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Bürgeraktivierung im System „innerer Sicherheit“
Die Wiederentdeckung des Lokalen

von Hubert Beste

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Die Gemeinde steht seit den 90er Jahren im Zentrum sicherheitspolitischer Debatten. Präventionsräte, Bürgerpatrouillen oder Sicherheitspartnerschaften sollen der kleinräumigen Sozialgeographie zurückgeben, was ihr staatszentrierte Sicherheitsphilosophie und Zentralisierung in den vorausgehenden Jahrzehnten geraubt hatten: gewachsene, gesellschaftlich verankerte Kontrollmacht. Die neoliberale Sicherheitsstrategie schraubt die Verantwortung des Staates zurück und nimmt die einzelnen BürgerInnen verstärkt in die Pflicht. Kontrollpolitik übernimmt die Funktion von Sozialpolitik im Zuge einer Globalisierung der „Null Toleranz“.[1]

Dieser Richtungswechsel „innerer Sicherheit“ ist vor dem Hintergrund der schon in den 70er Jahren aufkommenden Debatte über die „Unregierbarkeit der Städte“ einzuordnen.[2] Als Gründe für die Polarisierung in den Städten werden häufig angeführt: eine zunehmende, öffentlich sichtbare Armut und Armutsmigration, steigende Kriminalitäts- und Gewaltraten, eine Verschärfung der ökonomischen Krise und die damit verbundenen Folgen einer wachsenden Segregation der städtischen Gesellschaft, auch in Form von Ghetto- und Slumbildung, sowie einer selektiven Mobilität in der Gestalt, dass sich die „Überflüssigen“ in den ohnehin problembelasteten Wohnvierteln konzentrieren.[3] Gleichzeitig wurden auf Seiten der Kontrollorgane zwei sicherheitspolitische Strategien popularisiert und ideologisch aufbereitet: „community policing" und „zero tolerance“.[4]

Beide Ansätze versprachen rasche Hilfe und konnten als kontrollpolitische US-Importware auch für den bundesdeutschen Raum erfolgreich adaptiert werden. Inzwischen konzentriert sich die städtische Sicherheitsdebatte auf die Gestaltung öffentlicher Räume, die Prognose und Kontrolle gewalthafter Auseinandersetzungen, den Umgang mit ethnischen Minoritäten und marginalisierten, machtlosen Bevölkerungsgruppen sowie auf die Krise sozialer Integration.[5] „Sicherheit" bildet in diesem Kontext das zentrale Dispositiv der Restrukturierung innerstädtischer Räume. Auf der Basis einer revanchistischen Rhetorik findet eine Transformation traditioneller sozialpolitischer Programmatik in Richtung auf eine international oder „global" ausgerichtete Wettbewerbsorientierung statt.[6] In den städtischen Metropolen bildet sich eine neue Form der Sicherheitszonierung heraus, die im Hinblick auf westeuropäische Großstädte allerdings noch weitgehend in den Anfängen steckt.[7] Immer offener wird jedoch die Frage gestellt, ob die „Integrationsmaschine“ Stadt versagt und die Konfliktfolgen überhaupt noch zu bändigen sind.[8]

Kontrollstrategische und kriminalpolitische Hintergründe

In dieser unübersichtlichen kontrollpolitischen Lage drängt sich der funktionale Einsatz der BürgerInnen als SicherheitsakteurInnen und -garantInnen geradezu auf. Sie gelten nicht mehr als „Sicherheitsrisiko“,[9] sondern werden ganz konkret zur sicherheitspolitischen Verantwortung gezogen. Konsequent ist daher in jüngster Zeit von einer „Reorganisation des Politikfeldes ‚Innere Sicherheit‘“, einer „local governance of crime“ oder der neuen „Kunst des Regierens und Herrschens“ die Rede.[10] Unter Verweis auf wachsende Kinder- und Jugenddelinquenz, Unsicherheit, Vandalismus und Ruhestörungen im öffentlichen Raum sollen vorzugsweise unter Führung des lokalen Staates Präventionsmöglichkeiten erarbeitet und praktisch umgesetzt werden, in die die BewohnerInnen des jeweiligen Quartiers systematisch einzubeziehen sind. Während die Rückkehr einer rigiden Strafenpolitik einschließlich atavistischer Strafformen vor allem in den USA eine Renaissance erlebt, sind die neuen bürgernahen Strategien der Kriminalitätskontrolle gerade auch in westeuropäischen Ländern in jüngster Zeit immer populärer geworden.

Die Herausbildung dieser dualen Kriminalstrategie, bestehend aus punitiver Eliminierung einerseits und delegierender Bürgerorientierung andererseits, hat David Garland analytisch präzise herausgearbeitet: In den „Hochkriminalitätsgesellschaften“ wird der Mythos vom souveränen Staat, der die Sicherheit einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers jederzeit zu garantieren vermag, durch Herausbildung eines vielgestaltigen Kriminalitätsmanagements konterkariert.[11] Der bürgerliche Staat wird vor das Grundproblem gestellt, dass er jene Schutzfähigkeit einschließlich aller damit verbundenen Sicherheitsversprechen, die er sich als besonderes Verdienst zugeschrieben hatte, schrittweise wieder revidieren muss. Dies geschieht u.a. durch Rückgriff auf die Strategie des „Mit-verantwortlich-machens": Sie besteht in der staatlichen Suche nach nicht-staatlichen Organisationen und Instanzen, die in die aktive Form der Kriminalprävention (mit-)verantwortlich eingebaut werden. Die Ansätze hierfür sind vielgestaltig und werden mit den unterschiedlichsten Begriffen umschrieben: „public-private partnership“, „inter-behördliche Kooperation“, „multi-dimensionaler Ansatz“, „aktive Nachbarschaft“ oder „Hilfe zur Selbsthilfe“. Die primäre Absicht liegt darin, kriminalpräventive Verantwortlichkeit auf außerstaatliche Instanzen mit der Maßgabe angemessener Aktionsformen zu verlagern. Eine stark verbreitete Methode besteht in der Durchführung öffentlicher Kampagnen, die entweder die gesamte Öffentlichkeit oder spezifische Gruppen potentieller TäterInnen und Opfer in die Präventionsmaßnahmen einbinden. Ein weiteres Kennzeichen liegt in der Einbeziehung praktisch aller relevanten kommunalen Einrichtungen (Schulen, Kirchen, Sozial- und Jugendarbeit, Einzelhandel, Verkehrsbetriebe, kommerzielle Sicherheitsfirmen etc.), die sich den Erfordernissen kriminalpräventiver Art anpassen sollen.[12]

Diese Strategie sollte jedoch nicht einfach als Entledigung staatlicher Aufgabenlast oder als Kommerzialisierung sozialer Kontrolle begriffen werden. Vielmehr handelt es sich um eine neue Technik des Regierens und Herrschens aus der Distanz, die sich vor allem ökonomischer Rationalität verpflichtet fühlt und sich als fester Bestandteil des Alltagslebens wie der allgemeinen Organisationskultur definiert. Die neuen Präventiv-Partnerschaften, verweisen auf eine veränderte Rationalität innerhalb der Kriminalitätskontrolle. Die kriminologischen Annahmen sowie die Techniken und Wissensbestände im Umgang mit Abweichung und Kriminalität werden einer Revision unterzogen – und zwar in der Weise, dass auch potentielle TäterInnen und Opfer in die staatlichen Kontrollstrategien eingebunden werden. Im Gegensatz zur traditionellen Herangehensweise setzen die neuen Strategien nicht mehr auf Verfolgung und Strafe um jeden Preis, sondern auf ein gesamtgesellschaftliches Management von Kriminalität, bei dem in bestimmten Bereichen durchaus auf eine Strafverfolgung verzichtet werden kann (Beispiel: Fixerstuben). Die neue Infrastruktur des Kriminalitätsmanagements beinhaltet ein komplexes Patchwork unterschiedlichster staatlicher und nicht-staatlicher Stellen, Organisationen, Initiativen oder Arrangements, um kriminalpräventives Handeln auf individueller, familialer, nachbarschaftlicher und kommunaler Ebene zu fördern.

Clifford Shearing hat als Hauptziel dieses Konzepts des „nachbarschaftlichen Polizierens“ den ordnungspolitischen Versuch genannt, Partnerschaften und Netzwerke aufzubauen, die die Polizei mit nichtstaatlichen Instanzen verbinden. In diesem Sinne sollen die Zusammenarbeitsmodelle als „Koproduzenten öffentlicher Sicherheit“ auftreten. Charakteristisch sind dabei die vielgestaltigen Formen, in denen sich die Polizei als Vermittlerin darstellt, um die Wissens- und Informationsstränge zu kontrollieren, die für kooperativ organisiertes Polizieren erforderlich sind. Die institutionelle Logik nichtstaatlichen Regierens soll gleichsam für eine Herrschaft aus der Distanz nutzbar gemacht werden: „Der Staat versucht zu ,steuern` und ermutigt andere, die Verantwortung für das ,Rudern` zu übernehmen".[13] Es entsteht ein arbeitsteiliges System, in dem einerseits der Staat zugleich Sicherheitsgarant und Gewaltmonopolist bleibt, in dem aber andererseits nichtstaatliche Ressourcen zur Schaffung von Sicherheitsnetzen mobilisiert werden, die wiederum nach den Regeln des Risikomanagements strukturiert sind.

Es deutet sich in diesen Bemühungen eine neue Struktur der Kriminalpolitik an, die Verantwortlichkeiten vom Staat auf Individuen und Gemeinden zu verlagern sucht. Eine solche Akzentverschiebung führt nicht nur zu Verlagerungen der Kosten, sondern beinhaltet auch eine spezifische Steuerung von Erwartungen. Indem Polizei und staatliche Institutionen Verantwortlichkeiten abgeben und an andere Akteure delegieren, bauen sie an die eigene Institution gerichtete Erwartungshaltungen ab. Sie entlasten sich, wie Crawford sagt, nicht nur von der Verantwortung für einen bestimmten Politikbereich, sondern auch von der Verantwortung für dessen Gelingen bzw. Scheitern.[14] Diese Verhaltensmaximen lassen sich nun den Privaten oder kommunalen Strukturen zuordnen. Das führt jedoch nicht notwendig zu einer Schwächung des Zentralstaates. Zwar entledigt er sich seiner Verantwortung, nicht jedoch seiner grundsätzlichen Lenkungskompetenz und -kapazität. Genau dies macht den Charakter der Strategie des „governing-at-a-distance“ aus.[15]

Die Tendenzen dieser Politik sind in Deutschland im Bereich der Sicherheitspolitik bisher lediglich in Ansätzen zu erkennen. Während in Großbritannien diese Prozesse bereits weit fortgeschritten sind, wird die deutsche Debatte noch weitgehend in „etatistischer“ Weise geführt. Zukünftig ist jedoch zu erwarten, dass es auch in der Bundesrepublik sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch auf dem Sektor kriminalpolitischen Handelns zu diesem Entwicklungstrend kommen wird. Am Beispiel der Rentenpolitik erweist sich „Responsibilisierung" bereits als dominante Entwicklungsrichtung. Für die Wahrscheinlichkeit ihrer Ausdehnung auf die Sicherheits- und Kontrollpolitik sprechen nicht nur die finanziellen Restriktionen des Staates, sondern vor allem der damit zusammenhängende Mechanismus, Regierbarkeit in „postmodernen" Gesellschaften zu garantieren.

Bürgereinbindung – drei Beispiele symbolischer Ordnungspolitik

„Die Kommunen müssen in Punkt Sicherheit offensiv werden und müssen ihre Probleme in die eigene Hand nehmen. Der Verweis auf andere Zuständigkeiten und andere Ebenen wie Polizei, Regierungspräsidien und Bund hilft nicht weiter“.[16] Mit diesen Worten konturiert der Geschäftsführer des im Juli 1996 gegründeten lokalen Präventionsrats die neue Sicherheitsstrategie der Stadt Frankfurt am Main. In der Präventionshierarchie unterstehen diesem Gremium zwölf Regionalräte in den einzelnen Stadtteilen, die vor allem den Einsatz von Streetworkern im Sinne „aufsuchender Sozialarbeit" favorisieren, wobei die Konflikte möglichst ohne Einschalten der Polizei gelöst werden sollen.[17] Dem leitenden Präventionsrat, der drei- bis viermal pro Jahr tagt, gehören folgende Personen an: die Oberbürgermeisterin als Vorsitzende, der Polizeipräsident, der leitende Staatsanwalt, der Dezernent für Wirtschaft, Sicherheit und Europaangelegenheiten, der Sozialdezernent (gleichzeitig Bürgermeister) sowie die Schuldezernentin. Im weiteren sind drei Arbeitsgruppen (AG) zugeordnet – AG Drogen (sog. „Montagsrunde“), AG Sicherheit, AG Jugend und Prävention, denen die jeweils zuständigen Dezernenten vorstehen. Als erste große Aktion wurde vom Präventionsrat 1997 die öffentliche Kampagne „Gewalt · Sehen · Helfen“ initiiert (Kosten: ca. 150.000 DM), die 1998 und 1999 unter Mithilfe von „Multiplikatoren“ öffentlichkeitswirksam weitergeführt wurde.

Die Attraktivität kommunaler Kriminalprävention liegt zunächst und vor allem in ihren politischen Funktionen begründet. Sie bietet für jeden etwas und ist über alle noch so gegensätzliche politische Lager hinaus konsensfähig. Dem Konzept kommt seine Offenheit und Unbestimmtheit entgegen: Man kann prinzipiell zahllose gesellschaftliche Strategien und Maßnahmen in diesem Modell konzentrieren, ohne sich großartig anstrengen zu müssen. Keineswegs zufällig sind insbesondere die machtlosesten Bevölkerungsgruppen, nämlich Kinder und jugendliche MigrantInnen, Zielscheibe der einschlägigen Maßnahmen: „Das größte Geheimnis kommunaler Kriminalprävention liegt darin, dass sie Kriminalität als Anlass und Legitimation ihrer Tätigkeit eigentlich gar nicht braucht“.[18] Sie erscheint prinzipiell als Fortsetzung kommunaler Gesellschaftspolitik mit anderen Mitteln. Nicht die wachsende soziale Umverteilung und gesellschaftliche Spaltung steht auf dem Programm, vielmehr werden Abweichung und Kriminalität in geradezu absurder Weise zum Hauptgestaltungsfeld des lokalen Staates hochstilisiert: „Um so mehr Wirtschafts-, Sozial-, Steuerpolitik, in denen doch die Ängste ihre wirkliche Grundlage haben, an Grenzen gestoßen sind, um so deutlicher erscheinen Innen- und Kriminalpolitik als die bedeutendsten Bereiche politischer Gestaltungsmacht; Kriminalität als politisches Superthema".[19] Man könnte im übertragenen Sinne von dem Versuch sprechen, ein „osmotisches Verhältnis“ von Polizei und Bevölkerung herzustellen, so wie es sich bereits im Fall des „community policing“ andeutet: Eine Vielzahl von gesellschaftlichen Organisationen wird zur Unterstützung der Polizei herangezogen. Letztere verschafft sich – gleichsam im Gegenzug – zahlreiche und äußerst wertvolle individuelle Kontakte und vertrauliche Informationen.

Ein instruktives Beispiel dafür, wie Sicherheitsvorsorge der Individuen selbst in den Mittelpunkt gestellt wird, liefert die „VerkehrsGesellschaft Frankfurt am Main“ (VGF), die die Verhinderung von Vandalismusschäden in Bussen, Bahnen und an Haltestellen unmittelbar der Interventionsmacht der Fahrgäste zuschreibt. Das Kampagnenfaltblatt zeigt im Hintergrund eine aufgeschlitzte Sitzbank. Die Schlagzeile lautet: „Das bezahlen Sie!“ Im Untertitel heißt es: „Öffentliches Eigentum ist auch Ihr Eigentum – Helfen Sie bitte, es zu schützen“. Präventionsstrategien dieser Form von „responsibilization“ sowie eine wachsende Akzeptanz individueller „Selbstaufrüstung“ scheinen sich gegenwärtig speziell im großstädtischen Raum mit der Intensivierung sowohl staatlicher als auch profitorientierter Sicherheitsanstrengungen zu ergänzen. Diese Strategie würde gerade auch für die staatlichen Instanzen ein Entlastungsmoment beinhalten, das einer neuen „Technik des kontrollpolitischen Regierens und Herrschens“ entspräche.

Wie die Kontrolle der „underclass“ zum Einsatz unterbezahlter „Underclass“-Kontrolleure umfunktioniert werden kann, zeigt auch das Frankfurter Sicherheitsmanagement. Im Rahmen der Beschäftigungsinitiative „Arbeit vor Sozialhilfe“ setzt das Ordnungsamt seit Mitte 1998 ehemalige SozialhilfeempfängerInnen als „Präventionshelfer“ ein, die für einen Brutto-Stundenlohn von 15,08 DM Kontrollgänge im öffentlichen Raum absolvieren. Statt der erhofften 180 konnten zu Beginn der Aktion aber erst 20 Helfer eingestellt werden.[20] Mit dem Ende 1995 geschaffenen Sicherheitsdezernat und der gleichzeitig gestarteten „Sicherheitsoffensive Innenstadt“ wurde zudem ein Kontrollkonzept auf den Weg gebracht, das in der wissenschaftlichen Literatur als „Frankfurt-Modell“ mittlerweile gleichrangig neben dem „New York-Modell“ firmiert.[21]

Fazit

Die Ansatzpunkte eines neuen Bürgerbezugs im Feld kommunaler Kriminalprävention verweisen auf einen zentralen Aspekt, den Stanley Cohen bereits vor zwei Jahrzehnten in seinem Konzept der „punitive city“ herausgestellt hat: Das Verwischen der Grenzen sozialer Kontrolle.[22] Während AußenseiterInnen und Kriminelle noch im 19. Jahrhundert aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder weggesperrt wurden, hat sich soziale Kontrolle im ausgehenden 20. Jahrhundert praktisch auf alle kommunalen Bereiche ausgedehnt. Die Devise lautet jetzt: „Die Sicherung einer guten Ordnung – Aufgabe des Staates, der Kommunen, aller gesellschaftlichen Kräfte und der Bürger selbst.“[23] Soziale Kontrolle ist nicht länger institutionen-abhängig, sondern breitet sich in einem ganzen Arsenal lokaler Programme und Projekte aus; sie wird zum selbstverständlichen und unverzichtbaren Bestandteil des Alltagslebens.[24]

Anders ausgedrückt: jene politische Geometrie, die durch die Institutionen „Verbrechen & Strafe“ sowie „Schwäche & Fürsorge“ vorgegeben wird, erfährt einen Wandel. Gestaltete sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis in der fordistisch-wohlfahrtsstaatlichen Phase klar zugunsten der Institution „Schwäche & Fürsorge“, so verschiebt sich in den 80er und 90er Jahren der Schwerpunkt zumindest auf der Ebene der ideologischen Auseinandersetzung in Richtung der Institution „Verbrechen & Strafe“. Zwar dominiert in statistisch-empirischer Hinsicht auch jetzt noch die Institution „Schwäche & Fürsorge“, jedoch spitzt sich gerade im lokalen Raum die Debatte in Form eines Sicherheits-, Kriminalitäts- und Gewaltdiskurses zu, in dessen Rahmen die Präparierung von Risikogruppen und die Konstruktion einer bürgernahen Wehrhaftigkeit im Vordergrund stehen. Die Allianz zwischen beiden Institutionen beginnt sich langsam zugunsten der Kontrollpolitik zu verschieben, so dass es unter den gegebenen Umständen als besonders aussichtslos erscheint, Sozialpolitik als die bessere Kriminalpolitik anpreisen zu wollen. Innere Sicherheitspolitik hat längst die politische Agenda der Städte erobert; auch dort, wo sozialpolitischen Maßnahmen noch besondere Bedeutung beigemessen wird, geschieht dies fast durchgängig unter den Aspekten der sozialen Kontrolle und Ausschließung.[25]

Die neue Einbeziehung der BürgerInnen in die staatlich organisierte Sicherheitsarbeit muss als folgenreich und keineswegs unproblematisch eingestuft werden. Es geht dabei nicht nur um eine Form symbolischer Politik, die fürsorgliche Betriebsamkeit und politische Verantwortlichkeit vortäuscht. Bereits unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ist die ständige Vorverlagerung der staatlichen Eingriffskompetenzen, die jetzt auch noch im Wege einer ausdrücklichen Unterstützung durch BürgerInnen praktisch umgesetzt werden soll, fragwürdig. Ob die überschießende Präventions-Rhetorik als Hinweis für diese „bürgerorientierte“ Ausweitung des staatlichen Kontrollsystems interpretiert werden kann, wäre allerdings noch genauer zu prüfen. Außerdem sind die in die öffentliche Kontrolle eingebundenen BürgerInnen in praktisch allen Fällen lediglich kontrollierte KontrolleurInnen sowie untergebene InformantInnen, sie avancieren zum Bestandteil des polizeilichen „intelligence system“. Die dominierende Rolle der Polizei wird hingegen nicht angetastet.[26] Im Gegenteil: die verstärkte Integration des Bürgers in die allgemeine gesellschaftliche Kontrollsphäre dient vor allem der Imagepflege der staatlichen Sicherheitsorgane, die jetzt demonstrieren können, dass sie sich um die Probleme vor Ort auch wirklich kümmern.[27]

Hubert Beste ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Sein Buch „Morphologie der Macht. Urbane ‚Sicherheit‘ und die Profitorientierung sozialer Kontrolle“ erscheint demnächst bei Leske & Budrich.


[1] Wacquant, L.: Elend hinter Gittern, Konstanz 2000, S. 21-32
[2] vgl. Kronawitter, G. (Hg.): Rettet unsere Städte jetzt! Das Manifest der Oberbürgermeister, Düsseldorf u.a. 1994
[3] Häußermann, H.: Die Krise der „sozialen Stadt“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2000, H. 10-11, S. 13-21
[4] Boers, K.: Ravensburg ist nicht Washington, in: Neue Kriminalpolitik 1995, H. 1, S. 16-21; Steinert, H.: Das große Aufräumen, oder: New York als Modell?, in: Neue Kriminalpolitik 1997, H. 4, S. 28-33
[5] Body-Gendrot, S.: The Social Control of Cities?: A Comparative Perspective, Cambridge 2000; Heitmeyer, W.; Anhut, R. (Hg.): Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen, Weinheim, München 2000
[6] Smith, N.: The New Urban Frontier. Gentrification and the Revanchist City, London, New York 1996; Hirsch, J.: Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat, Berlin 1998
[7] Christopherson, S.: The Fortress City: Privatized Spaces, Consumer Citizenship, in: Amin, A. (ed.): Post-Fordism. A Reader, Cambridge, Oxford 1994, pp. 409-427; Wehrheim, J.: Kontrolle durch Abgrenzung – Gated Communities in den USA, in: Kriminologisches Journal 2000, H. 2, S. 108-128
[8] Heitmeyer, W.: Versagt die „Integrationsmaschine“ Stadt? Zum Problem der ethnisch-kulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen, in: Ders.; Dollase, R.; Backes, O. (Hg.): Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben, Frankfurt/M. 1998, S. 443-467
[9] Narr, W.-D. (Hg.): Wir Bürger als Sicherheitsrisiko, Reinbek bei Hamburg 1977
[10] Lehne, W.: Kommunale Kriminalprävention. Die Reorganisation des Politikfeldes ‚Innere Sicherheit‘, in: Hitzler, R.; Peters, H. (Hg.): Inszenierung: Innere Sicherheit, Opladen 1998, S. 113-130; Crawford, A.: The Local Governance of Crime: Appeals to Community and Partnerships, Oxford 1997; Shearing, C.D.: Gewalt und die neue Kunst des Regierens und Herrschens. Privatisierung und ihre Implikationen, in: Trotha, T. von (Hg.): Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Sozialforschung, Opladen 1997, S. 263-278; Krasmann, S.: Regieren über Freiheit. Zur Analyse der Kontrollgesellschaft in foucaultscher Perspektive, in: Kriminologisches Journal 1999, H. 2, S. 107-121
[11] Garland, D.: The Limits of the Sovereign State: Strategies of Crime Control in Contemporary Society, in: The British Journal of Criminology 1996, No. 4, pp. 445-471; Ders.: "Governmentality" and the Problem of crime: Foucault, Criminoloy, Sociology, in: Theoretical Criminology 1997, No. 2, pp. 173-214
[12] Frehsee, D.: Politische Funktionen Kommunaler Kriminalprävention, in: Albrecht, H.-J. u.a. (Hg.): Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht. Festschrift für G. Kaiser, Berlin 1998, S. 739-763
[13] Shearing a.a.O. (Fn. 10), S. 273
[14] Crawford a.a.O. (Fn. 10), p. 266
[15] Garland 1996 a.a.O. (Fn. 11)
[16] Goldberg, F.: Öffentliche Ordnung und Sicherheitsgefühl am Beispiel Frankfurt/M., in: Bundeskriminalamt (Hg.): Community Policing. Ergebnisse eines Workshops am 8./9. Juli 1997 im Bundeskriminalamt, Wiesbaden 1997, S. 55-61 (61)
[17] Frankfurter Rundschau v. 20.5.1999. Die Regionalräte präsentieren sich im Jahr 2000 mit einem öffentlich ausliegenden Faltblatt, das den Slogan trägt: „Gemeinsam aktiv für eine sichere Zukunft unserer Stadt“. Darin werden die Ziele folgendermaßen definiert: „Sicherheit für mehr Lebensqualität“, „Vermittlung von sozialer Verantwortung und Förderung des Wertebewusstseins“, „Verringerung von Kriminalitätsursachen“, „Friedvolles gemeinsames Zusammenleben im Stadtteil“.
[18] Frehsee a.a.O. (Fn. 12), S. 744
[19] ebd., S. 752
[20] Frankfurter Rundschau v. 27.2.1999
[21] Bühler, M.: Präventionsansätze in Deutschland, in: Knemeyer, F.-L. (Hg.): Innere Sicherheit in der Gemeinde. Kommunale Kriminalprävention, Stuttgart 1999, S. 29-46
[22] Cohen, St.: The Punitive City, in: Contemporary Crisis 1979, No. 4, pp. 341-363
[23] Knemeyer, F.-L.: „Kommunale Kriminalprävention“ – richtiger: kommunale Sicherheitsvorsorge, in: Ders. a.a.O. (Fn. 21), S. 13-28 (13)
[24] Taylor, I.: Crime in Context. A Critical Criminology of Market Societies, Cambridge 1999, p. 199
[25] Cremer-Schäfer, H.; Steinert, H.: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie, Münster 1998, S. 29 ff.
[26] Lustig, S.: Kontrollierte Kontrolleure. Über die Erweiterung des ‚intelligence system‘ der bayerischen Polizei; Hornbostel, St.: Die Konstruktion von Unsicherheitslagen durch kommunale Präventionsräte, beide in: Hitzler; Peters a.a.O. (Fn. 10), S. 79-92 und S. 93-112
[27] Kreissl, R.: Die Konjunktur Innerer Sicherheit und die Transformation der gesellschaftlichen Semantik, in: Hitzler; Peters a.a.O. (Fn. 10), S. 155-170

Bürgerrechte & Polizei/CILIP 2000
Erstellt am 3. September 2000