Morgengrauen Nr. 82 - September 2000 bei www.linkeseite.de 

"Für unsere Würde!"

Proteste Leipziger Flüchtlinge gegen das Asylbewerberleistungsgesetz

von Andrea Fischer-Tahir, Kahina e.V.

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Es war ein wolkenverhangener Nachmittag. Die Einsatzwagen der Polizei waren vor dem Hauptgebäude der Universität Leipzig eingeparkt. Gegen halb vier schallt es durch einen Lautsprecher: "Wir begrüßen Euch zu dieser Kundgebung und Demonstration!" Kaum waren diese Worte auf Deutsch vorgetragen, so erfolgte eine kurze Rede auf Arabisch. Anschließend einige Worte auf Persisch, danach auf Dari, auf Französisch, Englisch... Und weil jemand auf Kurdisch-Sorani gesprochen hatte, riß ein Mann das Mikro an sich, um auf Kurmanci zu reden. Schließlich war es so, daß sich ein Dutzend Flüchtlinge um das Auto versammelt hatte, um Begrüßungsreden zu halten. Dann setzte sich ein Zug von mehr als 600 Flüchtlingen und deutschen UnterstützerInnen in Bewegung: mit Musik vom Balkan, mit Klatschen und mit immer wiederholten Sprüchen. Die Leipziger Innenstadt erlebte ihre erste große Flüchtlingsdemonstration. Was war geschehen?

Die künstlich erzeugte materielle Bedürftigkeit und der § 2 Asylbewerberleistungsgesetz

Flüchtlinge in der BRD leben in einer künstlich erzeugten materiellen Bedürftigkeit. Verschiedene Regelungen verhindern, daß Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integriert werden: So gilt ein generelles Arbeitsverbot für Flüchtlinge, die in Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) leben sowie für Flüchtlinge, deren Verfahren bereits abgeschlossen ist und die eine Grenzübertrittsbescheinigung haben und ferner für Flüchtlinge, deren EhepartnerInnen über einen befristeten Aufenthalt oder eine Duldung verfügen. Letzteres bedeutet, daß z.B. die Ehefrau eines Mannes, der das sogenannte "kleine Asyl" (§ 51 AuslG) hat, und die kein Asyl beantragt hat oder deren Verfahren erfolglos beendet wurde, für die Dauer von einem bis vier Jahren keine Lohnarbeit annehmen kann. (vgl. Asylverfahrensgesetz und Arbeitserlaubnisverordnung)

Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), das die rechtliche Grundlage für die Versorgung der Flüchtlinge darstellt, besagt in §2 Abs.1: Flüchtlinge, die bereits über eine Dauer von drei Jahren, frühestens beginnend am 1. Juni 1997, hier leben und deren Asylverfahren noch immer nicht rechtskräftig abgeschlossen ist sowie Flüchtlinge, deren "Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen" und die bisher Sachleistungen in Form von Lebensmittel- und Hygienepaketen (von den Flüchtlingen selbst in einem Punktewahlsystem zusammengestellt), Wertgutscheine für Kleidung sowie 80,-DM Taschengeld bekamen, sollen Leistungen entsprechend der Sozialhilfe (BSHG) erhalten. Der § 2 Abs 2 besagt, daß "bei der Unterbringung von Leistungsberechtigten nach Absatz 1 in einer Gemeinschaftsunterkunft (...) die zuständige Behörde die Form der Leistung aufgrund der örtlichen Umstände" bestimmt.

Dieser Paragraph wird in den Bundesländern, sogar in den Kommunen unterschiedlich ausgelegt. So erhalten die genannten Personengruppen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt Geldleistungen. Aber auch die sächsischen Städte Zwickau und Chemnitz zahlten bisher Bargeld entsprechend dem BSHG. Die Stadt Leipzig (SPD-regiert) wollte ebenfalls ursprünglich Bargeld auszahlen. Am 12. Mai aber verschickte das Sächsische Ministerium des Innern (SMI) einen Erlaß, mit dem die Vergabe von Sachleistungen für alle festgeschrieben wurde. In dem Erlaß heißt es, daß es bei Gewährung unterschiedlicher Leistungen in den verschiedenen Heimen zu "Störungen des Hausfriedens" kommen würde. Abgesehen davon, daß die Alternative darin bestünde, allen Heimbewohnern Geld auszuzahlen, anstatt sie mit Paketen zu demütigen, ist diese Begründung absurd: Waren doch zwischen 1995 und 1997 in den Leipziger Heimen verschiedene Leistungsarten gewährt worden, ohne daß es zu Mord und Todschlag gekommen ist.

Die aufgestanden sind, sollen sich wi(e)dersetzen

Als Anfang Juni Flüchtlinge in Leipzig und in der Umgebung der Stadt realisierten, daß sie weiterhin mit Nahrungsmittel- und Hygienepaketen versorgt werden sollten, kam es zu spontanen Protesten. Hier wurde eine Bundesstraße kurzzeitig blockiert, dort traten mehrere Flüchtlinge in einen Hungerstreik. An der Verweigerung der Paketannahme bzw. an der Verweigerung der Nahrungsaufnahme in Gemeinschaftskantinen beteiligten sich ganze Wohnheime, egal, ob sich die betreffenden Flüchtlinge schon drei Jahre in Deutschland aufhielten oder nicht.

Um die Situation zu entschärfen (und womöglich auch aus humanitären Gründen) versuchte die Stadt Leipzig, dem Regierungspräsidium einen Kompromiß abzuringen. Am 7. Juni wurde dann bekanntgegeben, daß den Flüchtlingen Geld auszuzahlen ist. Dies sollte aber erst einmal nur für diejenigen mit einer Aufenthaltsgestattung gelten, die also noch im laufenden Asylverfahren waren. Das betraf allerdings nicht einmal 100 Personen. In Leipzig aber leben ca. 1.200 Flüchtlinge, und zahlreiche Flüchtlinge in Heimen außerhalb der Stadt hatten sich ebenfalls an den Protesten beteiligt. Personen mit einer Duldung sollten eine Einzelfallüberprüfung über sich ergehen lassen unter der Frage: Ist ihre Duldung selbstverschuldet oder nicht, d.h. ist es ihre tatsächliche Schuld, daß der Flughafen von Kabul nicht anfliegbar ist oder sind sie Folteropfer und dürfen nicht abgeschoben werden. Zurecht fragten da die Flüchtlinge, ob hier nicht der Hausfrieden in Gefahr gebracht werden sollte und beschuldigten Stadt und Land des Versuchs der Spaltung.

So gingen also die Proteste weiter. Die Flüchtlinge versuchten jetzt aber, ihre Aktionen besser zu koordinieren. So fanden regelmäßige Treffen statt, ein Forderungskatalog wurde erarbeitet, Pressearbeit wurde begonnen. Der Forderungskatalog blieb nun nicht mehr bei den Bargeldleistungen stehen. Vielmehr hieß die erste Forderung: Arbeitserlaubnis für alle! Desweiteren wurden bessere Unterbringungsmöglichkeiten insbesondere für Frauen und Familien gefordert, Deutsch- und andere Integrationskurse, Abschaffung der Residenzpflicht (Verbot, die zugewiesene Stadt oder Landkreis zu verlassen) usw. Mit diesen Forderungen gingen die Flüchtlinge schließlich auf die Straße: Unter dem Motto "Für unsere Würde" formierten sie sich am 6.Juli zur größten Flüchtlingsdemonstration in Leipzig.

Die Stadt Leipzig und beinahe gleichlautend der städtische Flüchtlingsrat, ein Gremium aus Privatpersonen und Organisationsvertretern, die eigentlich Lobbyarbeit für Flüchtlinge betreiben, distanzierten sich von der Demonstration: Die Forderungen der Flüchtlinge seien überzogen und zu radikal. Dabei war den Flüchtlingen nicht einmal bewußt, daß sie sich mit den Forderungen nach einer Arbeitserlaubnis, nach besseren Wohnbedingungen und Deutschkursen in guter Gesellschaft von Bündnis90/Grünen befinden.

Das Land Sachsen bzw. der Asylverantwortliche der Sächsischen Regierung, Eike Springbrunn, zeigten sich ganz ungerührt von den Protesten. In einem Gespräch mit zwei PDS-Landstagsabgeordneten und einer Vertreterin der Flüchtlingsunterstützerinnengruppe KAHINA erklärte er, daß Proteste eher zu Verschlechterungen statt zu Verbesserungen führen würden. So hätten einige Firmen ihre Lieferverträge bereits gekündigt. In der Konsequenz könnte dies bedeuten, daß die Flüchtlinge wieder Fertigpakete bekämen anstelle des doch etwas generöseren Punktewahlsystems.

Wie weiter?

Die lange Phase der Anstrengungen und das Ausbleiben einer sichtbaren Verbesserung der sozialen Lage führte bei vielen Flüchtlingen zu Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit. Hinzu kam, daß versucht wurde, einige AktivistInnen der Proteste in entlegene Gebiete umzuverteilen. In den meisten Fällen konnte dies zwar juristisch verhindert werden, es verstärkte jedoch die Unsicherheit der Flüchtlinge.

Momentan herrscht eine Unsicherheit darüber, mit welcher Priorität und wie die Proteste weitergeführt werden sollen. Eine kleine Gruppe der Flüchtlinge hat sich zusammengefunden und versucht, eine Selbstorganisation zu strukturieren. Über einzelne Projekte sollen mehr Menschen weiter motiviert und politisiert werden: So über eine Flüchtlingszeitung, die am 1. September erstmals erscheinen wird; über Bildungsveranstaltungen über die Rechte bei polizeilichen Vorladungen, über das administrative System in der BRD usw. Eine Fußballmannschaft wurde gegründet, die - unterstützt vom lokalen Verein "Roter Stern" - bei jedem Spiel Öffentlichkeitsarbeit zu flüchtlingspolitischen Themen leisten soll. Noch ist also nichts entschieden. Aber der erste Schritt zu einer die Heime, die Herkunftsländer und die politischen Gruppen übergreifenden Flüchtlingsselbstorganisation ist geschehen.