Zur Entstehung und Wirkung von Engels "Anti-Dühring"
 

von Karl Müller
09/04

trend

onlinezeitung

0) Vorbemerkung

Dieses Referat beschränkt sich auf eine skizzenhafte Darstellung des Zustandes der deutschen Arbeiterbewegung in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, die den gesellschaftspolitischen Bezugsrahmen für das Entstehen der Engelschen Schrift bildete.
Es ist nicht beansprucht, diesen Rahmen umfassend untersucht zu haben, und insofern sind die nachfolgenden Thesen rein deskriptiv.

Sie unterliegen folgender Gliederung:

I) Die SPD zur Zeit des Gothaer Vereinigungsparteitages 1875
II) Zur Person und Bedeutung Eugen Dührings
III) Die Arbeit der "Alten" am "Anti-Dühring"
IV) Die Aufnahme des "Anti-Dühring" in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung
 

I)
Der auf dem Vereinigungsparteitag in Gotha 1875 zum Vorsitzenden der Parteikontrollkommisssion gewählte August Bebel schrieb nach dem Parteitag an Engels: "Mit dem Urteil, das Sie über die Programmvorlage fällten, stimme ich,...,vollkommen überein...aber nachdem das Malheur geschehen war, galt es, sich so gut als möglich herauszuziehen." (l) Mit diesem Urteil war nichts anderes gemeint, als Engels Brief vom 18.3.1875, in dem dieser ankündigte, nachdem er die Lassalleanischen Positionen einer vernichtenden Kritik unterzogen hatte: "Es ist derart, daß, falls es angenommen wird, Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errrichteten neuen Partei bekennen und uns sehr ernstlich werden überlegen müssen, welche Stellung wir - auch öffentlich - ihr gegenüber einzunehmen haben." (2)

Die Marxschen "Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei" (MEW 19, S.11-32) verfaßt im Frühjahr 1875, übersandt an Bracke am 5.5.1875 wurden von den Führern der deutschen Sozialdemokratie bis 1891 der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht. In dem an Bracke gerichte­ten Begleitschreiben, vor dem Vereinigungsopportunismus dringend war­nend, schrieb Marx: "Die Chefs der Lassalleaner kamen, weil die Verhältnisse sie dazu zwangen. Hätte man ihnen von vornherein erklärt, man lasse sich auf keinen Prinzipienschacher ein, so hätten sie sich mit einem Aktionsprogramm oder Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Ak­tion begnügen müssen." (3)

Stattdessen formulierte der Gothaer Parteitag, weil beide Flügel es so wollten, ein "Prinzipienprogramm" und dies im Bewußtsein aller Beteiligten einen Kompromiß geschlossen zu haben. Bebel vermerkt dazu: "Man sieht, es war kein leichtes Stück, mit den beiden Alten in London sich zu verständigen. Was bei uns kluge Berech­nung, geschickte Taktik war, das sahen sie als Schwäche und unverant­wortliche Nachgiebigkeit an, schließlich war doch die Tatsache der Einigung die Hauptsache."(4)

Der Gothaer Parteitag war tasächlich aber ein Sieg der Lassalleaner, welcher im ideologischen Bereich am deutlichsten durch die Aufnahme des "ehernen Lohngesetzes" ins Programm und im organisatorischen durch die Mehrheit der Lassalleaner im Parteivorstand augenfällig wird. Dieser prinzipienlose Kompromiß sollte einer der Voraussetzungen werden, daß ideologische Positionen wie die eines Herrn Eugen Dühring nicht nur in der Partei der Arbeiterklasse vertreten werden konnten, sondern auch relativ breite Zustimmung fanden.
Zunächst wurde jedoch diese eigentliche Schwächung des revolutionär­marxistischen Flügels der Arbeiterbewegung durch den Kompromiß von Gotha überdeckt durch den quantitativen Aufschwung den die "neue" Partei nahm. So erhöhte sich die Zahl der Mitglieder von etwa 25 000 im Jahre 1875 innerhalb von zwei Jahren auf 40 000. Ab Oktober 1876 verfügte die Partei neben ihrem von da an erscheinenden Zentralorgan "Vorwärts" über 41 lokale Zeitungen mit rund 100 000 Abonnenten. In den Reichstagswahlen im Januar 1877 erhielt die SPD 493 447 Stimmen = 9 % . (5)

Franz Mehring, Zeitgenosse und Parteihistoriker, schätzte den damaligen Zustand der deutschen Sozialdemokratie folgendermaßen ein: "Jedoch die Rüstung der deutschen Sozialdemokratie hatte noch eine große Lücke: ihre Praxis war ihrer Theorie weit vorausgeeilt, und für die schweren Kämpfe der nächsten Zukunft brauchte sie die Theorie ebenso notwendig wie die Praxis." (6) Daraus ergab sich seiner Auffassung nach: "Verkannte Erfin­der und Reformer, Impfgegner, Naturheilärzte und ähnliche schrullenhafte Genies suchten in den arbeitenden Klassen, die sich so mächtig regten, die ihnen sonst versagte Anerkennung zu finden." (7)

Anmerkungen zu I)
1) Bebel, August, Aus meinem Leben, Berlin 1980, S, 432
2) MEW 34, Berlin 1973, S. 129
3) MEW 19, Berlin 1973, S. 14
4) Bebel, August, ebenda, S. 435
5) vgl. Geschichte der dt.Arbeiterbewegung, Hrg.: Zk d.SED, Berlin 1966, Bd. l, S.346
6) Mehring, Franz, Geschichte der dt.Sozialdemokratie, Berlin 1960, Bd. 2, S. 474
7) Mehring, Franz, ebenda, S. 479

II)

Eugen Dühring war einer, dieser von F.Mehring beschriebenen Persönlich­keiten. 1833 als Beamtenkind zu Berlin geboren, in Waisenhäusern auf ge­wachsen, studierte er Jura und war 1856 - 1859 Referendar am Kammerge­richt Berlin. Infolge eines Augenleidens, an dem er bald erblindete, wandte er sich dem Studium der Philosophie und Nationalökonomie zu, das er 1864 mit der Habilitation abschloß. Im selben Jahre wurde er als Privatdozent für diese Fächer an die Berliner Universität berufen. Dort entwickelte er die Vorstellung, im Besitze bahnbrechender Erkenntnisse auf allen möglichen Gebieten der Wissenschaft zu sein. Ob er sich in den darauffolgenden 10 Jahren zu Fragen der politischen Ökonomie, der Philo­sophie, der Mechanik oder "Über den Weg zur höhern Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten " äußerte oder ob er "neue Grundgesetze zur rationellen Physik und Chemie" entdeckte, immer war er in genialer Weise auf der Höhe der Zeit. Durch diese Genialität beflü­gelt, krakeelte er mit dem gesamten Berliner Universitätsklüngel herum, so daß er - während Engels erste Aufsätze im "Vorwärts" im Januar 1877 erschienen - Berufsverbot erhielt. Dies steigerte ungemein sein Ansehen in der Berliner Parteiorganisation, insbesondere bei anarchistischen Mitgliedern wie J.Most oder dem späteren Revisionisten E.Bernstein. Jedoch auch Bebel entwickelte zeitweilig große Sympathien für den "Kom­munistischen Professor", nachdem er 1874 (!) Dührings Bücher zum rezen­sieren von Bernstein in seiner Festunghaft erhalten hatte, (l) Dührings sozialdemokratische Anhänger entfachten nun eine regelrechte Studenten­bewegung gegen dieses Berufsverbot, die ihrerseits Dühring Beweis genug für seine unfehlbare Autorität waren. Der Einfluß der Dühringianer in der SPD war mittlerweile derartig angewachsen, daß einer ihrer Sprecher A. Enß öffentlich den Marxismus als autoritären Sozialismus diffamierte und Dühring als Repräsentanten eines "antiautoritären freiheitlichen Sozialismus" feierte.(2) Auf dem Gothaer Parteikongreß 1877 stellte J. Most den Antrag, daß Engels Aufsätze nicht mehr im Zentralorgan erschei­nen sollten. (3) Der Lassalleaner Vahlteich bezeichnete in dieser Debatte Engels Kritik als Geschmacksverirrung, die den "Vorwärts" ungenießbar mache.(4) Bebel gelang es jedoch, diesen Antrag mit einem Kompromiß zu umgehen, indem fortan der Engeische "Anti-Dühring" als wissenschaftliche Beilage veröffentlicht wurde.(5)

Engels bewertete diese Vorgänge in einem Brief an W. Liebknecht zwei Monate nach diesem Parteikongreß folgendermaßen: "Und da herrscht jetzt die Halbbildung und der sich zum Literaten aufblähende Ex-Arbeiter (gemeint ist J.Most - d.Verf.) vor. Wenn diese Leute nur eine winzige Minderheit ausmachen, wie Du sagst, so müßt ihr doch offenbar nur deswegen Rücksicht auf sie nehmen, weil jeder von ihnen einen Anhang hat. Der moralische und intellektuelle Verfall der Partei datiert von der Eini­gung und war zu vermeiden, wenn man damals ein wenig mehr Zurückhaltung und Verstand bewiesen hätte." (6)

Eugen Dühring verschwand so schnell aus den Reihen der Sozialdemokratie, wie er in sie hineingestiegen war. Dieser Ausstieg war sicherlich durch den Umstand begünstigt, daß ab 1878 die SPD mittels der Sozialistengesetze in die Illegalität gedrängt worden war.

Anfang der 80er Jahre tauchte Dühring am äußersten rechten Flügel wieder auf, nachdem Ende der 70er Jahre vermittelt durch eine zweijährige amtisemitische Artikelserie in der "Gartenlaube" eine relativ starke präfaschistische Strömung im Deutschen Reich sichtbar geworden war. (7) Mit seiner 1881 erschienen Schrift "Die Judenfrage als Rassen-, Sitten-und Kulturfrage" versuchte er den rassisch begründeten Antisemitismus philosophisch, biologisch und geschichtlich zu untermauern. In seinem Traktat erwägt er bereits im Vorgriff auf den Hitlerfaschismus den Massenmord am jüdischen Volk als konsequenteste Methode: " Die Juden ...sind ein inneres Carthago, dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zerstörung ihrer sittlichen und materiellen Grundlagen zu erleiden." (8)

Diesem Buch folgten bis zu seinem Tode 1921 eine Unzahl von Veröffentlichungen selbiger Machart.

Anmerkungen zu II)
1) siehe dazu: Bebel, August, ebenda, S. 475
2) vgl.: 100 Jahre "Anti-Dühring",Hrg. Kirchhoff, Oiserman, Berlin 1978, S. 405
3) siehe ebenda, S. 406
4) siehe Mehring, Franz, ebenda, S. 483
5) siehe Osterroth, Schuster, Chronik der deutschen Sozialdemokratie, Hannover 1963, S. 52
6) MEW 34, ebenda, S. 285
7) siehe: Die Zerstörung der deutschen Politik, Dokumente 1871-1933, Hrg.: Pross, Harry, Ffm 1959, S. 235
8) zitiert nach: Grebing, Helga, Der Nationalsozialismus, München 1959 S. 14

III)

Nachdem Engels 1869 als Teilhaber aus der Leitung der Fabrik unter der Bedingung ausscheiden konnte, daß sein und Marxens Lebensunterhalt sichergestellt war, übersiedelte er im September 1870 nach England. Dort nahm er unverzüglich die Arbeit im Generalrat der I.Internationale auf. Dadurch konnte sich Marx weitgehend daraus zurückziehen, denn sein Hauptziel war nun der Versuch, seine Arbeit am Kapital zu vollenden.

Als Engels diese Tätigkeit aufnahm, war eine Zeit großer prinzipieller und taktischer Streitigkeiten angebrochen. So hatte Bakunin ab 1868 begonnen, innerhalb der I.Internationale eine Geheimorganisation - die Allianz der sozialen Demokratie - aufzubauen. In der deutschen Sozialdemokratie grassierte der Vereinigungsopportunismus mit den Lassalleanern.

Engels erachtete deshalb die Verteidigung und Verbreitung des wissen­schaftlichen Sozialismus als eine seiner Hauptaufgaben, um der revolutionären Politik der nationalen Arbeiterparteien theoretische Fundamente einzuverleiben. So verfaßt er 1872/73 eine umfangreiche Schrift zur Wohnungsfrage, um den wiederauflebenden Proudhonschen Vorstellungen in der deutschen Arbeiterbewegung "sofort entgegenzutreten", (l) Er versieht 1874 seine alte Arbeit über den Bauernkrieg mit einem neuen, aktuellen Vorwort, in dem die Bedeutung der Theorie für die politische Praxis klar umrissen wird: "Zum erstenmal, seit eine Arbeiterbewegung besteht, wird der Kampf nach drei Seiten hin - nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen (Widerstand gegen die Kapitalisten) - im Einklang und im Zusammenhang und planmäßig geführt ....Es wird namentlich die Pflicht der Führer sein, sich über alle theoretischen Fragen mehr und mehr aufzuklären, sich mehr und mehr von dem Einfluß überkommener, der alten Weltanschauung angehöriger Phrasen zu befreien und stets im Auge zu behalten, daß der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, dh. studiert werden will." (2)

Diesem öffentlich propagierten Anspruch entspricht Engels selber, indem er - erkennend, daß auf dem Gebiet der Naturwissenschaften eine Unzahl neuer Erkenntnisse vorliegen - beginnt diese auf dialektisch-materialistischer Grundlage zu studieren. Im Sommer 1874 weisen Marx und Engels in Briefen an Liebknecht, Blos und Hepner auf die Gefahr der "Dühringerei" hin.(3) Hierin zeigte sich, daß die "Alten" bereits in einem frühen Stadium eine richtige Prognose über zukünftige Entwicklungen abgaben. Andererseits glaubten sie aber, daß diese "Führer" in der Lage wären, aus eigener Kraft den wissenschaftlichen Sozialismus gegen derartige ideologische Angriffe zu verteidigen. Deshalb unterbrach auch Engels nicht seine Arbeiten auf dem Gebiet der Naturwissenschaften.

Liebknecht, der Dührings "Größenwahn" und "Neid auf Marx" Weihnachten 1874 in dessen Vorlesung erlebt hatte, schrieb, gleichsam aus Hilflosig­keit, ideologische Dämme gegen die "Dühringseuche" aufbauen zu können, im April 1875 an Engels: "Du wirst Dich entschließen müssen, dem Dühring aufs Fell zu steigen." (4)

Doch Engels wollte erst, wie seinem Vorwort zur I.Auflage 1878 des "Anti-Dühring" zu entnehmen ist, seine Arbeiten zur "Dialektik der Natur" abschließen, bevor er in den "sauren Apfel" der Dühringseuche biß. (5) Als Marx ihn im Mai 1876 schließ drängt gegen die Dühringsche "Verflachungspropaganda" mit rücksichtsloser Kritik vorzugehen (6), ent­schließt Engels sich, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wenige Tage später antwortet er Marx: "Mein Plan ist fertig - j'ai mon plan. Anfangs geh ich rein sachlich und scheinbar ernsthaft auf den Kram ein, und die Behandlung verschärft sich in dem Maß, wie der Nachweis des Unsinns auf der einen Seite, der Gemeinplätzlichkeit auf der anderen sich häuft, und zuletzt regnet's dann hageldick..."(7)

Im September 1876 schloß Engels seine Vorarbeiten ab und am 3.1.1877 begann der "Vorwärts" mit dem Abdruck in Form einer Artikelserie. Wie dem zweiten Vorwort von 1885 zu entnehmen ist, schlug die Polemik um in eine "mehr oder minder zusammenhängende Darstellung der von Marx und mir vertretnen dialektischen Methode und kommunistischen Weltanschauung, und dies auf einer ziemlich umfassenden Reihe von Gebieten." (8)

Aus dem Anspruch die Kritik in eine positive Darstellung der eigenen gemeinsamen Position zu wenden, ergab sich folglicherweise eine enge Zusammenarbeit bei der Abfassung des "Anti-Dühring". Dies belegen in anschaulicher Weise die Korrespondenzen, die beide miteinander dazu führten, (siehe dazu MEW 34) Engels selber verweist ausdrücklich im 2.Vorwort, wie sich diese Zusammenarbeit inhaltlich gestaltete: "Ich habe ihm das ganze Manuskript vor dem Druck vorgelesen, und das zehnte Kapitel des Abschnitts über Ökonomie ("Aus der 'Kritischen Geschichte'") ist von Marx geschrieben und mußte nur, äußerlicher Rücksichten halber, von mir leider etwas verkürzt werden. Es war eben von jeher Brauch, uns in Spezialfächern gegenseitig auszuhelfen." (9)

Dühring allein mit der Methode der Polemik zu schlagen ward aufgegeben, unübersehbar war durch den breiten Einfluß, den die "Dühringseuche" in der deutschen Arbeiterbewegung erlangt hatte, die Notwendigkeit gewor­den, eine umfassende Darstellung der weltanschaulichen Grundlagen des Marxismus und seiner historischen Bedingtheit zu verfertigen. Folglich besteht die Einleitung zum "Anti-Dühring" auch aus einem knappen ideen­geschichtlichen Abriß. Engels schildert zunächst, wie der vormarsche Sozialismus als direkte Fortsetzung der Ideen der frz. Aufklärer erscheint und seinerseits nichts anderes war als das Produkt einer in Klassengesätze zerrissenen Gesellschaft(S.16). Die Bourgeoisie war als Befreier der ganzen Menschheit angetreten und hatte so in der frz.Revolution große Teile der Besitzlosen mitgerissen (S.16). Doch ihr "Reich der Vernunft" war weiter nichts als "das idealisierte Reich der Bourgeoisie"(S.17). An diesem Punkt traten die utopischen Sozialisten auf, die Pläne im Zeichen der Vernunft zur Überwindung der Klassengesell­schaft entwarfen. (S. 18) Neben dieser Entwicklungslinie war die neuere deutsche Philosophie herangereift, die mit Hegel ihren Abschluß gefunden hatte (S. 19). "Ihr größtes Verdienst war die Wiederaufnahme der Dialektik als der höchsten Form des Denkens."(S.18) Im Gegensatz zur Metaphysik, die Dinge, Gedankenbilder, Begriffe vereinzelt, star und einfür allemal gegeben betrachtet (S.20f), begreift die Dialektik "die Dinge wesentlich in ihrem Zusammenhange, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn"(S.22). Von diesem Standpunkt aus erschien nun die Ge­schichte nicht mehr als ein "wüstes Gewirr sinnloser Gewaltätigkeiten"(S.23), sondern war selber einer "inneren Gesetzmäßigkeit" unterwor­fen. Dies nachzuweisen gelang Hegel nicht, weil l. seine eignen Kennt­nisse begrenzt, 2. die seiner Epoche ebenfalls und 3. er selber IDEALIST war(S.23). Dies kam darin zum Ausdruck, daß sein System an einem unge­heuren Widerspruch litt: Zum einen begriff er die Geschichte in ihrer Entwicklung, die selber keine "absoluten Wahrheiten" hervorbringen kann, zum ändern gab er aber sein System selber als "Inbegriff eben dieser absoluten Wahrheit" aus (S.23f). In der Zwischenzeit hatte sich der Klassenkampf in Frankreich und England zwischen Proletariat und Bourgeoisie voll entfaltet. Diese Entwicklung machte es notwendig die Ge­schichte auf materialistischer Grundlage zu erklären. Der vormarxsche Sozialismus kritisierte zwar den Kapitalismus, konnte ihn aber weder aus der historischen Entwicklung erklären noch seinen "inneren Charakter" enthüllen, der nämlich seinen Untergang gesetzmäßig einschließt (S.26) "Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauf­fassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produk­tion vermittelst des Mehrwerts, verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten." (S.26)In dieser Situation sprang Dühring mit "beträchtlichem Gepolter auf die Bühne"(S.26), versprach "Wahrheiten letzter Instanz"(S.27) und rechnete mit all seinen Vorgängern ab(S.29f).

Wenn auch die Darstellung der eignen Position zur Hauptseite wurde, so konnte Engels - und dies mit ausdrücklicher Billigung Marxens (10) -nicht umhin, völlig auf das Mittel der Polemik zu verzichten. Entspre­chend endet auch seine Einleitung: "Hiernach ersterben wir in tiefster Ehrerbietung vor dem gewaltigen Genius aller Zeiten - wenn sich das alles nämlich so verhält." (S.31)

Anmerkungen zu III)
Sofern aus dem "Anti-Dühring" zitiert wird, wurden überwiegend nur die Seitenzahlen angegeben. Es liegt als Quelle MEW 20, Berlin 1972, zugrunde.
1) siehe MEW 18, Berlin 1971, S. 213
2) MEW 19, ebenda, S. 516f
3) Karl Marx, Chronik seines Lebens in Einzeldaten, Hrg:
Marx-Engels-Lenin-Institut Moskau, Zürich 1934, Reprint 1971, Ffm, S. 348
4) zitiert nach: 100 Jahre "Anti-Dühring", ebenda, S. 400
5) MEW 20, ebenda, S. 5
6) siehe dazu Marxens Brief an Engels in MEW 34, ebenda, S. 14
7) MEW 34, ebenda, S. 17f
8) MEW 20, ebenda, S. 8
9) ebenda, S. 9
10) siehe dazu Marxen Brief an Engels vom 5.5.1877, MEW 34, ebenda, S. 36, in diesem spricht Marx davon, daß man eigentlich Dühring nur "mit dem Knüppel in der Hand" lesen könne

IV)
Am 7.7.1878 brachte der "Vorwärts" den letzten Artikel von Engels "Anti-Dühring" heraus, wenige Tage später erschien es als Buch, welches am 12.7.1878 ausführlich im Zentralorgan rezensiert wurde. Ende Oktober 1878 traten die "Sozialistengesetze" bis 30.9.1890 in Kraft, auf deren Grundlage der "Anti-Dühring" am 2.12.1878 verboten wurde. Diese Entwick­lung verhinderte keinesfalls, daß der "Anti-Dühring" sich verbreitete. Zu sehr war er dem Inhalt nach ein Schlüsselwerk des wissenschaftlichen Sozialismus. Bereits Ende 1877 verteidigte Dietzen, der in der Partei ein hohes Ansehen als Theoretiker genoß, den "Anti-Dühring" gegen parteiinterne Angriffe. Er erklärte, daß dies Buch "die theoretisch unterste Grundlage der deutschen Sozialdemokratie bildet." (1)

Karl Kautzky, der in der Zeit der Illegalität der SPD zu deren Cheftheo­retiker aufstieg, bewertete die Bedeutung des "Anti-Dühring" folgender­maßen: "Wenn ich nach der Wirkung urteile, die Engels' "Anti-Dühring" auf mich ausübte, so gibt es kein Buch, das für das Verständnis des Marxismus soviel geleistet hätte wie dieses. Wohl ist das 'Kapital' gewaltiger. Aber erst durch den "Anti-Dühring" haben wir das 'Kapital' richtig lesen und verstehen gelernt." (2)

1880 arbeitete Engels auf Drängen von Lafargues den "Anti-Dühring" zu einer Propagandabroschüre um, nachdem "Revue socialiste" Auszüge aus dem "Anti-Dühring" veröffentlicht worden waren. Marx selber schrieb dazu selber das Vorwort und charakterisierte diese Schrift als "Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus" (3). Diese Broschüre erhielt noch zu Engels Lebzeiten eine ungeheure Verbreitung. So wurde sie allein in 10 Sprachen übersetzt. Sie erschien in Deutschland in l.Aufl. mit 1500 Exemplaren im Jahre 1883 und erreichte noch im selben Jahr eine Aufla­genhöhe von 10 000. Dadurch wurde ein weiteres breiteres Interesse am "Anti-Dühring" inganggesetzt, welcher nochmals mit 2300 Exemplaren 1886 erschien. (4)

Die Erfahrungen des praktischen Kampfes in der Illegalität, die innere politische und organisatorische Konsolidierung auf drei Parteikongressen 1880, 1882 und 1883, sowie auf dem Parteitag 1887 in St.Gallen wurden zunehmend von den theoretischen Fundamenten des wissenschaftlichen So­zialismus her verarbeitet. Opportunistische und anarchistische Elemente kehrten entweder der Partei den Rücken oder wurden wie J.Most ausgeschlossen.

1891 schuf sich dann die dt. Sozialdemokratie in Verarbeitung dieser Erfahrungen ein Programm, das Engels in seiner Kritik daran folgendermaßen bewertete: "Der jetzige Entwurf unterscheidet sich sehr vorteilhaft vom bisherigen Programm (gemeint ist das Gothaer 1875 - d.Verf.). Die starken Überreste von überlebter Tradition - spezifisch lassallischer wie vulgärsozialistischer - sind im wesentlichen beseitigt, der Entwurf steht nach seiner theoretischen Seite im ganzen auf dem Boden der heutigen Wissenschaft und läßt sich von diesem Boden aus diskutieren." (5)

Auch die Gründung der II. Internationale 1889 erfolgte überwiegend auf marxistischen Grundlagen, obwohl nicht übersehen werden darf, daß auch auf diesen Grundlagen erneut der Opportunismus - nunmehr aber in der Gestalt des Revisionismus erwuchs. Ein klassisches Beispiel dafür ist der "Marxist" E. Bernstein, der als Chefredakteur des "Sozialdemokrat" in der Zeit der Sozialistengesetze viel dazu beitrug, dass der "Anti-Dühring" zur ideologischen Grundlage innerhalb der Partei wurde. Gerade mit Berufung auf Engels begann er ab 1898 offen mit der Revision des Marxismus. (6)

Anmerkungen zu IV)
1) zitiert nach : 100 Jahre "Anti-Dühring", ebenda, S. 412
2) zitiert nach : ebenda, S. 411
3) MEW 19, Berlin 1969, S. 185
4) siehe dazu : 100 Jahre "Anti-Dühring", ebenda, S. 410
5) MEW 22, Berlin 1963, S. 227
6) siehe dazu : Bernstein, Eduard, Die Voraussetzungen des Sozialismus, Reinbek 1969
 

Editorische Anmerkungen

Bei dem Text handelt es sich um ein Referat, das am 11.10.1986 anläßlich des "Anti-Dühring" - Seminars der KGW gehalten wurde. Obgleich der Autor sich heute teilweise anders ausdrücken und andere Schwerpunkte setzen würde, wird das Referat unverändert wiedergegeben, um damit ein bestimmtes Schulungsverständnis zu dokumentieren. Der Autor war damals in der Kommunistischen Gruppe Westberlin (KGW) organisiert. Die KGW führte bis Anfang der 90er Jahre Kapitalschulungen durch und benutzte dazu den "Anti-Dühring" als Einstiegstext. Des weiteren gab die KGW von 1986-1990 das vierteljährlich erscheinende Magazin "westberliner info" (wi) heraus.

Zum besseren Verständnis der mit dieser Schulung damals verfolgten politischen Absichten dokumentieren wir ergänzend zu diesem Text: Die Einladung zum VORBEREITUNGSTREFFEN des "Anti-Dühring" - Seminars sowie die empfohlene Zusatzliteratur.

EINLADUNG ZUM VORBEREITUNGSTREFFEN
am 3.9.1986, 19.00 Uhr Helmstr. 8. 1-62, Laden (des BWK)
für das ANTI-DÜHRING-SEMINAR

In ihrem info 1/86 hatte die KG (NHT) - Westberlin zu einer "Anti-Dühring" - Schulung im Herbst 86 öffentlich eingeladen. Der BUND WESTDEUTSCHER KOMMUNISTEN (BWK) - Bezirk Westberlin - hatte daraufhin sein Interesse an einer gemeinsamen Durchführung dieser Bildungsveranstaltung geäußert. Infolge dieses Wunsches haben beide Organisationen nach gründlicher Aussprache über die konzeptionellen Grundlagen dieser Veranstaltung die gemeinsame Durchführung beschlossen.

Das Anti-Dühring-Seminar soll am 11. und 12. Oktober 1986 in den Räumen des BWK's jeweils ganztägig durchgeführt werden. Die im folgenden dargestellte Konzeption soll in dem o.a. Vorbereitungs­treffen mit allen Interessierten erörtert und soweit als möglich auf ihre Bedürfnisse und Erkenntnisinteressen abgestimmt werden.

1. Anspruch und Ziel des Seminars
Als Lenin 1913 unter dem Titel "Karl Marx" einen " kurzen biographischen Abriß mit einer Darlegung des Marxismus" für Granats Lexikon verfaßte, stellte er dem "Hauptinhalt des Marxismus" - der politischen Ökonomie -bewußt eine knappe Skizze der weltanschaulichen Grundlagen des Marxismus voran (siehe dazu LW 21).
Heute ist die westdeutsche marxistisch-leninistische Bewegung als gesell­schaftliche Kraft nicht mehr sichtbar, sondern zersplittert und zerstrit­ten. Das Scheitern ihrer Politik liegt nicht zuletzt auch in dem Mangel an weltanschaulicher Fundierung ihrer Politik begründet. Wenn es also heute darum geht, die Marxisten-Leninisten als gesellschaftlich wirkende Kraft zu rekonstruieren, dann schließt dies ein, den Marxismus-Leninismus auf die "Höhe der Zeit" zu heben. Dieses Seminar begreift sich als ein Beitrag auf diesem Weg.
Daß der dialektische Materialismus bei den revolutionären Kräften weitge­hend Unbegriffen ist, relativiert stark die Ansprüche an das, was in diesem Wochenendseminar darüber gelernt werden kann. Zum einen präsentieren unterm Banner des Marxismus-Leninismus die modernen Revisionisten ihr Verständnis vom dialektischen Materialismus und haben ihn seit Jahren ausgehöhlt und seines kämpferischen Anspruchs beraubt. Zum ändern hat das, was die grün-alternative Bewegung als "Ökosozialismus" propagiert , gar nichts mit dem Marxismus gemein, sondern ist auf der weltanschaulichen Ebene direkt gegen den dialektischen Materialismus gerichtet. Parallel zu diesen Tendenzen rekonstruiert sich der Idealismus in neuem Gewand in dem Versuch, der Verschmelzung von Erkenntnissen der modernen Physik mit fernöstlicher Mystik. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß der dialektische Materialismus - der eine streitbare Wissenschaft ist - nur unter Einbeziehung des Kampfes gegen diese ideologischen Strömungen umfassend angeeignet werden kann.
Dies sind die Ausgangsbedingungen. Wir haben versucht, sie bei der Planung dieses Seminars soweit als möglich zu berücksichtigen. D.h. das Seminar wird sich inhaltlich nicht über eine reine Einführung in die Grundprobleme der marxistisch-leninistischen Weltanschauung erheben. Es will die Teilneh­mer quasi "verführen", auf diesem Gebiet selbständig und kollektiv weiter­zulernen und den Kampf um eine wissenschaftliche Anschauung der Welt in ihr politisches Handeln zu integrieren.
Wir haben bewußt den schwierigen "Anti-Dühring"-Text als Basislektüre gewählt, weil er zum einen geschrieben wurde, um den wissenschaftlichen Sozialismus in der deutschen Arbeiterbewegung des vorherigen Jahrhunderts als theoretische Grundlage ihrer politischen Praxis zu verankern. Dies konnte nur geschehen, indem die idealistischen und metaphysischen Vorstel­lungen, die in der SPD hauptseitig die weltanschauliche Grundlage bildeten und am fortgeschrittensten durch Dühring vertreten wurden, umfassend wider­legt und niedergerungen wurden. Auf der anderen Seite ist es eine Kollek­tivarbeit der beiden "Alten", Dies gilt es besonders gegen alle Angriffe seitens der kleinbürgerlichen Sozialisten á la SOST zu verteidigen, die sich nicht entblöden zu behaupten, an der theoretischen Verflachung des Marxismus der II.Internationale sei ENGELS schuld, der diese Entwicklung insbesondere durch den "Anti-Dühring" eingeleitet habe.
Da es sich um eine Einführung handelt, erfolgt auch eine inhaltliche Be­grenzung in der Behandlung des Gesamtextes durch die Schwerpunktsetzung auf den "Materialismus" und die "Dialektik".

2. Voraussetzungen der Teilnehmer/innen
Trotz der Schwierigkeit der Lektüre muß die Kenntnis des Textes für die Teilnahme an diesem Seminar zur Voraussetzung gemacht werden. Da es sich jedoch um eine Einführung handelt, die nicht den Anspruch hat den Text in seiner Gesamtheit zu behandeln, ist die Kenntnis der Einleitung und des I. Abschnittes eine ausreichende Voraussetzung.
Aufgrund der Vorteile mit einer Ausgabe zu arbeiten, schlagen wir vor, den Text aus dem Band 20 der MEW zu nehmen.
Als weitere Voraussetzung sehen wir an, daß die Zusatzliteratur, die rechtzeitig vorher ausgeben wird, zum Seminartermin gelesen ist. Diese Literatur soll zum einen das Textverständnis des "Anti-Dühring" erleichtern helfen, zum anderen als Material dienen, daß in Abgrenzung zur materialistischen Position und deren Anwendung und Überprüfung diskutiert wird.

3. Ablauf und Lernformen des Seminars

A) 1. Tag
* Einleitendes Referat "Zur Entstehungsgeschichte des "Anti-Dühring"
* Aussprache über den Zusatztext "Materialismus und Idealismus"
* Referat "Apriorismus und Weltschematik" (MEW 20, S.32 - 43)
* Textarbeit in Kleingruppen (MEW 20. S.43 - 77)
B) 2. Tag
* Referat über "Ewige Wahrheiten" (MEW 20. S.78 - 88)
* Textarbeit in Kleingruppen (MEW 20 5.111 - 135)
* Kritik ausgewählter Textstellen (Havemann "Dialektik ohne Dogma" SEW Sonderband "Streitbarer Materialismus", Capra "Wendezeit", Zukav "Die tanzenden Wu Li Meister", Scherer/ViImar "Perspektiven des Öko­sozialismus")
* Kritik und Selbstkritik - Perspektiven der Weiterarbeit

Die Referate werden von der Schulungsleitung gehalten und orientieren sich eng an den Text, d.h. sie stellen eine Zusammenfassung dar, die eine Aussprache darüber einleiten soll.
Die Textarbeit in Kleingruppen soll Raum für gemeinsames Lesen schwieriger Textstellen geben. Im anschließenden Plenum sollen die Arbeitsergebnisse verglichen werden.
Zu den einzelnen Schulungsabschnitten soll Protokoll geführt werden. Diese Protokolle sollen Grundlage der Abschlußdebatte sein. Auf dieser abschlie­ßenden Aussprache wird weiterführende Literatur vorgestellt.

4. Das Vorbereitungstreffen
Dieses Treffen erfolgt bewußt rund sechs Wochen vor dem Seminartermin. Es wäre sinnvoll, wenn die Teilnehmer/innen den "Anti-Dühring" schon ein erstes oberflächliches Mal gelesen hätten, damit die Debatte um den Semi­narverlauf und mögliche Änderungen daran nicht nur aus der jeweiligen subjektiven Verfassung hergeleitet wird, sondern sich auch an den Erfor­dernissen des Lerngegenstandes orientiert ist.

5. Anmeldung
Da die Seminarstruktur zum Teil auch von der Größe der Teilnehmerzahl abhängt, ist es notwendig, sich vor dem Vorbereitungstreffen anzumelden. Die endgültige Teilnahme ergibt sich selbstverständlich erst durch den Vorbereitungstermin.
Meldungen ergehen an : GNN Verlagsgesellschaft Westberlin Helmstr. 8, 1000 BERLIN 62

Für die gemeinsame Vorbereitungsgruppe
von BWK und KG (NHT) Westberlin
Karl Müller
KG(NHT) Westberlin -Westberlin, den 7. Juli 1986

Zusatzliteratur zum "Anti-Dühring"

1. aus : Grundlagen der marxistischen Philosophie, Berlin 1960, 2. Auflage Kapitel 1.1, Die Grundfrage der Philosophie, Materialismus und Idealismus, die Hauptrichtungen der Philosophie, S. 12 - 25

Das 1958 in Moskau erschienene Werk wurde 1959 ins Deutsche übersetzt. Die 2. Auflage ist mit der ersten identisch. Die marxistisch-teninstische Gruppe um die Zeitschrift "Widerspruch" hatte im fotomechanischen Wege vervielfältigt den ersten Teil des Lehrbuches wieder der Öffentlichkeit 1974 zugänglich gemacht. Dies war notwendig geworden, weil ab 1966 erfolgte Überarbeitungen dieses Lehrbuches durch die modernen Revisionisten es bis zur Unkenntlichkeit gegenüber der 1. Ausgabe entstellt hatten und es für marxistisch-leninistische Kräfte zu dieser Zeit keine systematische Einführung in die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus mehr gab.

Insgesamt betrachtet, weist auch die 1. Ausgabe bereits schon eine gewisse Anzahl von Fehlern und Revisionen auf. Die "Widerspruch-Gruppe" zählt in ihrem Vorwort folgende auf: Unteilbarkeit des Atoms, Bewertung der Kybernetik als Wissenschaft, Entstellung des Gesetzes vom Umschlagen quantitativer Veränderungen in qualitative, teilweise Ersetzung des Begriffs "Widerspruch" durch "Unterschied" und die Behauptung, daß es im Sozialismus keine Revolutionen mehr gäbe.

Der hier vorgelegte Textauszug dagegen zeichnet sich noch durch strenge Wissenschaftlichkeit und unversöhnliche kämpferische Haltung gegenüber der bürgerlichen Ideologie aus. Er soll im Kontext dieses Seminars als Einführungstext in die Gesamtproblematik dienen, um den Teilnehmern/innen den Stellenwert der Beschäftigung mit dem "Anti-Dühring" auch ideengeschichtlich auf dem Gebiet der Philosophie in ersten Ansätzen zu verdeutlichen.

2. aus : Havemann, Robert, Dialektik ohne Dogma, Reinbek 1964, S. 14/15

"Die jungen Kommunisten der dreißiger Jahre, ... , haben sich logisch und notwendig in 'Eurokommunisten' verwandelt, in konsequente Verteidiger eines neuen Modells von Sozialismus, eines Sozialismus, der die Demokratie vollständig entwickelt und verwirklicht. Der Genösse Robert Havemann ist ein Symbol dieser Entwicklung."

Dieses Prädikat stammt von dem bekannten italienischen Eurokommunisten L.L.Radice aus dem Nachwort zu R.Havemanns Buch "Ein deutscher Kommunist", Reinbek 1978, S. 159, in dem Havemann über seine ideologische Entwicklung schreibt: "Schon in den Jahren 1957 bis 1959 hatte ich häufiger erheblichen Streit mit der Partei, hauptsächlich mit den Philosophen, die die Niederlage, die sie 1956 erlitten hatten, nicht verwinden konnten," (S. 12)

Der Machtantritt des Chrustschowrevisionismus in der Sowjetunion 1956 öffnete ideologische Schleußen für Auffassungen, die die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus mit bürgerlichen Auffassungen auszusöhnen suchten. Havemann gehörte zu den Vertretern, die im Bereich der Philosophie diesen Weg konsequent beschritten. Diese Konsequenz brachte ihn damals in einen unüberbrückbaren politischen Gegensatz zu den modernen Revisionisten in der DDR, was bis zu seiner totalen beruflichen und politischen Isolierung 1976 führte. Betrachtet man heute seine philosophischen Ansichten, die in "Dialektik ohne Dogma" systematisch dargelegt wurden, so sind qualitative Unterschiede zu den zeitgenössischen Ansichten der modernen Revisionisten kaum noch feststellbar. Mit ständiger Berufung auf den "Anti-Dühring" richtet Havemann in "Dialektik ohne Dogma" seine Angriffe auf den dialektischen Materialismus.

3. aus : Streitbarer Materialismus, Konsequent Sonderband 6, 1984, Hrg. Partei vorstand der SEW, Nerlich. Michael: Anmerkungen zum Verhältnis von nichtwissenschaftlichem Denken und historisch-dialektischem Materialismus, S. 41 - 43

Im Editorial schrieb der Herausgeber: "Nach der Funktion der materialistischen Dialektik für die philosophische Analyse einzelwissenschaftlicher Theorie- und Methodenprobleme zu fragen, die gesellschaftliche Relevanz dieses Beitrages herauszuarbeiten, hieß für uns zu gleich, zu kritischer Auseinandersetzung mit vorherrschenden Wissenschaftskonzeptionen einzuladen und dabei die von demokratischen Wissenschaftlern vertretenen unterschiedlichen Auffassungen von parteilicher Wissenschaft zu berücksichtigen" ( S. 6) Und weiter: "Wir betonen damit zugleich den humanistischen Konsens, daß Wissenschaft nicht als Destruktivkraft betrachtet werden darf, sondern als entwicktungs- und friedensfördernde Produktivkraft eingesetzt werden kann. Diesem Bedürfnis nach Veränderung mit Denkanstößen ( und nicht mit fertigen Lösungen) weiterzuhelfen - das ist die wichtigste Anforderung für uns."(S. 9)

Auffassungen "demokratischer" (?!) Wissenschaftler berücksichtigen und Veränderung mit Denkanstößen herbeiführen - das sind heute die Hauptaufga-benstellungen der marxistisch-leninistischen Philosophie, wollte man den modernen Revisionisten von der SEW glauben. Vom Klassenkampf im Bereich der Ideologie als eine Hauptaufgabe proletarisch-revolutionärer Politik dagegen keine Rede. Nerlichs Aufsatz soll illustrieren, wie auf dem Gebiet der Philosophie der Verzicht auf ideologischen Klassenkampf gleichsam aus innerer Logik legitimiert wird.

4. aus : Capra, Fritjof, Wendezelt - Bausteine für ein neues Weltbild, fotomechanischer Nachdruck o.J.,S, 298/299
5. aus : Zukav. Gary, Die tanzenden Wu L1 Meister. Reinbek 1986, S.222/223
6. aus : Scherer/Vitmar, Projektgruppe - ein alternatives Sozialismuskonzept: Perspektiven der Ökosozialismus, Westberlin 1984, S.386/387

Im Wahlprogramm der Alternativen Liste 1985 befindet sich im Teil Wissenschaft und Bildungspolitik ein Vorschlag zum Umbau von Unterichtsorganisation und -Inhalten. (S.260f) Unter dem Schlagwort "Selbständigkeit der Schüler"(S.258) erhebt die AL die Forderung, daß die bürgerliche Klassenschule "Schüler bei der Entwicklung eines ethischen und sozialen Gewissens" unterstützen sollte. Ideologische Grundlage dieser Intentionen bildet ein eigens in den Fächerkanon neu (!) aufzunehmender Lernbereich "Religionswissenschaften und Philosophie". Hinter diesen Vorschlägen verbirgt sich die ideologische Entwicklung relevanter Teile der Mittelschichten nach ihrer Abschiednahme vom Marxismus. Innerhalb der grün-alternativen Bewegung bilden Capras und Zukavs Ansichten heute gewissermaßen ideologische Korsettstangen. Die Kenntnis und schlüssige Widerlegung der metaphysischen und idealistischen Positionen auf dem Gebiet der grün-alternativen Ideologie. bilden eine wesentliche Voraussetzung für eine revolutionäre Politik, die darauf abzielt, die ideologische Hegemonie der Grün-Alternativen auf fortgeschrittene Teile der Arbeiterklasse zu brechen.

So wie sich auf der politischen Ebene innerhalb der Grünen der Widerspruch zwischen Fundamentales und Realos austrägt, so widerspiegelt er sich den ideologischen Grundlagen dieser Fraktionen. Die Realos, die letztlich ihre Nähe zur Sozialdemokratie nicht verleugnen, bekämpfen die dialektisch-materialistische Weltanschauung deshalb auch nicht durch Bezugnahme auf "fernöstliches Denken/Fühlen", sondern durch Bezugnahme auf "westliches" Denken in der zerschlissenen Gestalt des Bernsteinschen Neukantianismus. "Sozialismus als Prinzip und nicht als wissenschaftlich begründbare Phase der Geschichte." (S.22)