Über Intoleranz und den alltäglichen Rassismus (TEIL I)

von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen, August 2002.
09/02
 

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Immer reden wir über Intoleranz, weil es schicklich ist, ein  solch grosses Wort im Alltag zu benutzen, weil es aktuell ist, darüber zu reden, und weil sie weitgehend den Charakter  vieler Menschen zu bestimmen scheint. Wir reden über sie, so wie man gemeinhin z. B. über Fundamentalismus, Traditionalismus, Integralismus, Konservatismus, Rassismus oder Nationalismus redet, nur mit dem Unterschied, dass die Intoleranz bei genauerem Hinsehen viel tiefer geht und noch gefährlicher ist.

Es gibt kaum eine Sitte, eine Verhaltensbereitschaft, eine Vorschrift im Sozialisationsprozess, die sich nicht in fehlgeleiteten Meinungen niederschlägt.  Beobachtbar ist, dass sich die Menschen in der Moderne den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen ohne zu Zögern anpassen, und dass der Druck der ökonomischen Zwänge eine allseitige Feindseligkeit auf deren individuelles Verhalten hervorgerufen hat. Gemeinhin wird diese Verhaltensweise intolerant genannt.

Was ist aber nun Intoleranz?

Wo lässt sich deren Ort zwischen Fundamentalismus, Traditionalismus, Integralismus, Konservatismus, Rassismus oder Nationalismus bestimmen? So gibt es Formen nichtrassistischer Intoleranz, die Intoleranz gegenüber Gläubigen oder die Intoleranz von Diktaturen gegenüber politisch Oppositionellen. Diese Beispiele demonstrieren, dass es sich bei ihr um etwas viel Ursprünglicheres handelt, das sich an der Wurzel von höchst unterschiedlichen Phänomenen befindet.

Im Kontrast dazu sind Fundamentalismus, Traditionalismus, Integralismus Konservatismus oder Rassismus theoretische oder Ideologische Positionen, die in gewisser Weise eine Lehre voraussetzen. Die Intoleranz befindet sich jenseits dieser Lehren. Man könnte sagen, dass sie sogar deshalb biologische Wurzeln hat. Sie zeigt sich etwa im Tierreich im Kampf um Territorien. Sie gründet sich auf gefühlsmässige, häufig oberflächliche - und deshalb gerade so gefährliche Reaktionen.

Man mag in Deutschland den Andersartigen nicht, weil jemand eine andere Hautfarbe hat, weil er eine Sprache spricht, die wir nicht verstehen, weil er Speisen zu sich nimmt, die unsere Abneigung hervorrufen und /oder weil er sich tätowieren lässt, lesbisch oder schwul ist. Die Intoleranz gegenüber dem Andersartigen ist beim Kind als Instinkt angelegt, sich das anzueignen, was man liebt. Die Toleranz dagegen ist nicht angeboren. Zur Toleranz muss man erzogen werden, und zwar ein Leben lang, zumal wir ständig der Boshaftigkeit des Andersartigen ausgesetzt sind. Ein warnendes Beispiel dürfte für alle Zeiten die bürgerliche Familie sein, die nicht nur Hort der Unterdrückung ist, sondern in der sich die ständig wiederholenden intoleranten Katastrophen im Umgang mit Kindern und Partnern zeigen. Sozialforscher beschäftigen sich gewöhnlich mit den Doktrinen der Andersartigkeit, aber sie beschäftigen sich nicht genug und ausführlich mit der primitiven, der alltäglichen, immerfortwährenden, in uns vorhandenen Intoleranz, die uns täglich begegnet, überall präsent ist und mit Macht unser gesellschaftliches Leben zu durchdringen scheint. Immer bringt die Andersartigkeit auch Formen der alltäglichen Intoleranz hervor. Und der Bodensatz diffuser Intoleranz wird für Doktrinen verwandt. Die Hexenjagden, das Verbrennen auf Scheiterhaufen, das Teeren und Federn, sind keine Phänomene dunkler mittelalterlicher Epochen, sondern im übertragenen Sinne zu beobachtende Realitäten in der Moderne. Erklärungen, warum die moderne Welt theoretische Begründungen für Hexenjagden gefunden hat, gibt es vermutlich viele. Beschränken wir uns darauf, daran zu erinnern, das dass Durchsetzungs- vermögen dieser Lehre auch darauf basieren konnte, weil es bereits volkstümliche Abneigungen gegenüber Hexen gegeben hatte, die sich bis in die Antike über das langobardische ' 'Edictum Rothari' (1) und die 'Summa' des Thomas von Aquin' (2) zurückverfolgen lässt.

Ähnlich verhält es sich mit dem sog. 'wissenschaftlichen Antisemitismus', der im 19. Jahrhundert aufkam und der im 20. Jahrhundert in eine totalitäre Anthropologie und schließlich in den industriellen Völkermord einmündete. Die Erfindung dieses massenmörderischen 'bösartigen eliminatori- schen Antisemitismus' wie D. Goldhagen (3) formuliert hat, wäre aber nicht denkbar ohne die antijüdische Polemik der Kirchen- väter, (4) oder die Jahrhundertalte Tradition des 'volkstümlichen Antisemitismus', der überall dort vorherrschte, wo es Ghettos gab. Die antijakobinischen Theorien, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem 'jüdischen Komplott' raunten, beuteten insofern nur einen Hass aus, der bereits vorhanden war.

Die gefährlichste, weil gedanklich verdrängte, ist immer die, die ohne Lehre aus elementaren Impulsen entsteht. Deshalb kann sie auch so schwer ausgemacht werden und ihr ist kaum mit rationalen Argumenten zu begegnen. Der theoretisch verbrämte Rassismus von Hitlers 'Mein Kampf' kann mit einer Reihe einfacher Einwände widerlegt werden. Wenn er dennoch überdauert hat und unbeschadet aller Einwände und Erfahrungen weiter lebt, dann deshalb, weil er sich auf eine in uns stetig vorhandene Übertragung von einer Generation zur anderen stützen kann, die sich jeder Kritik zu entziehen vermag.

Die alltägliche Intoleranz, die beobachtbare, die unter uns umgeht, Tag für Tag an Boden gewinnt, ist deshalb so gefährlich, weil sie sich einer Reihe von Kurzschlüssen bedient, die einem künftigen Rassismus oder extremen Nationalismus Nahrung geben könnten. Die Debatten um politisch Verfolgte oder Asylanten in Deutschland erinnern sicher auch an bekannte Formen der Gängelung der Andersartigkeit durch den nationalsozialistischen Totalitarismus, wenn auch ein Staat, der diese Frage mit antidemokratischen Bestrebungen versucht zu lösen, nicht automatisch rassistisch ist. Wenn von den politischen Verfolgten, die aufgenommen werden, oder den Asylanten, die abgeschoben werden, einige Kriminelle oder Prostituierte darunter sind, sind deshalb alle politisch Verfolgten oder abgeschobene Asylanten potentielle Kriminelle oder Prostituierte?

Es handelt sich dabei um einen dermassen groben Kurzschluss,  der um so schrecklicher zu beobachten ist, weil wir alle nicht vor ihm gefeit sind.  Es genügt doch, dass einem die Brieftasche in einem Land, in dem wir gerade Urlaub machen, geklaut wird, und schon wird behauptet, dass man seinen Bewohnern nicht trauen könnte. Es reicht immer noch aus, dass Messerstechereien Türken, Albanern, Polen oder sonst wem angelastet werden. Und noch immer begegnen wir der kulturellen Andersartigkeit mit Häme, Spott, Unverständnis, Chauvinismus und Abkehr. Und das im säkularisierten Abendland, wo man anscheinend in den letzten 2000 Jahren die 'Ruhe des Tempels' mit dem Hass auf die Fremdheit verteidigt hat.

Eine der schlimmsten Formen der alltäglichen Intoleranz, ist die  des Wegsehens und die des direkt Beobachtbaren. Vergewaltigungen in S-Bahnen, brutale, rassistische Überfälle auf Ausländerheime, in Bussen, Übergriffe auf Alte und Schwache, Schlägereien wegen Nichtigkeiten, Raub und Mord vor unser aller Augen- bei all dem bleiben wir auffallend passiv. Wir zeigen scheinbar keinerlei Gefühle. Wir greifen nicht ein, niemand ist bereit zu helfen. Zivilcourage ist ein Fremdwort geworden. Und erst dann, wenn Katastrophen, die an den Grundfesten des menschlichen Lebens rütteln (etwa Flutwelle und Elbe-Hochwasser im Osten der Republik) offensichtlich machen, dass jeder davon getroffen sein kann, gibt es Hilfsbereitschaft und Nachdenklichkeit. Doch das reicht nicht! Jede Einmischung bei Pogromen und fortschreitender Irrationalität erscheint weiterhin unangebracht. Und offene Gewalttaten veranlassen niemanden dazu, einzugreifen. Wie kalt muss eine Gesellschaft geworden sein, die derartige Verwilderungen ignorieren kann?  Ist es nur Unsicherheit über das Ereignis, das zum Wegschauen  animiert, oder tatsächlich der Verfall der Moralität, der die Gesellschaft schon wie ein krankes Geschwür umgibt? Je unsicherer eine Lage wird, in der unmittelbares Eingreifen notwendig wäre, desto unwahrscheinlicher die Hilfe. Leider ist unser Denkvermögen in einer solchen (oder ähnlichen!) Situation bereits soweit erodiert, dass selbst da, wo es offensichtlich ist, dass Menschen misshandeln, gequält und/oder gedemütigt werden, sie verschie- denster anderer Gefahren ausgesetzt sind- jegliche Hilfestellung unterbleibt. Das kommt dem Wunsch sehr entgegen: es möge bitte keine Gewalttat sein, die zum entschiedenen Handeln zwingt. Und sie verführt (leider!) dazu, sich auf andere zu verlassen. Am Ende liegt der Hilflose (es handelt sich ja nur um einen Betrunkenen!) in seinem Blut auf der Straße und niemand greift ein.

Anmerkungen

(1) Edictum Rothari (von 643): Es handelt sich hierbei um  die Aufzeichnung langobardischer Stammesrechtsgewohnheiten.

(2) Thomas von Aquin (1224-1274): Einer der Hauptvertreter der Scholastik. Seine'Summa theologiae'  (ca. 1266-1273) blieb unvollendet.

(3) Vgl. Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

(4) Grob eingeteilt unterscheidet man die 'Griechischen Kirchenväter' (etwa beginnend mit Justin (gest. ca. 167 n. Chr.  und endend mit Kyrill von Alexandrien (gest. ca. 444 n. Chr.) und die Lateinischen Kirchenväter (etwa beginnend mit Tertullian (ca. 200 n. Chr. und endend mit Boethius (gest. ca. 524 n. Chr.)

Editorische Anmerkung:

Der Autor schickte uns seinen Artikel im August 2002 mit der Bitte um Veröffentlichung. In der letzten Ausgabe schrieb er über Hollywood und der Krieg.

Dietmar Kesten schrieb früher regelmäßig für den trend und Partisan.net. Hier eine Auswahl aus seinen bisherigen Veröffentlichungen:

ASPEKTE DER ENDZEITLICHEN KRISENPHILOSOPHIE

Das "Bündnis für Arbeit"
Eine auf dem Kopf stehende Pyramide

Kommentare & Exkurse zum Kosovo-Krieg 1999