keine positiven Ergebnisse mit sich brachte, hat
die Türkei diese Beziehungen noch vertieft. Am
Ende ist sie an einem Punkt angelangt, wo eine
Rückkehr mit hohen Kosten verbunden ist. Deshalb
kann sich die Türkei an diesem Punkt nicht mehr
so leicht von den Beziehungen zu Russland und dem
Iran zurückziehen, aber auch keine leichte und
sichere Partnerschaft mit den USA und der EU
aufbauen. Die Türkei ist verwundet und verliert
jeden Tag Blut. Es ist weder im Interesse der USA
noch Russlands und des Iran, die Wunden der
Türkei zu verbinden. Die Türkei verfügt auch
nicht über eine Mentalität und Politik, dies
selbst zu tun.
Betrachten die Parteien in der Türkei
antiimperialistische Losungen als Ausweg aus der
Krise?
In der Türkei
wird zum einen eine nach innen gerichtete Politik
und zum anderen eine nach außen gerichtete
Politik verfolgt. Auch wenn man nur die nach
außen gerichtete Politik der Türkei betrachtet,
wäre es naiv, diese als antiimperialistisch zu
bezeichnen. Man muss nur einmal den Aufstieg
Erdoğans und die Gründung seiner Partei
hinterfragen. Aus welcher Tradition geht sie
hervor? Wenn man sich den Verrat an dieser
Tradition und die damit einhergehenden
Beziehungen vor Augen führt, wird deutlich, dass
die derzeitige politische Linie unmöglich
antiimperialistisch sein kann. Zudem kann sie
auch nicht demokratisch sein. Weder ihre
Integration ins kapitalistische System noch ihre
Linie des politischen Islam erlauben es, dass
eine demokratische Politik verfolgt wird. Es war
der Imperialismus selbst, der diese Linie zu
einer Partei werden ließ und diese an die Macht
brachte. Es ist also unmöglich, dass diese Partei
eine antiimperialistische Politik verfolgt.
Seit wann will
sie denn bitte antiimperialistisch sein? Warum
war sie nicht bis 2010, 2011 oder 2012
antiimperialistisch? Damals war sie sehr wohl
gewillt, gute Beziehungen mit den USA zu
unterhalten. Sie ließ sich von den USA beschützen
und unterstützen. Sie lebte von ihrer Hilfe und
schöpfte Kraft aus ihr. Wann immer es zu
Widersprüchen kommt, wird versucht, eine Stimmung
in der Gesellschaft zu schaffen, indem
religiös-nationalistische Argumente in den
Vordergrund gestellt werden. Damit wird versucht,
sich die Unterstützung der Gesellschaft zu
sichern und eine Haltung gegen die politischen
Widersacher einzunehmen. Das bedeutet jedoch
nicht, dass die AKP/MHP-Regierung
antiimperialistisch ist. Der religiöse Fanatismus
und der Nationalismus sind doch Werkzeuge des
Imperialismus. Diejenigen, die sich
religiös-nationalistischer Argumente bedienen,
können niemals Antiimperialisten sein. Der
Nationalismus selbst ist doch eines der
Argumente, auf das sich der Imperialismus stützt.
Während die
Türkei starke Widersprüche mit Europa und den USA
austrägt und sich als antiimperialistisch
darstellt, versucht sie mit genau diesen
imperialistischen Mächten strategische
Beziehungen aufzubauen. Man spricht dann von
Eurasien. Die Mächte, die Eurasien auf die
Tagesordnung gesetzt haben, unterscheiden sich
nicht großartig von Europa. Aus Sicht des
globalen kapitalistischen Systems kommt ihnen
keine sehr andere Bedeutung zu. Wenn die USA
imperialistisch sind, sind wohl auch Russland und
China nicht sozialistisch. Die Türkei unterhält
Beziehungen zu weiteren Ländern, die eine ähnlich
ausbeuterische Politik verfolgen. Der Großteil
von ihnen sind keine demokratischen Länder. Es
geht ihnen also nicht darum, eine
gleichberechtigte, freiheitliche und
demokratische Ordnung gegen den Imperialismus zu
vertreten. Vielmehr handelt es sich bei den
aktuellen Konflikten um innere Widersprüche des
weltweiten imperialistischen und kapitalistischen
Systems. Die derzeitige Situation in der Türkei
ist ein Ausdruck dieser innersystemischen
Widersprüche. Sich gegen das
kapitalistisch-imperialistische System zu
stellen, würde zuerst einmal bedeuten, dass man
selbst eine demokratische, gleichberechtigte und
freiheitliche Politik verfolgt.
Die Türkei ist
nicht gegen den Imperialismus. Sie bezieht
vielmehr Partei im Rahmen der inneren
Widersprüche des imperialistischen Systems. Aber
sie befindet sich in einer Position, in der sie
ständig zwischen zwei Mächten hin- und
herwechselt. Zum einen wären da die USA und
Europa, von denen die Türkei seit ihrer Gründung
abhängig ist. Zum anderen gibt es relativ neue
Beziehungen zu einer Reihe anderer Mächte. Die
Türkei versucht nun also weiter zu existieren,
indem sie die Widersprüche zwischen diesen beiden
Seiten ausnutzt.
Wenn wir die
Realität der Türkei richtig betrachten, wird
deutlich, dass es für die Türkei sehr schwer ist,
sich von Europa oder den USA loszusagen. Ihre
Abhängigkeit von diesen beiden Mächten hat
Tradition. Die Türkei steht vor einem doppelten
Problem: Es ist zum einen sehr schwer, die
Beziehungen zu den Mächten fortzusetzen, die sie
als Druckmittel gegen die EU und die USA
einsetzt. Genauso schwer aber ist es für sie, ein
Teil der EU-US-Gemeinschaft zu werden.
In Syrien nahm
sie sich zuerst vor, sich die Unterstützung der
NATO zu sichern und die Widersprüche mit Russland
zu vertiefen. Als die NATO sich darauf nicht
einließ, versuchte sie plötzlich ein Bündnis mit
Russland einzugehen und dadurch die NATO unter
Druck zu setzen. Auch das funktionierte nicht.
Die Türkei versucht die eigene Öffentlichkeit zu
beruhigen, indem sie den Eindruck einer Einigung
erzeugt. Doch die zugrundeliegenden ungelösten
Widersprüche zeigen ihre Wirkung in der Türkei
und bringen die türkisch-amerikanischen
Beziehungen so weit, dass ein beiderseitiger
Bruch droht.
Die Krise
zwischen der Türkei und den USA ist sehr ernst.
Es handelt sich nicht um eine alltägliche Krise.
Sie steht im Zusammenhang mit der Krise des
globalen Systems und des Mittleren Ostens. In
dieser Situation hat die Türkei die Wahl:
Entweder wird sie, wie in der Vergangenheit auch,
zu einem vertrauenswürdigen Teil des sich
entwickelnden neuen globalen Systems oder sie
wird sich mit sehr ernstzunehmenden Krisen
konfrontiert sehen. Genau diese Situation erleben
wir gerade. Wenn wir also die Krise um den
amerikanischen Pastor genau betrachten, erkennen
wir, dass die Dimension dieser Krise weit über
die öffentlichen Verlautbarungen hinausgeht. In
der Türkei wird derzeit in einem bisher
beispiellosen Ausmaß interveniert. Es gibt eine
sehr ernsthafte wirtschaftliche Intervention,
doch dabei allein bleibt es nicht. Die derzeitige
Intervention ist viel umfassender. Auch in der
Vergangenheit kam es immer wieder zu Eingriffen
in die türkische Politik. Doch sie entwickelten
sich nie zu einer derartig eindeutigen Haltung.
Das wirtschaftliche Embargo gegen die Türkei und
der Wertverlust der Lira gegenüber dem Dollar
haben mit dieser Intervention zu tun. Obwohl
ständig Geld auf den Markt gepumpt wird, lässt
sich die Krise nicht eindämmen. Immer wieder
werden neue Sanktionen im Handel oder Zoll
erlassen. Angeblich stehen diese Sanktionen im
Zusammenhang mit der Frage nach der Freilassung
des Pastors. Der gesunde Menschenverstand sagt
uns jedoch, dass kein Pastor auf der Welt so viel
Wert ist. Er wird zurzeit als Vorwand in den
türkisch-amerikanischen Beziehungen genutzt. Doch
das eigentliche Problem ist viel tiefgreifender.
Was ist
das Problem?
Das Problem ist
der Versuch, der Türkei einen Platz im neuen
globalen System zuzuweisen, und die Gegenwehr der
Türkei.
Wie
sieht diese Gegenwehr der Türkei aus?
Es besteht ein
Konflikt zwischen den Interessen der Türkei und
dem globalen System, das die Imperialisten
errichten wollen. Die Türkei verfolgt das Ziel,
wie in der Vergangenheit auf Grundlage des
nationalstaatlichen Systems die eigene Sicherheit
zu gewährleisten. Sie versucht ihr System
aufrecht zu erhalten und das trotz des
bestehenden Demokratieproblems, des
Kurdenproblems und der Probleme mit ethnischen
Gruppen und religiösen Fragen.
Die AKP verlangt
vom System, dass sie und dementsprechend der
gesamte Mittlere Osten von den Veränderungen
ausgeklammert werden. Damit einhergehend möchte
sie zu einer hegemonialen Macht im Mittleren
Osten werden. Das ist der Ansatz, den sie
propagiert. Aber die kapitalistische Moderne hat
kein derartiges Projekt für den Mittleren Osten.
Eine Welt oder ein Mittlerer Osten, in denen
derartige Wünsche eines einzelnen Landes
berücksichtigt werden, existieren sowieso nicht.
Das ist der grundlegende Antrieb für die
derzeitige Krise. Deshalb werden der Türkei
Veränderungen aufgezwungen. Doch die Türkei
spielt bei diesen Veränderungen nicht mit. Das
haben wir in Syrien und der früheren Praxis der
Türkei gesehen. An diesem Punkt kamen die
Widersprüche sehr deutlich zum Vorschein. Die
Türkei ist zu einer vollständig faschistischen
Macht geworden. Sie hat die Kurdenfeindlichkeit
zu einem Grundprinzip ihrer Politik gemacht.
Wie kann
die Türkei in ihrer derzeitigen Lage von
kurzfristigen Krisen profitieren? Wie weit kann
sie damit kommen?
Die Wurzeln der
Krise liegen tief. Doch die vorherrschende
Mentalität in der Türkei ermöglicht es nicht, die
Krise angemessen zu erfassen und sich auf die
Suche nach einer Lösung zu machen. Statt
wirklicher Lösungen erhofft sie sich, von der
globalen Krise und der Krise im Mittleren Osten
zehren zu können. Daher versucht sie, von der
alltäglichen, kurzfristigen Politik zu
profitieren. Die Alltagspolitik ist also für die
Türkei sehr wichtig. Dadurch hat sie zahlreiche
Niederlagen und Katastrophen erlebt. Efrîn ist
ein Beispiel dafür, aber auch die Phase davor
bietet zahlreiche Beispiele. Die Mittelostpolitik
der Türkei ist bankrott.
Die Türkei
verhält sich nicht entsprechend ihres
Entstehungs- und Existenzzwecks. Sie manövriert
eher entsprechend der Folgen der Krise und
alltäglicher Ereignisse. Wenn die alltäglichen
Entwicklungen es zulassen, versucht die Türkei in
die Offensive zu gehen und daraus Profit zu
schlagen. Ihre Offensiven zielen nicht auf eine
Lösung der Krise ab. Sie vertiefen die Krise
eher. Ein Schritt, der heute als Erfolg
erscheint, bringt die Türkei schon morgen in eine
neue Zwangslage. In eine derartige Situation hat
sich die Türkei in der globalen und regionalen
Politik manövriert. Innenpolitisch etabliert sie
mithilfe verschiedenster Argumente eine
Hegemonie. Auf der einen Seite setzt sie Druck,
Zwang und Gewalt ein, um eine militärische
Hegemonie zu etablieren. Auf der anderen Seite
erzeugt sie durch eine nationalistisch-religiöse
Stimmung eine Welle des Chauvinismus in der
Gesellschaft. Während sie außenpolitisch vor
einem Bankrott steht, versucht sie den
Zusammenbruch der eigenen Macht zu verhindern,
indem sie die Ereignisse zu einer Frage des ‘Sein
oder nicht sein’ macht. Damit schafft sie eine
Stimmung in der Bevölkerung, auf deren Basis sie
sich an der Macht hält.
Es wäre falsch,
diese erzeugte Stimmung nur als eine Politik der
AKP und Erdoğans zu verstehen. Es handelt sich
vielmehr um eine Staatspolitik der Türkei. Es ist
die Haltung eines Staatssystems, das Erdoğan und
die AKP übertrifft. Bis 2010 mag diese Haltung
noch umstritten gewesen sein. Aber bei den
Entwicklungen ab dem Jahr 2011, 2012 handelt es
sich um eine Staatspolitik.
Editorische Hinweise
Das Interview mit Rıza Altun
wurde bei ANFNEWS am
20.8.2018 veröffentlicht.
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