Schreiben nach Auschwitz
Vor 50 Jahren nahm sich Tadeusz Borowski das Leben

von Ulrich M. Schmid

09/01
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Unter den Grossen der Holocaust-Literatur ist der Pole Tadeusz Borowski der Unbekannteste. Was er als Häftling Nummer 119 198 im Vernichtungslager Auschwitz erlebte, hat er zu schockierend amoralischen Erzählungen verarbeitet, die heute wegweisend wirken. 1951 nahm sich Borowski im Alter von 28 Jahren das Leben. Auschwitz ist als literarisches Thema wohl nicht zuletzt deshalb problematisch, weil es in seiner Apokalyptik  die schwärzesten Dichterphantasien weit hinter sich gelassen hat. Wer trotzdem über Auschwitz schreibt, muss sich in den Mainstream derjenigen einordnen, die Zeugnis ablegen wollen. Das Signalwort Auschwitz löst beim Leser sofort einen Reflex aus, der den präsentierten Text restlos mit einer Wirklichkeitsaussage gleichsetzt. Dieser Rezeptionsmodus ist unhintergehbar - unlängst hat die Affäre Wilkomirski gezeigt, dass eine literarische Fiktion nicht unter dem Etikett «Auschwitz» verkauft werden darf.

Allerdings liegt der Empörungswert von literarischen Auschwitz-Darstellungen nicht erst seit Wilkomirski offen. Bereits der polnische Schriftsteller Tadeusz Borowski (1922 bis 1951) hat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Auschwitz-Texten eine Welle von negativen Reaktionen ausgelöst. In den Erzählbänden «Abschied von Maria» (1947) und «Steinerne Welt» (1948) zeichnet Borowski eine emotionslose Vision der Nazi-Vernichtungslager. Die Kritik stiess sich vor allem am Fehlen jeglichen moralischen Engagements und warf dem Autor eine nihilistische Weltsicht vor. In der Tat verschwimmen bei Borowski die Grenzen zwischen Tätern und Opfern - seine Erzählungen sind jenseits von Gut und Böse angesiedelt.

Zynismusvorwurf 

In der Erzählung «Ein Tag in Harmence» hat ein jüdischer Häftling, der in Auschwitz vergast wird, zuvor als Lagerältester im Dienst der Nazis seinen eigenen Sohn wegen Brotdiebstahls erhängen lassen. Weiter noch geht Borowski in einem Text, der seine Schockwirkung bereits im Titel «Die Herrschaften werden ins Gas gebeten» ankündigt: Hier tritt das Böse nicht als Element der Naziherrschaft in Erscheinung, sondern als anthropologische Konstante. Die Lagerhäftlinge müssen an der Bahnrampe einen Todestransport in Empfang nehmen und interessieren sich dabei nur für die Esswaren, die sie den Ankommenden abnehmen können. Die moralische Gleichgültigkeit der Lagerarbeiter kontrastiert auf das Schärfste mit der Schilderung der Güterwaggons, aus denen erstickte Kleinkinder wie tote Hühner an den Beinen herausgetragen werden.

Das Aufbegehren der zeitgenössischen Kritik muss indes als kalkulierter Effekt von Borowskis Komposition verstanden werden. Der Ich-Erzähler, der sich durch eine absolute Gefühlskälte auszeichnet, trägt den Namen Tadeusz. Borowski legt mit diesem Kunstgriff selber die Identifikation des erzählenden Protagonisten mit dem realen Autor nahe. Das Ausmass dieser narrativen Provokation kann man an den Schlusssätzen der Erzählung «Abschied von Maria» ermessen, in denen der Erzähler die Verhaftung seiner Geliebten schildert: «Ich wusste überhaupt nicht, was tun. Wie ich später erfuhr, verschickte man Maria als arisch-jüdischen Mischling mit einem jüdischen Transport in das berüchtigte Lager am Meer, vergaste sie in einer Krematoriumskammer und machte aus ihrem Körper Seife.» Durchaus zynisch wirken kann auch jene berühmte Episode, deren Wirkung allein auf dem unkommentierten Kontrast von Banalität und Schrecken aufgebaut ist. Einige Häftlinge spielen im KZ Fussball: «Ich kam mit dem Ball zurück und kickte ihn in eine Ecke. Zwischen dem ersten und zweiten Eckball wurden hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast.»

Es ist genau die skandalöse Emotionslosigkeit solcher Szenen, die Borowski den Vorwurf eines prinzipienlosen Schreibens eingetragen hat. Die tiefer liegende Wahrheit konnte erst mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Holocaust hervortreten: Die literarische Überzeugungskraft von Borowskis Auschwitz-Erzählungen beruht nämlich gerade auf der Ausblendung sittlicher Entrüstung. Der Lagerhäftling Tadeusz hat die letzte Stufe der seelischen Invalidität erreicht. Ihm ist sogar die Fähigkeit zum moralischen Urteil abhanden gekommen. Damit wird deutlich: Das nackte Überleben per se ist nichts wert, wenn die Seele den Respekt vor dem eigenen und fremden Leben eingebüsst hat. Borowski hat diesen fatalen Zusammenhang durch seinen frühen Selbstmord gewissermassen selbst bestätigt: Am 3. Juli 1951 schoss er sich eine Kugel in den Kopf.

Dass der Zynismusvorwurf nur eine instinktive Abwehrreaktion darstellte und in seiner Aussage haltlos war, wurde in Polen bald erkannt. Allerdings setzte Czeslaw Milosz bereits 1953 in seinem Buch «Das verführte Denken» einen weiteren Mythos über Borowski in die Welt. Unter den vier Porträts, die Milosz in seinem Buch als Beispiele für die politische Selbsttäuschung führender Intellektueller präsentiert, befindet sich auch ein Essay über Borowski. Milosz behandelt die Problematik des nihilistischen Auschwitz-Dichters, der seine Feder nach dem Krieg in den Dienst des kommunistischen Regimes gestellt hat, unter dem Titel «Der unglückliche Liebende». Für Milosz entspringen sowohl Borowskis schockierende KZ-Erzählungen als auch die propagandistischen Texte der späten vierziger Jahre der gleichen «enttäuschten Liebe zur Welt und zu den Menschen».

Für Milosz wäre Borowski in Frankreich zu einem Existenzialisten geworden: Sein Ekel vor der degenerierten Menschheit entspreche durchaus Sartres nausée. Als Pole aber sei er vom Gedanken an eine glückliche Zukunft besessen gewesen, und genau diese Idee habe Borowski den Kommunisten in die Arme getrieben. Mit anderen Worten: Milosz führt den angeblichen Zynismus auf einen tragischen Mythos zurück, der seine letzte Beglaubigung durch den Selbstmord des Dichters erfährt. Milosz' Deutung ist ebenso scharfsinnig wie falsch. Das Hauptproblem liegt darin, dass Borowski nicht jener naive moralische Absolutist ist, der sich unmittelbar von Hitlers Opfer zu Stalins Kollaborateur gewandelt hat.

Letztlich sitzt Milosz einem biographistischen Fehlschluss auf: Er liest Borowskis Werk vor dem Hintergrund des prekären Lebensschicksals des Autors. Borowskis erst kürzlich veröffentlichte Korrespondenz mit Tadeusz Rózewicz zeichnet ein ganz anderes Bild. Im Juni 1948 schreibt Borowski: «In keinerlei Hinsicht bekenne ich mich zu Volkspolen.» In diesen Briefen tritt Borowski als kritischer Zeitzeuge auf, der sich gegen die Verlogenheit des staatlich gelenkten Kulturbetriebs wehrt. Borowskis Engagement für die Erneuerung der polnischen Literatur entspringt also nicht - wie Milosz meint - einem grausam enttäuschten Humanismus, sondern dem Glauben an die Wiederherstellbarkeit moralischer Massstäbe mit schriftstellerischen Mitteln. Aus dieser Sicht präsentiert sich auch Borowskis Selbstmord nicht als implizites Eingeständnis eines literarischen Scheiterns, sondern als Spätfolge des beschädigten Lebens im KZ.

Politische Vereinnahmung 

Das unmittelbare Aufeinanderfolgen zweier totalitärer Systeme hat die polnische Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg in eine kollektive Schizophrenie gestürzt. Auf der einen Seite galt es, die traumatisierende Erfahrung der Nazi-Besetzung und der Vernichtungslager aufzuarbeiten, auf der anderen Seite sah man sich zu staatlich dekretiertem Jubel über die sowjetische «Befreiung» verpflichtet. Dabei wusste die neue Marionettenregierung von Moskaus Gnaden den weit verbreiteten Hass auf die Deutschen geschickt zu instrumentalisieren: Die Anprangerung der Nazi-Greueltaten wurde zum stärksten Argument für die selbstherrlich verkündete Moralität der nun regierenden Kommunisten. Borowskis Verhängnis bestand darin, dass er mit seinen Auschwitz-Erzählungen in das Räderwerk dieses diskursiven Mechanismus geriet. Sein Werk muss jedoch als literarisches, nicht als politisches Ereignis verstanden werden. Borowski ist es erstmals gelungen, die Wehrlosigkeit der menschlichen Psyche angesichts der Vernichtung aller moralischen Werte darzustellen. Zu Recht gilt er deshalb heute als Klassiker, der dem Phänomen Auschwitz seinen gültigen literarischen Ausdruck verliehen hat.

Editoriale Anmerkung: 
Der Text ist eine Spiegelung von http://www.materialien.org/kunst/borowski.html