Die Türkei auf imperialem Kurs
Die Umwandlung der Hagia Sofia in eine Moschee besiegelt in Istanbul das unwiderrufliche Ende der kemalistischen Republik.

von Amalia van Gent

08/2020

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«Allah u ekber», Allah ist gross! Die Muezzins riefen am 24. Juli von den vier Minaretten der Hagia Sofia mit melodischer Stimme die muslimische Gemeinschaft zum Freitagsgebet auf. Ihr Ruf war diesmal so laut, dass er das Gebet der Ausrufer aller umliegenden Moscheen deutlich übertönte. Bis zu 350'000 Menschen waren laut offiziellen Angaben an diesem Freitagmittag aus allen Ecken des Landes ins historische Viertel Sultan-Ahmet in Istanbul geströmt. Nun sah man sie auf TV-Bildschirmen, wie sie in langen, engen Reihen auf Strassen und Plätzen, in Parkanlagen und auf Trottoirs niederknieten und inbrünstig beteten.

«Heute ist ein Tag, an dem die Gläubigen aus Freude überwältigt sich dankbar zu Boden werfen», bekundete Ali Erbas, der Präsident der Behörde für religiöse Angelegenheiten (Diyanet). In einer betont emotionalen Rede bedankte er sich bei Mehmet dem Eroberer dafür, dass dieser 1453 Istanbul vom byzantinischen Kaiser befreit und die Hagia Sofia, damals noch eine christliche Kathedrale, in eine Moschee umfunktioniert hatte. Die jetzige Rückumwandlung der Hagia Sofia von einem Museum in eine Moschee verheisse die Hoffnung der muslimischen Welt auf eine «Befreiung der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem», führte er hinzu. Seine Rede wurde auf grosse Bildschirme übertragen und bewegte augenscheinlich die Gläubigen, die oft in der roten türkischen Flagge eingehüllt, in Tränen ausbrachen. Ali Erbas, der die höchste religiöse Instanz seines Landes verkörpert, erschien in feierlicher, kaiserlicher Kleidung mit einem grossen osmanischen Schwert in seiner linken Hand und sprach viel von «Eroberung» und «Befreiung». An diesem Freitagmittag mutete auch deshalb so vieles sehr befremdlich an im Altstadtviertel Istanbuls, als hätte sich die Linie zwischen Fiktion und Wirklichkeit in Luft aufgelöst. Was genau geschah also in diesem Land am östlichen Rande Europas?

Ende der kemalistischen Republik

Beobachter im In- und Ausland sind sich darin einig, dass die Umwandlung der Hagia Sofia vom Museum in eine Moschee nichts weniger symbolisiere, als das unwiderrufliche Ende der kemalistischen Republik, wie wir sie bislang kannten. Die Republik Türkei war am 24. Juli 1923 mit der Unterzeichnung des sogenannten Lausanner Vertrags ins Leben gerufen worden. Unumstrittene Führerfigur dieser Republik war Mustafa Kemal, oder Atatürk, der Vater der Türken (Atatürk). Für Jahrzehnte war er das unantastbare Idol seiner Nation. Denn diesem Offizier aus Saloniki (heute in Griechenland) war nach einer langen Serie bitterer Niederlagen der Osmanen auf dem Kaukasus, 1916 erstmals ein Sieg gelungen. Er setzte dem Osmanischen Weltreichs auf dem Balkan und dem arabischen Teil ein Ende und drängte die damaligen Besatzungsarmeen der Briten, Franzosen, Italiener und Griechen zurück, die danach trachteten, den Leichnam des geschlagenen Weltreichs unter sich aufzuteilen. Er handelte den Lausanner Vertrag aus, in dem die Grenzen der heutigen Türkei anerkannt wurden. Das «Selbstverständnis der Kemalisten war, dass ihre Republik, wenn auch um ein vielfaches kleiner als das Osmanische Weltreich, Anschluss an die moderne Welt gefunden hatte», kommentierte der türkische Intellektuelle Soner Cagaptay im Magazin des «Fletcher Forum of World Affairs».

Der Grund, der Kemalisten stolz machte, gab Gläubigen der Türkei aber Anlass zum Hass: Wie der Führung der jungen benachbarten Sowjetunion schwebte damals auch Atatürk die Vision vor, einen «neuen» Menschen in einer klassenlosen, homogenen, wenig religiösen Nation zu schaffen. Er verabscheute die Religion im Allgemeinen und führte die Rückständigkeit und den Verfall des Osmanischen Reichs hauptsächlich auf den Islam, den Glauben der Bevölkerungsmehrheit zurück. Am 3. März 1924 schaffte Kemal Atatürk die höchsten Institutionen der islamischen Welt, das Kalifat und das Amt des obersten islamischen Rechtssprechers, des Sheikh-ul-islam, ab. Beide Institutionen hatten bis dahin in der islamischen Welt die Autorität, die der Vatikan und der Papst in der katholischen Welt ausüben. Ihre plötzliche Liquidierung erschütterte wie ein Erdbeben die Welt der Muslime von Nordafrika bis Sumatra und liess sie kopf- und führungslos zurück. Kemal Atatürk kümmerte sich wenig um die Folgen seiner Massnahmen für den Orient. Denn Europa, und allgemein der Westen, war für ihn der Inbegriff der Zivilisation und allein dorthin wollte er auch seine Republik steuern. In diesem Rahmen liess Atatürk im Jahr 1934 die Hagia Sofia in ein «Museum für alle Kulturen» umwandeln. Acht Jahrzehnte lang hielt sich die Nation strikt an Atatürks Prinzipien, mal aus freien Willen und dann wieder dank der massiven Intervention der türkischen Armee. Genau solange konnten westliche Institutionen wie beispielsweise die NATO auf die Türkei als treuen, glaubwürdigen Alliierten im unruhigen Gebiet des Nahen Ostens oder als Frontstaat zur Sowjetunion, beziehungsweise Russland, zählen.

Anstelle Atatürks

Seit seinem ersten Wahlsieg 2002 träumte hingegen Recep Tayyip Erdogan nur davon, den alten Atatürk von seinem hohen Sockel zu stürzen und zum 100. Jahrestag der Republik zu einem neuen, von seiner Nation und der internationalen Gemeinschaft respektierten, neuen «Atatürk» zu werden. Das ist ihm nicht gelungen. Zwar hat die Türkei spätestens nach dem Präsidentschaftsreferendum im Jahr 2017 eine grosse innen- und aussenpolitische Wende vollzogen. Erdogan wurde dank dem Referendum zum stärksten Mann seines Landes, er ist heute «nicht nur Staatsoberhaupt der Republik, sondern auch ihr Regierungschef, Vorsitzender der regierenden AKP-Partei und zudem Chef der türkischen Polizei, der mächtigen Nachrichtendienste und der türkischen Streitkräfte», so Soner Cagaptay. Die Folgen solcher Machtkonzentration seien in erster Linie in Erdogans «revolutionärer Aussenpolitik» abzulesen. Die Türkei habe nach Ausbruch des arabischen Frühlings massiv in Syrien interveniert, sei in den Nordirak mit Tausenden Soldaten einmarschiert und führe sich auch in Libyen als Protagonist eines Stellvertreterkriegs auf – womit Ankara unmissverständlich Abschied vom kemalistischen Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Nachbarländer genommen habe. Seither kümmert sich die Regierung Erdogan um die Belange oder die Wünsche des Westens demonstrativ nicht. «Erdogans Aussenpolitik wurde osmanischer und sein Regierungsstil immer mehr «Sultanesque», so Soner Cagaptay. Davon zeugt in der Tat nicht nur der Palast der 1'100 Zimmer, aus dem heute ausschliesslich die Macht in der Türkei ausgeübt wird, sondern eben auch die Umwandlung der Hagia Sofia in eine Moschee. Ist Erdogan nur nervig, wie das deutsche Politmagazin «Spiegel» schrieb?

Warnungen vor einem türkischen Expansionismus

Yavuz Baydar, Gründer und Hauptredakteur des oppositionellen Internet-Portals Ahval, warnte unlängst vor dem «Gespenst des türkischen Expansionismus». In Anatolien sei «ein militaristisches Regime» an der Macht, fest entschlossen, die im Lausanner Vertrag anerkannten Grenzen zu Lasten seiner Nachbarländer mit «brutaler Gewalt» auszudehnen. Ihr Plan stütze sich auf einem vor der Zeit der Republikgründung stammenden, sogenannten «National-Pakt» (Misak-i Milli) und sehe vor, Territorien wie beispielsweise die irakische Provinz Kirkuk und Teile von Nordsyrien in die Türkei einzuverleiben. «Was dieses Regime aber wirklich umtreibt, ist der Wunsch nach dem Besitz der Energiequellen vor Zypern und Griechenland, die sogenannte Doktrin der «Blauen Heimat».

Laut Yavuz Baydar kann dieser Plan von Erdogan und seinen rechtsnationalistischen Alliierten minutiös umgesetzt werden, weil die Weltgemeinschaft der türkischen Aggression einfach tatenlos zusehe. Der ehemalige Ombudsmann der türkischen Presse klagt das «alte Europa» an, eine sinnlose Besänftigungspolitik gegenüber Ankara zu betreiben und vergleicht sie mit der Besänftigungspolitik der 1930er Jahre gegenüber Nazi-Deutschland. Aus Angst, die Türkei könnte ihre Tore für Abertausende von Flüchtlingen in die EU öffnen, nehme die EU jahrelang schweigend hin, dass «Erdogan und sein Hof den Rechtsstaat aushöhlen, Abertausende von Bürgern willkürlich hinter Gitter stecken und zahllose Existenzen im kurdischen Südosten zugrunde richten». Über Tausend Tage ist der Geschäftsmann und Mäzen Osman Kavala inzwischen inhaftiert, ohne Anklageschrift. Er hatte sich ab Mitte der 1990er Jahre intensiv für einen Frieden zwischen Türken und Kurden und zwischen der Türkei und Armenien eingesetzt. Damit trat er für alles ein, was das heutige Regime Erdogans ablehnt. Kann sich Geschichte wiederholen? Wie in den 1930er Jahre Nazi-Deutschland mit der Dolchstoss-Legende die Massen habe mobilisieren können, so suchte Ali Erbas während der Umwandlung der Hagia-Sofia die Nation davon zu überzeugen, dass das Osmanische Reich in Wirklichkeit nie besiegt, sondern während der Unterzeichnung des Lausanner Vertrags, ähnlich wie bei einem Dolchstoss, vom Kemal Atatürk verraten worden sei. Folglich sei die Türkei durchaus berechtigt, zurückzuholen, was ihr rechtmässig zustünde.

Bewaffneter Konflikt mit Griechenland nur knapp verhindert

Tatsache ist, dass die türkische Armee im kurdischen Nordirak einen beinah 40 Kilometer tiefen Streifen unter ihre Kontrolle gebracht hat. Im Gegensatz zu Operationen vergangener Jahre, wird die türkische Armee dort länger bleiben. Davon zeugt zumindest, dass sie in diesem Streifen mittlerweile über 30 neue Militärstützpunkte errichtet hat. Dasselbe dürfte auch für das Nachbarland Syrien gelten. Die Türkei habe nicht vor, ihre Streitkräfte aus Syrien abzuziehen, bevor Syrien befreit werde, erklärte Erdogan vor Kurzem. Die Frage, wer in Syrien vom wem befreit werden solle, liess er offen. Vorige Woche konnte schliesslich ein bewaffneter Schlagabtausch zwischen der griechischen und türkischen Marine nur dank der Intervention der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel im letzten Moment abgewendet werden.

Es ist ein gefährliches Motiv, das sich in den letzten Monaten regelmässig wiederholt: Ankara erklärt seine Absicht, vor Zypern oder anderen griechischen Inseln bohren zu wollen und schickt Bohrschiffe und seine Marine demonstrativ in die Gewässer Griechenlands oder Zyperns. Diesmal hatten sich ein türkisches Bohrschiff, begleitet von einem Dutzend Kriegsschiffen, auf den Weg gemacht, vor der griechischen Insel Kastellorizo nach Erdöl zu suchen. Daraufhin setzte Athen seine Kriegsmarine auf höchste Alarmbereitschaft. Könnten die NATO und die EU, der Europarat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EU, die Dynamik in Ankara und die Signalkraft der Umwandlung Hagias Sofias tatsächlich so grob unterschätzt haben?

Quelle: https://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Die-Turkei-auf-imperialen-Kurs