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Geschichte im Überblick
Zwangsarbeit im Nationalsozialismus 
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„Zu jener Zeit war Berlin mit Holzbaracken nur so überzogen. In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, teerpappegedeckter Fichtenholzquader eingenistet. Groß-Berlin bildet ein einziges Lager, ein meilenweites Lager, das sich zwischen den festen Bauten, den Denkmälern, den Bürohäusern, den Bahnhöfen, den Fabriken hinkrümelt.“(1)

Nie lebten und arbeiteten so viele Fremde in Deutschland wie in den letzten beiden Kriegsjahren: Über acht Millionen ausländische Zivilarbeitskräfte, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene aus 20 europäischen Ländern lebten im Sommer 1944 in über 30000 Lagern im Reich. Die meisten ZwangsarbeiterInnen kamen aus militärisch besetzten oder in Abhängigkeit gehaltenen Ländern. Über ein Drittel von ihnen waren Frauen und Mädchen. 85 % der Frauen, die manchmal auch Kinder mitbrachten oder im Lager gebaren, kamen aus der Sowjetunion und Polen (2). Viele der Verschleppten waren Jugendliche – nicht nur bei Daimler-Benz arbeiteten sogar Neunjährige (3)

Berlin war nicht nur die Hauptstadt des Dritten Reichs, sondern auch seine wichtigste Rüstungsschmiede. Jeder zehnte Flugzeugmotor, jeder vierte Panzer und fast die Hälfte aller Geschütze wurden 1943 in Berlin hergestellt, nicht zuletzt durch die fast 400000 zwangsverpflichteten JüdInnen, zwangsverschleppten ZivilarbeiterInnen, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge. Im August 1944 stellten 381147 AusländerInnen rund 28 % der Beschäftigten. Sie lebten in fast 1000 quer über die Stadt verteilten Lagern, von denen viele vom Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt, der Behörde Albert Speers, betrieben wurden.

Neben die seit dem Kaiserreich übliche Arbeitsmigration vor allem aus Polen und Italien nach Deutschland traten schon 1938 Zwangsverpflichtungen von Tschechen; 1939 rückten Kommissionen des Arbeitsamtes gemeinsam mit der Wehrmacht in Polen ein, um Arbeitskräfte für die Landwirtschaft auszuheben. Ferner wurden die JüdInnen zur Zwangsarbeit gezwungen. 

Die große Wende brachte aber das Jahr 1942, als das Deutsche Reich nach dem Scheitern der „Blitzkrieg“-Strategie auf den „totalen“ Abnutzungskrieg umstellte. Er war angesichts der Einberufung fast aller deutschen Männer (und der Judendeportation) nur mit der massenhaften Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte durchzuführen. Sie stellten mehr als ein Viertel, in manchen Abteilungen der AEG bis zu 60 % der Belegschaft. Nur mit ihnen wurde die landwirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung und die von Albert Speer organisierte Rüstungsproduktion aufrechterhalten. Großunternehmen, kleine Handwerksbetriebe und Bauern forderten immer mehr AusländerInnen an und waren so mitverantwortlich für das System der Zwangsarbeit. Die Industrie profitierte von der dadurch möglichen starken Ausweitung und Modernisierung der Produktion, mit der die Grundlage für das ‘Wirtschaftswunder’ nach dem Krieg gelegt wurde.

Der häufig verwendete Begriff ‘Fremdarbeiter’ vernachlässigt den Zwangscharakter des ganzen Systems. Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, erklärte 1944: „Von fünf Millionen Arbeitern, die nach Deutschland gekommen sind,  sind keine 200 000 freiwillig gekommen“ (4).  Die meisten WesteuropäerInnen waren nach Deutschland dienstverpflichtet worden. Aus der Sowjetunion wurden 1942 pro Woche 40000 Menschen von der Straße weg verschleppt. Die deutschen ‘Herrenmenschen’ planten die systematische Unterwerfung der ‘rassisch minderwertigen’, osteuropäischen ‘Arbeitsvölker’ – Arbeit als Beute des rassistischen Vernichtungskrieges. Zu diesen verschleppten ZivilistInnen kamen fast zwei Millionen Kriegsgefangene. Infolge der deutschen Gebietsverluste griff die deutsche Industrie 1944 immer stärker auch auf KZ-Häftlinge zu. Statt Fabriken bei den KZs zu bauen (Vorreiter IG Farben 1941 in Auschwitz, Siemens 1942 in Ravensbrück, aber auch der Baukonzern Hochtief), wurden nun Hunderte von KZ-Außenlagern bei den Fabriken eingerichtet.

Zwischen den Extremen eines todgeweihten Sklavendaseins und eines gewöhnlichen Lebens als Wanderarbeiter gab es aber zahlreiche Schattierungen. Menschen aus Polen und aus der Sowjetunion (sogenannte „Ostarbeiter“) waren durch diskriminierende Sondererlasse besonders wehrlos der Denunziation und damit der Willkür der Gestapo und anderer polizeilicher Dienststellen ausgeliefert. Sie durften ihre Lager meist nur zur Arbeit verlassen und mussten entsprechende Kennzeichen („OST“, „P“) auf der Brust tragen. Erträglicher war das Leben für westeuropäische Facharbeiter und Ingenieure. 

Alle AusländerInnen wurden streng überwacht durch einen rassistisch-bürokratischen Kontrollapparat aus Wehrmacht, Arbeitsamt, Werkschutz, SS und Gestapo. Sie wurden in zugige und verwanzte Baracken oder in überfüllte Gaststätten und Festsäle eingepfercht und miserabel verpflegt. Den dauernden Bombenangriffen waren sie noch wehrloser ausgesetzt als die deutsche Bevölkerung. Viele Frauen litten unter zusätzlichen Schikanen wie Vergewaltigung und Zwangssterilisierung. Am schlimmsten war das Schicksal der KZ-Häftlinge.

Trotz Repression, Denunziation und Orientierungslosigkeit sowie der verheerenden Lebensbedingungen in der besetzten und ausgeplünderten Heimat versuchten die ZwangsarbeiterInnen immer wieder zu fliehen. Auch gab es Ansätze zu Widerstand und Sabotage oder wenigstens Versuche, die eigene bedrohte Menschenwürde zu bewahren.

Anders als die Vernichtungslager lagen die Zwangsarbeiterbaracken direkt vor den Fenstern der deutschen Bevölkerung. Auf ihren langen täglichen Arbeitswegen durch Städte und Dörfer waren die Fremden ebenso unübersehbar wie auf den Feldern und in den Fabriken. Wie gingen NachbarInnen und – zu Vorgesetzten aufgestiegene – KollegInnen mit dem abgestuften Diskriminierungs- und Ausbeutungssystem um? ZeitzeugInnen nennen das Brot-zu-stecken immer wieder als einzigen Kontakt mit der meist anonym bleibenden Masse fremder Arbeitskräfte – Indiz für die Sichtbarkeit des Hungers, auch für ein schlechtes Gewissen? Die meisten Deutschen waren mit sich beschäftigt und interessierten sich nicht für das Schicksal der AusländerInnen. Nicht selten wurden freilich auch Ermittlungsverfahren eingeleitet gegen Deutsche, die verbotenen Kontakt mit Ausländern hatten. Bei sexuellen Verbindungen mit ‘Fremdvölkischen’ wurden Frauen bestraft und gedemütigt; männliche Lagerführer oder Vorarbeiter konnten Polinnen und ‘Ostarbeiterinnen’ dagegen meist straflos vergewaltigen – Rassismus ist nicht geschlechtsneutral. 

Der Historiker Ulrich Herbert schreibt: „Die Diskriminierung der Arbeiter aus Osteuropa wurde ebenso als gegeben hingenommen wie die Kolonnen halbverhungerter Menschen, die täglich durch die Straßen der Städte in die Fabriken marschierten [...], eben das aber machte das Funktionieren des nationalsozialistischen Arbeitseinsatzes aus: dass die Praktizierung des Rassismus zur täglichen Gewohnheit, zum Alltag wurde.“ (5)

Die ZwangsarbeiterInnen zählen zu den vergessenen Opfern des Nationalsozialismus. Nach dem Krieg erinnerte die deutsche Öffentlichkeit den massenhaften „Ausländereinsatz“ meist nur als bedauerliche Begleiterscheinung des Krieges, nicht aber als das brutale Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als das die „Sklavenarbeit“ im Zentrum der Nürnberger Prozesse stand. Auch die Forschung vernachlässigte das Thema Zwangsarbeit im Nationalsozialismus lange Zeit (6). Bis heute gibt es kaum Gedenktafeln oder gar Gedenkstätten dazu. Die einst 30000 Lager im Reich sind vergessene Lager.

Nach ihrer Befreiung lebten viele ZwangsarbeiterInnen als „Displaced persons“ weiterhin in Lagern und warteten auf ihre Repatriierung oder Ausreise. Für viele, insbesondere sowjetische ZwangsarbeiterInnen war der Leidensweg 1945 noch nicht zu Ende. Sie wurden in ihrer Heimat pauschal der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt; einige verschwanden in den stalinistischen Lagern. Die meisten dieser in Ost und West ‘vergessenen Opfer’ leiden noch immer und besonders im Alter unter den psychischen und physischen Folgeschäden des „Totaleinsatzes“; in vielen osteuropäischen Ländern leben sie am Rand des Existenzminimums.

Lange wurden den Menschen individuelle Entschädigungsansprüche oder wenigstens Lohnnachzahlungen verweigert; nicht einmal ihre Rentenansprüche können sie stets nachweisen. Mit Pauschalzahlungen an einige Regierungen sah die Bundesrepublik ihre Verantwortlichkeit erfüllt. Von den zur Ermöglichung der deutschen Einigung errichteten Stiftungen in Polen, Weißrussland, Russland und der Ukraine erhielten einige Betroffene einmalige Zahlungen von maximal 600 DM. Die von dem Sklaveneinsatz profitierenden Betriebe lehnten – von eher symbolischen Ausnahmen abgesehen – jede Verantwortung ab. Erst ein Karlsruher Urteil sowie vor allem der juristische und politische Druck in den USA konnten diese Blockade ein Stück weit aufbrechen. Nach langwierigen, von zähem Gefeilsche begleiteten Verhandlungen wurde nun eine Stiftung zur Entschädigung auf den Weg gebracht. Viele Details sind dabei allerdings noch unbefriedigend (7).

Anmerkungen:

(1) Aus François Cavanna, Das Lied der Baba (orig.: Les Russkoffs, deutsch von Klaus Budzinski), Berlin/Weimar 1988, einem autobiographischen Roman eines Franzosen, der 1943 als Zwangsarbeiter nach Berlin kam und sich in eine russische Zwangsarbeiterin verliebte. > zum Text

(2) Von den 7.7 Mio ausländischen Arbeitskräften (Mitte 1944) kamen 2.8 Mio aus der Sowjetunion, 1.7 Mio aus Polen, 1.3 Mio aus Frankreich und 0.6 Mio aus Italien. > zum Text

(3) Hans Pohl (Hrsg.), Zwangsarbeit bei Daimler-Benz, Stuttgart 1994, 117. Diese ausgezeichnete Studie wurde von Daimler-Benz gefördert, während viele Firmenarchive zu diesem Thema bis heute geschlossen bleiben (z. B. Siemens). > zum Text

(4) Robert W. Kempner, in: Götz Aly u.a. (Hrsg.), Herrenmenschen und Arbeitsvölker. Ausländische Arbeiter und Deutsche 1933 - 1945 (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, 3), Berlin 1986, S. 9. > zum Text

(5) Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin 1986, 120 - 178, 177. Dies der beste Überblick zum Thema. > zum Text

(6) Eine Literaturliste finden Sie hier. Grundlegend: Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin/Bonn 1986. Ulrich Herbert (Hrsg.), Europa und der "Reichseinsatz": ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938 - 1945, Essen 1991. Ein partieller Überblick bei: Hans-Ulrich Ludewig, Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg. Forschungsstand und Ergebnisse regionaler und lokaler Fallstudien, in: Archiv für Sozialgeschichte, 31. 1991, S. 558 - 577. Zu Berlin-Brandenburg: Leonore Scholze-Irrlitz/Caroline Noack (Hrsg.), Arbeit für den Feind. Zwangsarbeiteralltag in Berlin-Brandenburg 1939 - 1945, Berlin (bebra) 1998. Zu KZ-Häftlingen: Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft. 1939 - 1945, hrsg. v. Hermann Kaienburg, Opladen (Leske + Budrich) 1996. Zur jüdischen Zwangsarbeit: Wolf Gruner, Der ‘Geschlossene Arbeitseinsatz’ der deutschen Juden als Element des antijüdischen Verfolgungsprozesses des NS-Staates 1938 bis 1943, Berlin 1997. Carola Sachse (Hrsg.), Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin. Die Aufzeichnungen der Elisabeth Freund, Berlin (Akademie) 1996.  > zum Text

(7) Informationen u.a. beim Bundesverband der NS-Verfolgten. > zum Text