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Zur Rentenreform
Eine neue Form der Zwangssolidarität 

von GegenStandpunkt & Lora München
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Die Regierung behauptet, mit ihrer Rentenreform jedermann eine «neue Freiheit» eröffnet zu haben: man darf jetzt einen Teil seines Geldes selber verwalten und in «Kapitalfonds» stecken. Früher war oft die Rede vom «Generationenvertrag», den jeder für eine gute Sache halten sollte. Da sorgt die arbeitende Generation mit einem Teil ihres Einkommens für ein menschenwürdiges Auskommen der Rentner und erwirbt sich dadurch das Anrecht, ihrerseits unterhalten zu werden, wenn sie einmal in den «wohlverdienten Ruhestand» eintritt. Insgesamt alles sehr harmonisch und ein schönes Beispiel für Solidarität. Bei dieser Idylle musste man freilich ausblenden, dass Alt und Jung sich nie zusammengesetzt und auf diesen Vertrag geeinigt, geschweige denn ihn unterschrieben haben. Ausblenden musste man also, dass es sich bei dieser schönen Solidarität um eine Zwangssolidarität handelt, die herzustellen der Staat für notwendig gehalten hat. Diese Notwendigkeit kann man in einer eher gehässigen Art und Weise auch so begründen wie die «Süddeutsche Zeitung»:

«Die unzureichende individuelle Rationalität verleitet die Menschen zu systematischer Minderschätzung künftiger Bedürfnisse.» (SZ, 05.06.2000)

Will man dieser Begründung folgen, so wäre die gesamte gesetzliche Altersvorsorge eine Reaktion auf menschliche Dummheit und Kurzsichtigkeit, gegen die nur vom Staat erzwungene Vorsorge hilft. Aber das kann ja wohl nicht die Wahrheit sein: Selbst dem Schreiber von der Süddeutschen Zeitung könnte nämlich auffallen, dass nach seiner Logik die «individuelle Rationalität» mit der Dicke des Geldbeutels zunimmt. Es laufen doch genügend Leute herum, denen er diese «systematische Minderschätzung künftiger Bedürfnisse» nicht vorwerfen würde. Leute nämlich, die reich genug sind, ohne Beeinträchtigung ihres aktuellen Lebensstandards Geld für ihr Alter auf die Seite zu legen.

Der Kern der Sache ist ein anderer: Der Staat weiß genau, dass die auf Lohnarbeit angewiesenen Leute aufgrund ihrer Lebens- bzw. ihrer Lohnumstände sich Altersvorsorge nicht leisten können. Auch wenn jedem Lohnarbeiter die Notwendigkeit, für sein Alter vorzusorgen, vor Augen steht, führt ihn sein aktueller Lohn ständig in den Zwang, diese Notwendigkeit hintan zu stellen, weil dieser Lohn für die aktuellen Lebensnotwendigkeiten immer zu knapp bemessen ist. Rentengesetze gehen deshalb stillschweigend von dieser materiellen Not aus und organisieren die Altersvorsorge in Form von Zwangsbeiträgen. Altersvorsorge muß im Lohn als ein Bestandteil enthalten sein, obwohl man sich diese Vorsorge davon nicht leisten kann. Der Staat zieht diesen Lohnbestandteil folglich vor seiner Auszahlung ab und bildet damit getrennt von der Arbeiterklasse eine eigene Kasse. Er erzwingt so eine «kollektive Daseinsvorsorge», weil ohne diese ein kollektives Alterselend unausweichlich wäre. Das Paradoxon des Sozialstaats heißt: Wenn ein Lohnabhängiger seine «Lebensrisiken» - neben Alter auch Krankheit und Arbeitslosigkeit - mit seinem Lohn nicht bewältigen kann, dann müssen eben alle Lohnabhängigen in staatlich verordneter Zwangssolidarität zusammenlegen. Wenn sich viele etwas leisten müssen, das sie sich nicht leisten können, dann geht es schon. Wie und in welcher Höhe diese «Lebensrisiken» abgedeckt werden - das hat dann allerdings nicht mehr der Lohnarbeiter in der Hand; da herrscht die große Freiheit, die sich ganz aus dem Ermessen des Staats ergibt. Ganz nebenbei: Mit dem, was sich der Staat aus dem Bruttolohn nimmt, definiert er gleichzeitig, was ein Nettolohn wert ist, was also dem Lohnempfänger zum Leben übrig bleibt. Er bestimmt also nicht nur, mit welcher Unterstützung ein Lohnarbeiter in der Abteilung «Lebensrisiken» rechnen - bzw. nicht rechnen kann -, sondern legt auch den Lebensstandard der arbeitenden Klasse fest.

Steigende Beiträge heißt folglich: sinkender Nettolohn, weil sich ansonsten - dies der andere Gesichtspunkt der staatlichen Sozialpolitik - Unternehmer über «steigende Lohnkosten» beschweren. Zwar sorgen die Unternehmer mit ihren knapp kalkulierten Löhnen und scharf durchorganisierten Fabriken dafür, dass das ganze System der Zwangssolidarität überhaupt notwendig ist. Aber wenn dann wegen dieser Löhne und Arbeitsbedingungen die «Lebensrisiken» der Lohnarbeiter und damit ihre Beiträge für das System der Zwangssolidarität steigen, dann wollen sie nicht mitbetroffen sein. Dass ein Anstieg der Beiträge auf gestiegene Existenznöte von Arbeitnehmern verweist, geht Arbeitgeber in deren Sichtweise nichts an. Für sie buchstabieren sich steigende Lohnnebenkosten ausschließlich als «schlechtere Ausgangsbedingungen in einem globalisierten Weltmarkt» - und das darf keinesfalls sein.

Diese Sichtweise hat nun vom Staat recht bekommen: Bei der Rente ist zukünftig endgültig Schluss mit dem Anstieg dieser «Nebenkosten». Die Zwangssolidarität ist grundsätzlich neu zu organisieren:

  • Das Rentenniveau wird von bisher 70 auf 64 % bis zum Jahr 2030 gesenkt.

  • Die Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente werden im Leistungsumfang gekürzt.

  • Die Lebensaltersgrenze der Rente für Schwerbehinderte wird auf das 63. Lebensjahr (bisher 60) angehoben.

  • Die vorgezogene Altersrente für Frauen sowie für Arbeitslose wird abgeschafft.

Wenn eine abnehmende aktive Bevölkerung für eine zunehmende Anzahl von Alten aufzukommen hat, wenn gleichzeitig den Unternehmern von Staats wegen «Belastungen» erspart werden müssen, dann müssen die Arbeitnehmer eben zusehen, auf welche neue Weise sie mit diesen «Belastungen» fertig werden. Das wird dann «private Altersvorsorge» genannt. Dabei setzt der Staat plötzlich auf die Freiwilligkeit der Leute - sie dürfen ihren Nettolohn selbst schmälern, indem sie privat Vorsorge leisten. Und damit da nichts anbrennt, hilft er dieser Freiwilligkeit sogleich mit einem ebenso schlichten wie durchschlagenden Mittel auf die Sprünge. Schritt für Schritt und über einen langen Zeitraum hinweg werden die Renten gesenkt. Je jünger einer heute ist, desto klarer ist die Botschaft: Es wird immer unmöglicher, im Alter von der gesetzlichen Rente zu leben. Das die knochentrockene Ankündigung einer geplanten Altersarmut. Dagegen soll Lohnarbeitern aber ein Mittel zur Verfügung stehen. Sie sollen ein Stück ihrer Altersarmut vorwegnehmen und jetzt zusätzlichen Verzicht leisten! Schöne Alternativen, die einem dieses System bietet: Man hat die Wahl zwischen Verzicht gleich jetzt oder im Alter. Wer das nicht kapiert und sich nicht sofort für seine «private Altersversorgung» einschränkt, der ist am Ende selber schuld und muss sich die zuvor zitierte «unzureichende individuelle Rationalität» vorhalten lassen. Alle anderen, die diesen Zwang auf sich nehmen, dürfen ihr Geld bei Kapitalfonds anlegen und sich dazu beglückwünschen «befreit von staatlicher Bevormundung» zu sein.

In die Rentenkasse sind - wie es heißt - "neue Risiken" hineingekommen: Die anhaltende Arbeitslosigkeit und das längere Leben der Rentner. Zur Abdeckung dieser "Risiken" Steuergelder aufzuwenden, womöglich dafür ein wenig die Staatsschulden auszudehnen, galt von vornherein als undenkbar. Und die Unternehmer haben endgültig erstritten, dass sie mit solchen Problemen nicht mehr behelligt werden. Statt dessen werden die Renten gesetzlich gesenkt - und der aktiven Arbeitsbevölkerung wird aufgetragen, dieses vom Staat der ganzen Gesellschaft aufgeherrschte neue "Risiko" privat zu bewältigen. Dafür ist keine gemeinschaftliche Kasse mehr zuständig, sondern jeder mit seinem Nettolohn.

Die jahrzehntelang gültige Ideologie vom "Generationenvertrag" passt dazu nicht mehr so recht - ab sofort wird sie schlecht gemacht. Plötzlich wissen ganz viele Leute, Politiker und Zeitungsschreiber an der Spitze, die gestern noch den "Generationenvertrag" als große soziale Errungenschaft angepriesen haben, dass sie da eigentlich bloß lauter Nachteile angepriesen haben. Plötzlich legen sie Wert darauf, den Zwangscharakter der gesetzlichen Rentenversicherung herauszustreichen. Jung und Alt haben ja gar nicht aus freien Stücken eine gemeinschaftliche Kasse gebildet, sondern sind von Staats wegen zusammengespannt worden. Freilich ist dann nicht die Rede davon, warum der Staat in Kenntnis der jederzeit gefährdeten Arbeiterexistenz diesen Zwang für nötig hielt - der übrigens keineswegs abgeschafft ist, sondern nur um das Moment der "privaten Vorsorge" erweitert wurde. Vielmehr werden nun lauter Opfer und falsche Nutznießer erfunden, um die neuen Anforderungen moralisch zu unterfüttern. Da muss ein Arbeitsmann mit seiner Schufterei und seinen Beiträgen mittlerweile zwei und demnächst vielleicht sogar drei Rentner aushalten. Und diese Rentner leben nicht nur, sie leben sogar gut, richtig reich sind sie - es soll etliche geben, deren Rente tatsächlich nicht allzu weit unter ihrem letzten Nettolohn liegt.. Brauchen die denn so viel? Da sind die Rentner also Nutznießer und eine einzige Last. Dass sie kaum mehr zurecht kommen, wenn man ihnen die Rente kürzt, wird einem im gleichen Atemzug aber auch mitgeteilt - da sind sie dann Opfer, hilflose Manövriermasse des Systems. So reich, wie sie gerade noch waren, fehlt ihnen jetzt einfach das Geld, das irgendwie `privat' auszugleichen. Ein Widerspruch zwar, aber was macht das schon: Jetzt soll ja auf die Vorzüge des Sparens in der Jugend hingewiesen werden

Freilich sagt kaum einer einfach bloß `Sparen' dazu. Nein - wenn sich heutzutage einer selbst dazu verdonnert, Abzüge von seinem Nettolohn vorzunehmen, dann ist das nicht die Vorsorge gegen die vom Staat in Aussicht gestellte Altersarmut, sondern ein zusätzliches Stück Freiheit: Endlich kann sich der Lohnarbeiter eigenverantwortlich daran machen, ihm bislang entgangene Chancen der freien Marktwirtschaft wahrzunehmen. Das Zauberwort heißt: `kapitalgedeckte Rente'. Es will vorspiegeln: Die Rente wird - teilweise - nicht mehr aus dem Lohn bezogen, vielmehr wird man Teilhaber am nationalen oder gar internationalen Kapital und bezieht Einkommen aus dessen Wachstum. Das wird dann "Entkoppelung" genannt und meint: Der Rentner lebt nicht mehr vom Lohn der aktiven Arbeiterklasse, sondern von einem Kapitalfonds, den er zusammen mit anderen gebildet hat - er wird zum Rentier. An dieser Behauptung stimmt nichts:

Das beginnt mit dem Aufbau des neuen Kapitalfonds. Die künftigen, nennen wir sie: Fondsrentner müssen erst einmal ein paar Jahrzehnte rentable Arbeit abgeliefert haben, bevor da was zusammenkommt, angespartes Geld sich in Geldkapital verwandelt. Dann ist die erste Pflicht eines Kapitalfonds, dass er sich erhält: Er kann nicht von den Einzahlern aufgezehrt werden, ständig müssen neue Einzahlungen hinzukommen. Und wo sollen die herkommen?, Eben, weiterhin aus der Ableistung rentabler Arbeit. Diese Einzahlungen müssen auch in der Masse stimmen, die aktive Arbeiterklasse muss genug Geld für die Aufrechterhaltung des Fonds aufbringen. Ein Arbeiter muss zwei Rentner `tragen', eine einzige Last, hieß es zuvor - bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass für den Kapitalfonds exakt dasselbe gilt. Was Bildung und Erhalt des Kapitalfonds angeht, unterscheidet sich das Kapitaldeckungsverfahren überhaupt nicht vom gesetzlichen Umlageverfahren, was bei diesem Kapitalfonds auch gar nicht anders sein kann: Der wird ja nicht aus kapitalistischen Überschüssen gebildet, sondern aus Abzügen an einem eh zu knappen Lohn; es wird nicht Reichtum, sondern Armut gemanagt. Wer wirklich an diesem Fonds verdient, ist also kein Geheimnis: Die Versicherungen. Denen wird eine zusätzliche Masse Geld zugeführt, die in erster Linie der Ausweitung ihres Gewinns dient, bevor sie einen Zins herausrücken - oder sollte plötzlich alles auf dem Kopf stehen und der Versicherte sich an der Versicherung bereichern?

Die Rede von der "Entkoppelung" ist also falsch. Ein solcher Fonds kann nur existieren, weil und solange rentable Arbeit geleistet wird und Arbeiter ein Stück ihres Lohns dafür abdrücken. Das hindert die Verherrlicher des neuen Zwangs aber nicht daran, mit dieser "Entkoppelung" noch einen Schritt weiter zu gehen. Sie behaupten nämlich, mit diesem Fonds würde dem Arbeiter eine ganz neue Reichtumsquelle erschlossen, die mit der Arbeit gar nichts mehr zu tun habe. Hier bezieht der Arbeiter nicht mehr Einkommen aus einer gemeinsamen Kasse, sondern wird beteiligt an der wundersamen Macht des Geldes, sich selbst zu vermehren, ist Anteilseigner an einem Fonds, der aus sich heraus wächst. Der schlagende Ausdruck dieser Macht ist der Zins, den ein Geldkapital abwirft - und daran darf der Arbeiter, seine Abhängigkeit von der Arbeit sozusagen überwindend, nun teilhaben. Ergreife die bislang vorenthaltene Chance, mit Geld und nicht mit Arbeit für Sicherheit zu sorgen - das propagiert nicht zufällig die Bild-Zeitung, wenn sie das Volk auffordert, ein "Volk von Aktienbesitzern" zu werden. Mit dem richtigen "Risikobewusstsein", versteht sich...

Wie dumm diese Vorstellung ist, man könne die Arbeit doch auch ganz vergessen, zeigt ein Beispiel, bei dem es auf den ersten Blick genau umgekehrt scheint. Eine Firma kündigt an, ein paar hundert oder tausend Arbeiter zu entlassen, sofort steigt ihr Aktienkurs. Wie kommen die Spekulanten darauf? Weil sie - der Grundgedanke jeder Spekulation - auf den künftigen Gewinn setzen, der mit dieser Maßnahme bewirkt werden soll und den sie in der Gegenwart für sich vorwegnehmen. Die Absicht dieser Maßnahme kennen sie: Da wird nicht einfach Arbeit bloß weggestrichen, vielmehr soll durch Einsparen am Kostenfaktor Arbeit insgesamt eine Effektivierung der Arbeit eingeleitet werden, soll - Stichwort `Rationalisierung' - deren reichtumsstiftende Kraft noch mehr als zuvor in Anspruch genommen werden. Das angebliche Indiz für die Befreiung von der Arbeit ist in Wahrheit also ein Beleg dafür, wie sehr es auf rentable Arbeit ankommt. Für die Spekulanten existiert der künftige Gewinn jetzt schon mal als selbstgeschaffenes Spekulationsmaterial, nämlich in Form der von ihnen wertgesteigerten Aktien. Mit diesem Spekulationsmaterial betreiben sie ihre bekannten Börsengeschäfte und schaffen es dabei locker, auf ihre eigene Spekulation zu spekulieren, das Geldkapital zu vervielfältigen. Jede Menge Kredit wird geschaffen und umgewälzt. Dieser Kredit ist auf der einen Seite dafür da, den Fabrikherren und Rationalisierern für ihre Rationalisierungen Kredit zu geben, also dazu beizutragen, dass sie tatsächlich gelingen. Auf der anderen Seite wickeln die Herren des Kredits ganz getrennt von der manchmal so genannten "Realwirtschaft" lauter Geschäfte unter sich ab, die tatsächlich so aussehen, als würden sie sich wechselseitig ihr Geldkapital vermehren, aus Geld mehr Geld machen. In Wirklichkeit konkurrieren sie dabei um die Verteilung des von ihnen spekulativ schon vorweggenommenen Gewinns, sind also darauf angewiesen, dass dieser Gewinn auch wirklich eintritt, dass ihr Spekulationsmaterial sozusagen von dem Geschäft, um das herum es sich rankt, in der Zukunft abgedeckt wird.

Darum ist die Sache mit der "Entkoppelung" schließlich ein echter Witz. In der `Mehrwertproduktion', wie der alte Marx das nannte, wird geldwerter Reichtum aus der Arbeit herausgezogen. Der Mehrwert gehört dem Unternehmer und er sieht zu, dass er ihn für sich steigert. Wenn Arbeiter Anteilseigner an einem Kapitalfonds werden, soll man denken, sie würden damit - getrennt von ihrer Arbeit - auch Anteilseigner am kapitalistischen Reichtum, am Mehrwert eben. Der eine Kapitalismus macht sie arm, der andere gleicht's, zumindest teilweise, aus - einfach genial.