Genua Juli 2001
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In der Entwicklung der Gipfelstürme seit Seattle im November 1999 stellt Genua im Juli 2001 einen Wendepunkt dar - in mehrfacher Hinsicht: in der erstmaligen breiten Thematisierung von Migration und Ausbeutung; in der breiten sozialen Mobilisierung, die in Italien weit über den Kreis der »event-hopper« hinausging; und schließlich in der staatlichen Reaktion auf diese Mobilisierungen, was sich schon in Göteborg abzeichnete und wohinter mehr steckt als eine Berlusconi-Regierung.

1. Migration

Mit der großen Demonstration am Donnerstag, den 19. Juli, wurde zum ersten Mal in der Serie von Gipfelstürmen »gegen die Globalisierung« die Migration und die damit verbundene Ausbeutung zum Thema gemacht und dies unter großer Beteiligung von ImmigrantInnen. Durch Repression der folgenden Tage wurde die Demo am Donnerstag in den Schatten gerückt, sie war aber vielleicht das politisch Wichtigste an Genua. Etwa 50 000 Leute, darunter 5000 MigrantInnen in einem eigenen Block, demonstrierten gegen die Illegalisierung und die Ausbeutung von zugewanderten Menschen. Die Versuche des Staates, ein Zusammenkommen der Eingewanderten mit den restlichen Protestierern zu verhindern, sind fehlgeschlagen. Darin liegt die Chance, über eine diffuse »Globalisierung von unten« hinauszugehen und die reale proletarische »Globalisierung« offensiv in den Mittelpunkt zu stellen.

Für Italien hat dies eine besondere Bedeutung. Italien war jahrzehntelang ein Auswanderungsland. Die Einwanderung aus Afrika oder aus Osteuropa ist erst vor ca. zehn Jahren sichtbar geworden und war von harten rassistischen Angriffen begleitet, mit Verletzten und auch vielen Toten. Der Block von MigrantInnen in Genua zeigte einen gewissen Grad an Organisierung und ihr kämpferisches Selbstbewusstsein.

Die Frage der Migration stellt sich aber heute in allen kapitalistischen Metropolen auf gleiche Weise und wird vom Kapital in den Ländern der Europäischen Union als ein allgemeines Problem diskutiert: das Kapital braucht mehr Einwanderung von Arbeitskräften, nicht nur quantitativ, sondern als Durchmischung und Neuordnung der bisherigen Klassenverhältnisse. Zugleich sind sie aber von vornherein mit dem Selbstbewusstsein und den offensiven Forderungen der ImmigrantInnen konfrontiert, wie z.B. auch die Kämpfe der MigrantInnen in Spanien gegen das neue Einwanderungsgesetz und für massenhafte Legalisierung gezeigt haben.

Eine Woche nach Genua wurde im italienischen Parlament die illegale Einwanderung zum Verbrechen erklärt, das mit bis zu vier Jahren Knast bestraft werden kann (ähnliche Pläne gibt es jetzt in der BRD). Außerdem wurde der Aufbau weiterer Abschiebeknäste beschlossen. Die verschärfte Repression der Staaten überall in Europa gegen eigenständige Wanderungsbewegungen richtet sich nicht gegen Einwanderung überhaupt, sondern sie zielt auf die Kontrolle der MigrantInnen als Arbeitskraft für das Kapital.

2. Eine neue Bewegung in Italien

Der Großteil der Demonstranten kam aus Italien, für viele war es das erstemal, daß sie so große Demonstrationen erlebten. Die Demo am Freitag übertraf zahlenmäßig alle Demos, die es in den letzten Jahren in Italien gegeben hat. Genua vermittelte den Eindruck einer politkulturellen Bewegung - z.B. waren beim Manu-Chao-Konzert am Mittwoch abend vor der MigrantInnen-Demo viele junge Leute aus Genua. Die Massenmilitanz am Freitag war von niemandem mehr kontrollierbar, sie drückte auch ein Lebensgefühl und eine offensive Haltung aus.

Natürlich war Genua auch ein Ausdruck des breiten politischen Bündnisses von linken Partien, Gewerkschaften bis zu den Centri Sociali gegen die Berlusconi-Regierung. In Italien war Genua vor allem eine Mobilisierung gegen diese neue Regierung.

Dahinter steckt nicht nur (allerdings auch!) das politische Spiel von Parteien wie Rifondazione, sondern auch die Verschärfung des sozialen Konflikts. Anfang Juli gab es eine Reihe von Streiks in der Metallindustrie, mit großen Demonstrationen in Turin, Rom, Bologna, Florenz, Genua und einigen südlichen Städten wie Palermo. Vertreter des Genoa Social Forum sprachen auf den Demos und tausende junge ArbeiterInnen riefen »Wir gehen nach Genua!«. Ebenso waren Flughäfen durch Streiks von Fluglotsen, Piloten und Flugbegleitern betroffen. Im Herbst stehen in Italien Tarifauseinandersetzungen an, das Gesundheitswesen soll privatisiert werden, etc.. Die Auseinandersetzungen in Genua, sowohl die Entschlossenheit, mit der die Leute gegen die Bullen vorgegangen sind, als auch die verschärfte Repression lassen sich auch als Vorgeschmack zukünftiger Auseinandersetzungen verstehen.

3. Sozialer Konflikt und Krise

Dabei geht es nicht nur um Italien - und auch die Härte und Taktik des Bulleneinsatzes läßt sich nicht nur aus der italienischen Situation verstehen (siehe Punkt 4.). Hinter der Eskalation auf der Straße ging völlig unter, daß es kaum noch eine Basis für die G8-Treffen gibt. Die Weltwirtschaft rutscht in eine ihrer - vielleicht schwersten - Krisen und die versammelten Staatsoberhäupter können sich zu diesen Fragen nicht mehr einigen: weder in der Einschätzung noch in der Frage, wie sich diese Krise regulieren läßt.

Mit der Zunahme von Entlassungen und Betriebsschließungen, dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit und den überall geplanten Kürzungen von sozialstaatlichen Leistungen, verbunden mit einem massiveren Druck an den Orten der Ausbeutung, sind soziale Konflikte anderen Ausmaßes absehbar. In Frankreich wird die Entlassungspolitik von Konzernen wie Danone und Moulinex breit diskutiert und die Wut mühsam in wirkungslose Boykott-Kampagnen und Gesetzesentwürfe kanalisiert. In England kam es diese Jahr wiederholt zu Riots von Jugendlichen, denen Blairs New Labour nix mehr zu bieten hat. Auch wenn es den Gipfelstürmern selber nicht bewußt ist, ihre militante Aktion gegen die Symbole des Kapitals und seine Vertreter hat für die Herrschenden angesichts der heraufziehenden Krise und ihrer eigenen Ratlosigkeit eine bedrohliche Beispielfunktion. Darum müssen sie - und nicht nur Berlusconi - von Anfang an klarmachen, dass sie eigenmächtiges Handeln egal in welcher Situation nicht hinnehmen werden.

Nach Jahren einer zerstrittenen, paralysierten und handlungsunfähigen Linken sind die Mobilisierungen zu Seattle usw. zum erstenmal keine Eintagsfliegen mehr. Das scheint den Herrschenden nach Prag, Nizza und Davos klargeworden zu sein ...

4. Repression als Ersatz für soziale Vermittlung

In der Polizeitaktik in Genua, aber auch schon in Göteborg und Neapel, ging es ganz offensichtlich nicht darum, Randale und Sachbeschädigungen zu verhindern, sondern sie für eine gezielte Eskalation auszunutzen. Es wurden gezielt friedliche Demonstranten und eine kritische Öffentlichkeit (Journalisten, Medienaktivisten) angegriffen. Dafür wurde die Randale gebraucht und sicher werden dabei auch einige Bullen-Provokateure mitgemischt haben. Aber jetzt die Massenmilitanz daraus zu erklären, ist bereits der Vollzug der Spaltung, um die es bei dieser Bullentaktik geht (die übrigen auch anderswo in letzter Zeit angewandt wird, wie beim 1. Mai in Berlin). Die friedfertigen Teile der Globalisierungskritiker sollen soweit eingeschüchtert werden, dass sie sich in Zukunft von Demos fernhalten, jeder Form der Militanz abschwören und damit wieder zum rein repräsentativen Protest und zur Beteiligung in den vorgegebenen Bahnen der Demokratie zurückkehren.

Das für alle überraschende Ausmaß der Bullengewalt hat auch etwas mit den italienischen (und nicht »chilenischen«!) Verhältnissen zu tun. Italien hat den verhältnismäßig größten Polizeiapparat Europas. Immer wieder kam es auf Demonstrationen zu Schüssen, die Verletzte und Tote zur Folge hatten. Das alles ist nicht nur die Politik einer rechten Regierung unter Berlusconi, sondern über viele Jahre hinweg unter linken Regierungen organisiert und praktiziert worden, wie z.B. auch die Herauslösung der Carabinieri aus dem Militär und ihre Sonderrolle als der Regierung unterstellte Polizeitruppe (etwa dem deutschen BGS vergleichbar). Und natürlich wußten die prügelnden und schießenden Bullen, dass sie von oben gedeckt werden.

Die italienische Polizei hatte auch schon im März diesen Jahres bei der Demonstration gegen das »Globale Forum zu Informationstechnologien« am 17.3. brutal auf friedliche Demonstranten eingeknüppelt, die sie eingekesselt hatte - damals war noch nicht Berlusconi an der Macht. Dieses Ereignis ist hier kaum diskutiert worden; es zeigt, dass die Wende im staatlichen Vorgehen gegen die »global action days« nicht einfach auf den Machtantritt von Berlusconi zurückgeführt werden kann.

In Göteborg war es das »demokratische Schweden«, das die Bullen auf friedliche StraßentänzerInnen einprügeln und auf Demonstranten schießen ließ. Und auch in Göteborg war die Randale auf der Straße gezielt benutzt worden, um eine Eskalation herbeizuführen. Die Angriffe auf friedliche Demonstranten sind kein Versehen oder Zufall (wie es nun einige zu deuten suchen, oder wie es Vertreter der »tute bianche« unmittelbar nach der Ermordung von Carlo Giuliani den Bullen vorwarfen und sie aufforderten, zu den Camps des »schwarzen Blocks« zu gehen), sondern markieren die Tendenz zum kapitalistischen Krisenstaat.

In dem Maße, in dem sozialstaatliche Vermittlungsformen wegfallen oder ihre Wirksamkeit verlieren, bleibt dem Staat nichts anderes übrig als zur Repression gegen jede selbständige Bewegung überzugehen - im von Rechten regierten Italien ebenso wie im sozialdemokratischen Schweden und in der rot-grün regierten Bundesrepublik Deutschland. Die Angriffe der Bullen auf Demonstranten in Göteborg und in Genua galten nicht allein den unmittelbar Angegriffenen, sondern allen, die genug Gründe hätten, ihre Bedürfnisse gegen das Kapital militant und kollektiv durchzusetzen. Hier sollten präventiv die Grenzen von Bewegung abgesteckt werden, da in der Krise andere Vermittlungsformen immer weniger greifen. Trotzdem werden sie auch weiterhin die Repression mit Angeboten an die sogenannte »Zivilgesellschaft« verknüpfen, sich an Krisenregulierung zu beteiligen - nicht nur, um die Bewegung zu spalten und zu befrieden, sondern auch, weil sie dieses kritische Regulierungs- und Vermittlungspotential tatsächlich brauchen (besonders grüne Spitzenpolitiker haben sich sofort nach Genua in diese Richtung geäußert).

5. Ende des Event-Hopping: Neue Qualität und Bruchpunkte

Nach Genua war die Diskussion von der Repression beherrscht, die alles andere (wie z.B. die Mobilisierung der Migranten) überlagert. Die Schwäche der »Bewegung« liegt darin, dass sie vorwiegend völlig selbstbezogen über die Repression gegen die Linke diskutiert, obwohl der Staat die Gewalt immer als soziale Gewalt versteht - d.h. als eine Gewalt, die als Rahmenbedingung für eine antagonistische Klassengesellschaft unerläßlich ist. Im Politikverständnis vieler Linker existiert Bewegung nur als ihre eigene Aktivität, weshalb sie den Staat nur im Gegensatz zu sich selbst aber nicht als den notwendigen Rahmen einer auf sozialer Gewalt - Ausbeutung und Armut - beruhenden Gesellschaftsordnung begreifen.

Reflexartig wird auf den Schock der Bullengewalt in Genua oftmals mit Appellen an Rechtstaatlichkeit und Demokratie der Schutz der in den letzten Jahren viel beschworenen »Zivilgesellschaft« gesucht. Hier zeigt die Eskalations- und Spaltungspolitik des Staates Wirkung: aus der instinktiv richtigen Reaktion, »nach Genua« gemeinsame Ziele der Bewegung zu betonen, wird die Frage nach der Perspektive fast nur noch über die Repression- und/oder Gewaltfrage gestellt. Das fällt nicht nur hinter die Diskussionen »vor Genua« zurück, sondern übersieht auch die tatsächlich neuen Entwicklungen: Das wichtige Neue an Genua war, dass jenseits dieser in den letzten Jahren beschworenen »Zivilgesellschaft« in der Mobilisierung Aspekte der sozialen Gegensätzlichkeit dieser Gesellschaft auftauchten und in sie einflossen. Im Zusammenhang von Gipfelstürmen mit ihrem notwendig symbolischen Charakter geraten wirkliche Kämpfe in den Blick, über die die Linke bisher nur abstrakt diskutiert hat. Jetzt hätte sie die Gelegenheit, sich praktisch auf sie zu beziehen.

Editoriale Anmerkung:  Der Text wurde von
http://www.wildcat-www.de/aktuell/a005genu.htm
gespiegelt.