Die Einführung der mobilen Konsumkontrolle
Thesenpapier zum Zusammenhang zwischen personengebundenen Chiptechnologien und dem neuen Entwicklungsmodell des Kapitals

von Lothar Wimmelmeier

09/01
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Gut geplant ist halb erfaßt!" Werner Störmer, Personalwirtschaft 3/96

In der aktuellen Kontroverse um die Chipkarten an der Bremer Uni wird noch nicht genug deutlich, wieweit das Thema die ganze Bevölkerung betrifft, und warum ein Widerstand gegen personengebundene digitale Signaturkarten von großer Bedeutung ist.
Das Bündnis gegen Chipkarten hat inzwischen einen Reader erstellt, in dem die Details zu den aktuellen Chipkarten-Planungen an der Uni und in der Stadt, zur Asyl- und Sozialhilfecard berichtet werden. Er ist beim AStA (der Bremer Universität) kostenlos erhältlich. Ich möchte hier ein etwas umfassenderes Bild zeichnen und die sozial aggressiven Aspekte von Chiptechnologien auf die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft beziehen. Der Grundgedanke ist, wie sich der Einsatz der neuen Technologien gegen das Erfahrungswissen und gegen die (potentiell neue) soziale Autonomie richtet. Ich denke, es lohnt sich, sich über die Situation an der Uni hinaus das Ausmaß der Innovationen genau anzuschauen.

1. Chipkarten sind ein Rationalisierungsinstrument

Mit der gezielten Verbreitung des Einsatzes multifunktionaler Chipkarten und mobiler kleiner Trans-ponderchips handelt es sich um eine für das Kapital ganz entscheidende Innovation. Transponder sind kontaktlos über Funk gelesene senderartige Chips, auf denen veränderliche Informationen enthalten sind, z.B. die Identifikationsnummer und Herstellungszeitpunkt eines Werkstücks. Diese Transponder kommen v.a. in der Industrie breit zur Anwendung. In der Lagerarbeit, in der Transportlogistik wie in der Serienfertigung werden sie eingesetzt, um den Arbeitsplatz völlig in die elektronische Steuerung einzubinden. Der Gabelstablerfahrer, der Kommissionsware verlädt, ist mit einem mobilen Terminal versehen, das ihm Zeiten und Mengen vorgibt, welche Güter an welche Ziele verladen werden sollen. Waren früher die Bereiche Buchhaltung, Lohnbuchhaltung und Lagerarbeit getrennt, so kommuniziert der Arbeiter heute mit dem Lagerführungsrechner. Er wird ein immer kleineres Anhängsel der Maschine, nach deren Rhythmus er zu arbeiten hat. Die Buchhaltung hat sich sozusagen in die Funkwellen zwischen dem Terminal am Gabelstabler und dem Lagerführungsrechner hineingelegt.
In Dienstleistungsjobs (Kundenberaterin am Flughafen, Reisebüro, Telefonistin, Bankangestellte u.a.) zählen Kamera und PC die Minuten der Abwesenheit, die Aufenthaltshäufigkeit auf der Toilette, die Abstände zwischen dem letzten gewerblichen Telefongespräch und dem nächsten (so ein Spiegel-Artikel 1999). Viele Frauenarbeitsplätze werden einem solchen Verhaltensdiktat unterworfen.
- Die Verknüpfung von Daten über den Materialfluß in der Fertigung oder über Dienstleistungen mit den Daten über die Zeiten der An- und Abwesenheit der ArbeiterInnen ermöglicht die Feststellung des augenblicklichen Aufenthaltsorts der Beschäftigten, etwaiges "Nichtstun", Reden, Pausen, etc. auf der Seite der Unternehmensleitung. Je größer das Unternehmen, desto relevanter wird das.
- Der Datenabgleich zwischen den Materialdaten und den Personendaten ermöglicht das Aufspüren von AusschußproduzentInnen und Fehlleistungen. Sanktionen gegen sie werden individualisierbar.
- Personalzeiten werden als Jahresarbeitszeit ausgehandelt. Das individualisiert die ArbeiterInnen, entfremdet sie vom Belegschaftskollektiv und unterläuft die Tarifabschlüsse. Für WerbevertreterInnen im 'Außendienst' wird die Gehaltshöhe an den monatlichen Verkaufserfolg gekoppelt (Prämienabzug).
Der zentrale Punkt, den es bei jeder Rationalisierung zu beobachten gilt ist: die neuen Technologien zerstören die Autonomie, die sich von unten gegen die produktive Unterwerfung entfaltet hat:
Mit der Einarbeitung in ein Bereich entsteht auf der Seite der ArbeiterInnen ein Erfahrungswissen, das ihnen potentielle Macht verleiht. Je mehr sie über den Zusammenhang der Arbeitsschritte, das Endergebnis und über die Zusammenarbeit mit den KollegInnen wissen, desto mehr können sie im Kollektiv das Arbeitstempo, das Maß an Ausschuß, die Anzahl funktionstüchtiger Maschinen und die Pausenzeiten bestimmen. Eine Rationalisierung in Form der allgegenwärtigen mobilen Buchhaltung registriert aber jeden Vorgang und nimmt so die Autonomie weg. So wird besser beobachtet als mit jeder Kamera. 

2. Die historische Parallele: die Enteignung des Erfahrungswissens

Die Arbeitsteilung und die von Technologien geprägten Arbeitsbedingungen in der Fabrik sind selbst das Ergebnis einer langen Geschichte von Kampfauseinandersetzungen. Zwei einander widersprechende Interessen stehen sich in der Fabrik unmittelbar gegenüber, die jeden Arbeitsvertrag notwendig bestimmen: während die Unternehmer und Meister möglichst viel Leistung für möglichst wenig Lohn erhalten wollen, streben die Lohnabhängigen danach, möglichst viel Lohn für möglichst wenig Arbeit zu erhalten. Beide Seiten werden sich also Strategien überlegen, wie die Macht des Anderen zu begrenzen oder zu brechen ist. Oft verharren sie in einem jahrelangen Patt.
Die Arbeitswissenschaften und die Arbeits- und Organisationspsychologie haben historisch ihre Herkunft darin, daß ArbeiterInnen beim Verrichten der Tätigkeiten genauestens beobachtet wurden. Jeder einzelne Schritt wurde mit der Uhr gestoppt. Später wurden sie sogar mit der Sportfilmkamera gefilmt (!), um die Arbeitsschritte der ArbeiterInnen durch Roboter zu imitieren. Die Betriebsleitung entschied, welche Handlungen "überflüssig" seien und wegfallen könnten, und dadurch wurde die Arbeit enorm komprimiert und die Produktivität vervielfacht. Denn nun wurde das, was ein einzelner Testarbeiter leisten konnte, in standardisierte Zeit- und Mengenvorgaben verwandelt und allen ArbeiterInnen als Vorgabe diktiert. So entstand der Taylorismus, benannt nach dem Arbeitswissenschaftler Frederic Taylor (1911), die "wissenschaftliche" Betriebsführung. Das Fließband wurde eingeführt, die Arbeitsschritte zerlegt und die ArbeiterInnen verloren damit ihr Wissen über die Produktionszusammenhänge.
Die nackte Unwissenheit und Unkenntnis des eigenen Terrains ist die Grundlage von Herrschaft. Erst wenn die und der ArbeiterIn kein Wissen mehr über ihre eigene Arbeit haben, keine Kompetenz zu kombinieren und zu kommunizieren, dann fehlen ihr/ihm die Machtmittel. Zentral ist hier: sie werden durch die Beobachtung des Erfahrungswissens enteignet. Und dies historisch stets aufs Neue.
Im Wissen über die eigene Arbeit lag die Autonomie und sie war notwendige Bedingung der direkten Konfrontation im Betrieb. So wie die Betriebsleitung sich das Erfahrungswissen der ArbeiterInnen aneignete, so entmachtete sie die Belegschaft. Heute scheinen diese Zusammenhänge vergessen, sie wurden aber während und durch die wilden Streiks und Fabrikbesetzungen der 70er Jahre breit diskutiert. Es entstand eine "andere" Arbeiterwissenschaft (Roth 1975, Bergmann 1978; Hartmann 1981, Ebbinghaus 1984; das Seminar von Eckard Kanzow im MZH Fb3 widmet sich diesem Zusammenhang von betrieblicher und gesellschaftlicher Rationalisierung, Sozialdatenbanken Chipkarten und Volkszählung und wird im Sommersemester fortgesetzt, NeueinsteigerInnen sind willkommen).
Die Absicht der Rationalisierung liegt also darin, daß die lebendige Arbeit nur zu gebrauchen ist, wenn sie in einer zerlegenden formalisierenden Arbeitsorganisation zugerichtet wird. Durch die Produktionsplanung nach der formalen Logik der Maschine jenseits des Überblicks der ArbeiterInnen werden die Menschen überhaupt erst zu austauschbaren Arbeitsaffen (Marx 1969). Das ist der Charakter der politischen Technologie und nicht allein die Kosten von Absatz, Marketing, Herstellung (heute v.a. in der Transport-Logistik). Letztere verbleiben im Denken des Unternehmers und interessieren uns nicht.
Mein nächster Gedankenschritt ist der, daß wir an der Uni auch ArbeiterInnen sind und genau der selben Verplanung und Formalisierung unterworfen sind. Wir hatten allerdings bisher viel mehr Freiheiten und viele Azubis sind nach der Lehre nicht unmittelbar in den Betrieb gegangen, sondern an die Uni. Das ist eine Freiheitssuche und wenn es nur ein vorübergehendes Ausweichterrain ist. Ich höre das in jedem zweiten Gespräch über die "Berufsperspektive".

3. Digitalisierung und die Steuerung der Welt in der Parallel-Welt

Mit der Diskussion um die Chipkarten ist einige Verwirrung entstanden. Wollen die da jetzt Zugangskontrollen an den Seminarräumen einführen und die Prüfungsergebnisse auf der Karte speichern? Die BetreiberInnen, das Technologiezentrum Informatik (tzi) im MZH, das Studisekretariat und die Unileitung verneinen das und sagen, es werde "nur" eine digitale Signatur auf einer Karte ausgeben, als "elektronisches Serviceangebot für Studierende im Rahmen von Media@Komm". Die digitale Signatur ist ein verschlüsselter Code, mit der mensch sich erstens in bestimmte Anwendungen einloggen kann und zweitens online rechtsverbindlich unterschreiben können soll. (Mensch schiebt die Signaturkarte in ein Lesegerät und unterschreibt z.B. per Mausklick). Über 10 Universitäten sind bereits in personen-bezogene Kartenprojekte eingestiegen, die von der Mensakarte bis zum Kopierkontingent variieren.

  1. Die Asylcard sollte, wie es noch 1998 Stand der Planungen des Innenministeriums war, und seitdem aufgrund von Protesten geparkt ist, noch möglichst viele Informationen über den Stand des Asylverfahrens und die Aufenthalts- und Abwesenheitszeiten in Unterkünften sowie Konsummuster der Flüchtlinge enthalten. So eine Chipkarte, die ganz viele Daten speichert, ist sicher auch gegen die Studis möglich. Ich denke aber, das ist nicht mehr Stand der Dinge. Es geht dennoch, in welcher Kartenkonzeption auch immer, um den Datenabgleich auf der Behördenseite, und diese verwaltungsinterne Verknüpfung von Daten(spuren) hinter unserem Rücken kann in keiner Weise verhindert werden, wie der Leiter des tzi Herbert Kubicek in einer Veranstaltung im April 1999 selbst gesagt hat.
  2. Mit der Verlegung der Kommunikation in digitale Bahnen entsteht eine zweite Welt, eine virtuelle Welt. In ihr werden Abbilder der Realität erzeugt, verhandelt und neue Vorstellungen von der Welt geschaffen. Neue Zeitabstände und Geschwindigkeiten werden damit erzeugt. Wer daran teilnimmt, hinterläßt auch eine Datenspur, die den eigenen Weg durch die Datenwelt zurückverfolgbar macht. An der Verknüpfung der Daten besteht zentrales Interesse von Staat und Kapital.
  3. Das Direktmarketing, die neue Religion der Absatzwirtschaft, bietet erstmals den "direkten" "Dialog" zwischen KundInnen und AnbieterInnen. Um Such- und Verhandlungskosten zu sparen, wollen Hersteller die Werbung nicht mehr breit streuen, sondern sie so gut wie möglich auf einzelne Zielgruppen konzentrieren. Wer nun etwas Spezifisches erfahren will, z.B. Flugtarife, oder etwas im Internet bestellen will, die/ der gibt ihre/ seine persönlichen Adressdaten ein und bekommt die maßgeschneiderte Information. Daraus entstehen auf der Rückseite beim Kapitalist Daten, die zu einer Datenbank verknüpft werden. Massen-Emailings sind nämlich gegen die Regeln des Internets. In den USA ist der Handel mit solchen Datenbanken über Konsum-, Entscheidungs- und Bewegungsprofile zum lukrativsten Geschäft avanciert (Whitaker 1999). Die Datenbanken sind also die digitale Parallelwelt der Absatzwirtschaft und die Bewegungs- und Kundenprofile von so viel Personen, wie nur irgend möglich, sind die notwendige Voraussetzung des Direktmarketing. Das ist eine neue Stufe der Unterwerfung des Konsums unter das Kapital. Wenn ein Oliver Roll davon spricht, daß das Direktmarketing "eine sehr genaue Erfolgskontrolle erlaubt, da jede Reaktion genau einer Aussendung zugerechnet werden kann" (1996, S. 83), dann werden die Kriterien der Kritik "Service" und "Kontrolle" vollends ununterscheidbar. Das sollten wir im Kopf behalten, wenn sie uns die Uni- und BürgerInnenkarte als "Serviceleistung" schmackhaft machen wollen. Rund um die Uni sollen ja auch Einkaufszonen entstehen.
  4. Mit der digitalen Signaturkarte werden Aufenthaltsorte, Wanderungs- und Umzugsbiographien durch An- und Abmeldungen, Leseinteressen durch Bibliothekskonten und persönliche Kommunikationsnetzwerke durch emails alle rekonstruierbar. Aus der Beobachtung unseres Verhaltens, das dadurch möglich wird, daß unsere (elektronischen) Gespräche, Einkäufe, Rückmeldungen, Kfz-Anmeldungen, Heiratsanmeldungen, Umzüge und was sonst mit der BürgerInnenkarte alles möglich sein soll, mitgezählt und in Form und Inhalt registriert werden, werden Prognosen unseres Verhaltens möglich. Alle öffentlichen Ämter und alle Privatfirmen haben an der Prognosefunktion fieberhaftes Interesse: von der Bildungsplanung bis zur Müllabfuhr; von der Norisbank bis zum Colaautomatenaufsteller.
  5. Die permanente Volks-, Güter- und Ameisenzählung durch Chips ist die exakte Parallele zur ver-knüpften Betriebsdaten- und Personalzeiten-Erfassung (BDE und PZE). Sie ist die Parallele zur Beobachtung des Arbeiters durch Stoppuhr und Sportfilmkamera zur Einführung des Fließbands. Für die Mehrheit der abhängigen MetropolenbürgerInnen besteht der neue Unterwerfungsschritt darin, daß unsere Verhaltensweisen, Bezugspunkte, Bezugspersonen, Entscheidungen, Entscheidungszeiträume und unser Geldbeutel abgelesen werden, in Form der Verdichtung in einen maximal möglichen Takt oder in der Dauerbelieferung von Gesunden mit Prophylaxen oder der völligen Ausdünnung von Kontakten gegen uns gewendet werden können. Die Folgen sind je nach Bereich unterschiedlich.
  6. Die multifunktionale Chipkarte ist die mobile Zugangs- und Konsumkontrolle. Wir werden nicht kontrolliert, um uns etwas zu verbieten. Doch die personengebundenen Verknüpfungen sind auch ein Rationierungsinstrument: z.B. wird bei der elektronischen Funkabbuchung von Mülltonnengebühren abgeglichen wieviele Haushaltsmitglieder wieviel Müll machen. Diese Daten stehen auch dem Sozialamt zur Verfügung (Kuhlmann 1995; Bertrand, Kuhlmann und Stark 1996).
  7. Asyl- und Sozialhilfekarten sind mit Sicherheit Ausdruck des polizeilichen Willens, eine technologische Handhabe einzuführen, um die Übertretung von Gesetzen und Behördenschikanen zu ahnden. Anders wären Schwarzarbeit und Landkreisüberschreitungen nicht zu registrieren. Die Fahndungsabsicht wird mit der Konzeption der Abnahme von Fingerabdrücken und ihrer Digitalisierung offenbar (Leuthardt 1996; AStA-Reader 1999).
  8. Für alle wird mit diesen Technologien Mehrarbeit verbunden sein: gerade in der Möglichkeit zur Be-schleunigung der Abläufe liegt die Verdichtung des Arbeitsprogramms. Ich bin mir sicher, daß wir heute länger vor dem Rechner sitzen als zu Zeiten der Schreibmaschine. Und mit dem schnelleren Prozessor werden die Aufgaben größer. Das Computer Aided Design (CAD) macht die schönsten Bildlayouts möglich, verlängert aber die Arbeitszeit (von den Seh- und Schlafstörungen einer freiberuflichen Grafikerin nicht abgesehen).

4. Konturen des neuen Entwicklungsmodells

Durch den Zusammenbruch und Wegfall des Staatssozialismus sehen sich die Kapitalisten nicht mehr genötigt alternativ zum starren Gleichheitsmodell die persönliche Freiheit anzubieten. Die Autonomie wird für "historisch" obsolet erklärt, es sei "jetzt" alles interdependent, d.h. voneinander abhängig. Die antagonistischen Kämpfe lassen sich aber nicht abschaffen. Direkte Konfrontation wird es immer wieder geben. Um einzuschätzen, wo und wie neue Autonomie entsteht (durch den "subversiven" Email-Gebrauch oder durch rein mündliche Absprachen unter den Azubis oder im Stadtteil?), brauchen wir Anhaltspunkte, was den Herrschenden wichtig ist und wie sie den Aufstand präventiv bekämpfen.
Das neue Entwicklungsmodell, mensch könnte es kommunitaristisch, nennen wird sich in einigen Punkten wesentlich vom Neoliberalismus unterscheiden. Die Grundzüge seien kurz genannt: die Rationalisierung der Reproduktionsbereiche mit den oben beschriebenen Mitteln, die Absenkung der Reproduktionskosten und die durch Sozialhilfe- und Arbeitsamtsperren gewaltsam organisierte Auffüllung eines neuen Niedriglohnsektors und die Akkumulation mit indirekten (Öko)Steuern und privatem Gebührenwucher (zur Reproduktion s. Autonomie 1985, zur Zwangsarbeit s. den längeren Text).
Die neue ökonomische Theorie des Institutionalismus reflektiert lediglich neue Verwirklichungsbedingungen, um den Fall der Profitrate aufzuhalten und die Akkumulation zu stabilisieren. Entscheidend ist dabei ein sozialtechnisches Projekt, das darin besteht, die Klasse, die Abhängigen, neu einzubinden. Neue Maßnahmen der Zwangsberatung und Gelderkürzung zwingen immer mehr Leute Arbeit für niedrigen Lohn anzunehmen. In Britain gibt es Denunziationshotlines gegen BlaumacherInnen und SozibezieherInnen, die schwarz arbeiten. Abstrakter formuliert geht es ihnen darum, Produktivität durch gegenseitige Abhängigkeit von Groß- und Kleingruppen zu organisieren, "Selbstorganisationsprozesse" auf der betrieblichen, interbetrieblichen(!), kommunalen und schulischen Ebene anzurollen, um Kreativität und Autonomie zu enteignen. Besonders die Unis und die Städte werden zu Feldern der Einübung neuen Verhaltens (Mitchell 1996). Wir werden eine Zunahme der Verwaltungsdichte gerade im unteren Bereich, auf der kommunalen Ebene erleben und diese werden über eine neue Finanzpolitik an die Europäische Zentralbank angebunden werden. Diese gegen "Faulheit" und "Kriminalität" (in den USA mit dem Todeskandidat im Internet) gerichteten Strategien sind nicht allein Moralkampagne, sie zielen darauf ab Strukturen gegenseitiger Beobachtung zu institutionalisieren, um einen Zwang zur Selbstregulierung und Bescheidenheit durchzusetzen. Genau hier spielt das Internet, seine "Community" und die personengebundenen(!) Chipvernetzungen die zentrale Rolle. Die zweite Welt, die virtuelle Welt der Daten, ist Teil der Neuen Ordnung. Information ist Zugriff und Mittel zur Herrschaft. Um den technischen Begriff zu verwenden: die Einbindung durch Deanonymisierung. In einer Community oder Dorfgemeinschaft kennt ja auch jede jeden. Diese Strukturen haben auch etwas positives: sich zuständig fühlen heißt solidarisch zu sein. Aber die staatliche und Konzernstrategie liegt darin, der Neuzusammensetzung von autonomen Communities durch Immigration und Fluktuation (Leute lernen sich kennen) durch "gated communities" zuvor zukommen (wollen nichts miteinander zu tun haben)!
Aus der antirassistischen Bewegung, die an der deutschen Ostgrenze jährlich Camps gegen die Festung aus BGS und Bürgerwachtrupps organisiert, wird uns von einem Laboratorium berichtet:
Mit dem Konzept des "Community Policing" und der Propagierung von "Zero Tolerance" in den Großstädten droht nun nicht nur die gesellschaftliche Stigmatisierung der Sans-Papiers generell zu Kriminellen. Die schärfere und phänotypische Grenzziehung zwischen Illegalisierten und bevorrechtigten StaatsbürgerInnen verändert von Grund auf Staat und Gesellschaft. In den informellen Körperschaften, die in den Grenzregionen [an der deutschen Ostgrenze] wie in den Innenstädten entstehen, verfließen die Grenzen zwischen Bevölkerungsgruppen, Behörden und lokalen Einrichtungen. (FFM Die Grenze 1998, S. 173).
Sie scheinen zu verfließen, mit Verlaub, denn das ist ja die Ideologie daran. Es wird vor allem auf der kommunalen Ebene eine Erhöhung der Verwaltungsdichte geben, die aber nicht als solche erlebt wird, weil "alle" mitbestimmen können. Whitaker (1999) spricht vom mitbestimmten Panoptikum.
Auf der politischen Oberfläche leitet gerade die CDU mit der Ablösung von Kohl die Ablösung vom Alt-konservatismus ein (ein Begriff von Giddens 1997), das wird auf eine Spaltung der CDU hinauslaufen, in Frankreich haben wir das bereits. Bei der SPD passiert dasselbe und die linken KommunitaristInnen werden viele in die neu Rechte Mitte hineinziehen. Die ersten Schritte sind immer der Abschied von der Patriarchatskritik und vom Transnationalismus. 

5. Chancen des Widerstands in sozialen Bewegungen

Leben wir nach dem Rhythmus der Maschine, oder bedienen wir die Maschinen nach unserem Rhythmus? Mit dieser Frage verbindet sich die Machtfrage. Leben ist Sabotage angesichts der Ma-schinerie. Doch die Subjektivität der weißen Metropolenmehrheit scheint versteinert.
Die Aufgaben, die sich aus der obigen Analyse ableiten lassen sind vielfältig: zum ersten die Wiederbelebung materialistischer Technologiekritik, die die Interessen und Bewegungsformen der Besitzlosen mitbedenkt und daher unterscheidet, welche Technologien Autonomie erweitern, und welche sie kaputtmachen. Die Technikfolgenabschätzung ist jedoch reformistisch, weil sie nur anpasserisch "soziale Folgen" der Technik abmildern möchte und nicht nach dem beabsichtigten Gebrauch fragt. Sie negiert Intention.
Zum zweiten sollte das Thema Digitalisierung und Datenabgleich, KundInnenprofile und Chipkarten Thema des Anti-Expo-Widerstands werden (s. Artikel).
Zum dritten ist zu überlegen, was gegen berührungslose Funkinduktionsleser, die in die Wand eingebaut werden, getan werden kann.
Viertens: was eigentlich ansteht ist eine militante Untersuchung: eine Untersuchung, die herausarbeitet, wie sich das aktuell neue Proletariat objektiv und subjektiv zusammensetzt. Militant heißt im Hinblick auf das eigene Mitmischen und an der Frage orientiert, was der Bewegung unmittelbar nützt. Eine Rolle spielt z.B., daß viele osteuropäische Studierenden hier in Bremen nicht nur ihr eigenes Studium finanzieren, sondern auch zum Lebensunterhalt ihrer Familien und Geschwister beitragen. Über die Mobilität und Migration werden Kampferfahrungen weitergetragen.
Sozialrevolutionär wäre es, die jeweiligen Orte der Unterwerfung nicht aufzugeben, sondern die dortigen Auseinandersetzungen und sozialen Kämpfe antizentristisch miteinander zu verbinden. Was wir brauchen ist die Verankerung im neuen Proletariat und in den Flüchtlingen. Ein Sozialrechts- und Menschenrechtskampf mit ImmigrantInnen und mit Papierlosen ist der zentrale Gradmesser unseres Basisbezugs. Die BürgerInnenrechte werden sich in der Folge der produktivierten Differenz immer mehr von den (außerstaatlichen) Menschenrechten unterscheiden. Je weniger Kontakt wir aber zu den anderen Bevölkerungssegmenten und zu den transnationalen Bewegungen gegen MAI und WTO haben (so die Peoples Global Action), desto mehr werden wir uns alle an die Zero Tolerance gewöhnen. Ein Engagement an der Uni lebt davon, sich nicht mit den Gremien zu identifizieren. So ließe sich eine sozialrevolutionäre Linie wiederbeleben, die über die Ebene der Ideologiekritik hinaus von der sozialen Frage her einen institutions- und gremien-unabhängigen übergreifenden Konsens organisiert. 

Literaturauswahl:

Wachstumstheoretiker, Kommunitaristen und BWLer:

  • Giddens, Anthony, 1997, Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frank-furt/M, Suhrkamp, Edition Zweite Moderne hg. von Ulrich Beck
  • Mitchell, William, 1996, City of Bits. Leben in der Stadt des 21. Jahrhunderts, Basel u.a.
  • Roll, Oliver, 1996, Marketing im Internet. Neue Märkte erschließen, München
  • Störmer, Werner und Meinolf Droege, 1997, Personalzeiten und Betriebsdaten. Konzepte, Lösungen und Erfahrungen aus der Praxis, Hanser, München Wien
  • Taylor, Frederic, 1911, Testimony at Hearings before Special House Committee of the House of Re-presentatives to investigate the Taylor and other Systems of Shop Management, Washington DC
  • Ders., 1977, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, München (Orig. 1911)

Technologie-KritikerInnen, antikapitalistischer Theorie und soziale Bewegungen:

  • Bergmann, Willi, Janssen, Klein (Hg.) 1978 Autonomie im Arbeiterkampf. Beiträge zum Kampf gegen die Fabrikgesellschaft, Trikont/Association
  • Bertrand, Ute, Jan Kuhlmann und Claus Stark, Der Gesundheitschip. Vom Arztgeheimnis zum gläsernen Patienten, Campus, Frankfurt/ New York
  • Bündnis gegen Chipkarten, 1999, AStA-Reader zur (Uni) Chipkarte. Was tun gegen elektronische Verhaltens- und Zutrittskontrollen!? 2. Auflage und http://www.uni-bremen.de/~asta
  • CILIP Bürgerrechte und Polizei, 1999, Community Policing, Schwerpunkt CILIP 64, Nr. 3
  • Ebbinghaus, Angelika, 1984, Arbeiter und Arbeitswissenschaft. Zur Entstehung der "wissenschaftlichen Betriebsführung", Köln
  • FFM: Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, 1998, Die Grenze. Flüchtlingsjagd in Schengenland, in Zus.'arbeit mit d. Niedersächs. Flüchtlingsrat und Pro Asyl = Flüchtlingsrat Heft 55, Juli 1998
  • Hartmann, Detlef, 1988, Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt, Berlin Göttingen
  • "Klassenreproduktion und Kapitalverhältnis", in Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft neue Folge Nr. 14, 1985, »Klassengeschichte - soziale Revolution?« S. 201-214
  • Leuthardt, Beat 1996, Leben Online. Von der Chipkarte bis zum Europol-Netz: Der Mensch unter ständigem Verdacht, rororo Hamburg
  • Marx, Karl, 1969, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt EVA (1861-63, vom Moskauer Marx-Engels-Institut lange unter Verschluß gehalten)
  • Roth, Karl Heinz, 1975, Die "andere" Arbeiterbewegung. Die Entstehung der kapitalistischen Repression von 1880 bis heute, Trikont Verlag München
  • Roth, Karl Heinz, 1993, Diss. über Das arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen Arbeitsfront 1934ff
  • Whitaker, Reg, 1999, Das Ende der Privatheit. Überwachung, Macht und soziale Kontrolle im Informationszeitalter, München Antje Kunstmann (Orig. NY 1999)

Editoriale Anmerkung:  
Der Text stammt aus der Bremer Universität vom 14.1.2000 und ist eine Spiegelung von http://social.humanrights.de/techno/chipkarte.html