Wenn Avneri anklagt, wird Deutschland exkulpiert
Viele Deutsche nutzen Israels politische Linke, um sich vom eigenen historischen Schuldgefühl freizumachen.
09/02
 

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Wie Israel sich zu den Drohungen des ‘Gush Shalom´ stellt, israelische Armeeoffiziere und -soldaten vor den Gerichtshof in Den Haag zu bringen, wird als innerisraelische Angelegenheit betrachtet. Man macht sich in Israel aber nicht klar, dass eine weiteres Hauptbetätigungsfeld des ‘Gush Shalom´ Deutschland ist und dass man heute in Deutschland oder Österreich, ob in den Printmedien, im Radio oder Fernsehen, überall Uri Avneris Gesicht sieht - ob über ihn geschrieben oder ob er interviewt wird, ob er berichtet, diskutiert oder kommentiert. Avneri spielt zur Zeit in Deutschland die Rolle, die antisemitische Gesellschaften häufig Juden zuweisen, die sich bereit erklären, mit ihnen zu kooperieren. Als Jude darf er Israel mit einer Schärfe und Krassheit kritisieren, die kein Deutscher sich anmaßen würde. Dadurch legitimisiert er antisemitische Ansichten. Und was sind das für Ansichten?

Rollentausch

Seit dem Holocaust versucht Deutschland, den Makel der Schuld zu tilgen, die ihm anhängt, und parallel zu dem deutschen Streben nicht nur nach der wirtschaftlichen, sondern auch nach der militärischen und politischen Hegemonie in Europa bemühte Deutschland sich auch, die Bürde seiner Schuld abzuschütteln. Nachdem man in diesem Land den Versuch aufgegeben hat, den Holocaust zu leugnen, ihn in Vergessenheit geraten zu lassen und ‘einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen,´ machte sich die Bundesrepublik in den letzten zehn Jahren eine ideologische und politische Strategie zu eigenen, durch einen Rollentausch zwischen Tätern und Opfern bewirken soll: auf der einen Seite durch die Dämonisierung der NS-Opfer, auf der anderen Seite durch die Glorifizierung des Leidens der deutschen Mörder und ihre Darstellung als unschuldige Opfer. Diese Strategie, die von der Presse, der Literatur und auch von staatlichen Einrichtungen in Deutschland betrieben wird, zielt auf Serben, Tschechen, Polen, Russen, doch vor allem auf Juden ab, die NS-Opfer par excellence. Die Deutschen beschäftigen sich gegenwärtig höchste intensiv mit der Nachkriegsvertreibung der Deutschen aus Osteuropa und planen auch ein Museum in Berlin, das diesem Thema gewidmet ist, in der unverhüllten Absicht, die Vertreibung der Deutschen als Parallele zum Holocaust hinzustellen und die eigenen Verbrechen an den Juden und den osteuropäischen Völkern zu minimalisieren. Die Völker, die im Zweiten Weltkrieg dem Nazismus zum Opfer fielen, werden nicht als Opfer, sondern als Feinde hingestellt, die die Deutschen aus ihren Ländern vertreiben wollten. So schafft man nicht nur eine Analogie zwischen Stalin und Hitler, sondern auch zwischen Hitler und Leuten wie Eduard Benes, dem Präsidenten der Tschechoslowakei vor ihrer Annexion durch das Dritte Reich und nach dem Krieg. Es gibt auch einige respektable Deutsche, die Ariel Sharon mit Hitler verglichen haben, darunter »Spiegel«-Herausgeber Rudolf Augstein, der in seiner Jugend Unteroffizier in der Wehrmacht war.

Juden und Amerikaner vors Kriegsgericht

Doch die Krönung dieser Bestrebungen ist der Versuch, die Juden so hinzustellen, als seien sie keinen Deut besser als ihre Nazimörder. Das eifrigste Bestreben Deutschlands geht dahin, den Juden einen Neuauflage der Nürnberger Prozesse zu machen und sie genau so als Kriegsverbrecher anzuklagen wie die Nazis, die in Nürnberg verurteilt waren.

Nicht weniger intensiv ist der Wunsch der Deutschen, die Amerikaner, die die Nürnberger Prozesse abgehalten haben, als Kriegsverbrecher zu verteilen. Anstatt ihre Verantwortung für den Holocaust anzuerkennen, reden die Deutschen sich lieber ein, dass es keinen Unterschied zwischen den Nazis und ihren Opfern und den Völkern, die gegen sie kämpften, gebe. Bis jetzt haben die Deutschen sich damit begnügt, intern der Meinung Ausdruck zu geben, dass ‘die Juden den Palästinensern genau das antun, was die Nazis den Juden angetan haben´. Äußerungen dieser Art sind heute in Deutschland, vor allem in der Jugend, sehr üblich. Doch erst wenn die Juden und die Amerikaner vor dem Internationalen Gerichtshof als Kriegsverbrecher angeklagt werden und eine absolute Analogie zwischen ihnen und den Verbrechern von Nürnberg hergestellt wird, werden die Deutschen zufrieden sein. Dann können sie behaupten, die Nazis seien nicht schlimmer gewesen als die Juden oder die amerikanischen Sieger.

Weil die Deutschen es nicht wagen, diesen Bestrebungen offen Ausdruck zu verleihen, um nicht als Antisemiten gebrandmarkt zu werden, lassen sie Uri Avneri bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit für sie sprechen, damit der das sagt, was die Deutschen gern sagen und hören würden: Die Juden sind Kriegsverbrecher, und sie müssen in Den Haag vor Gericht gestellt werden. Wenn Israel IDF-Soldaten- und -Offiziere wegen ihrer Vergehen vor Gericht stellt, so nimmt es dadurch den Deutschen die Möglichkeit, Juden und die Nazis gleichzustellen - diese Prozesse laufen dem deutschen Bestreben zuwider, alle Israelis und nicht nur einige seiner Soldaten als Verbrecher anzuklagen, die den Nazis in nichts nachstehen.

Editorische Anmerkungen:

Von Anat Peri, Historikerin. Haaretz, 13.8.02, gespiegelt von
http://www.henryk-broder.de/html/fr_peri.html