Algerien:
Das Ende einer im arabischen Raum quasi einmaligen Pressefreiheit?

Von Bernhard Schmid
 
09/04

 
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Ohne weiteren Kommentar fiel das Urteil: Zwei Jahre Haft ohne Bewährung! Damit bestätigte das Appelationsgericht von Algier am Mittwoch, 11. August den Richterspruch aus erster Instanz, der Mitte Juni dieses Jahres im hauptstädtischen Bezirk El-Harrasch gefällt wurde. Mohammed Benchicou, der Herausgeber der postkommunistisch-republikanischen Tageszeitung Le Matin, bleibt damit in Haft.
Protestaktion für inhaftierte Journalisten am 5. Juli 04, dem algerischen Nationalfeiertag (das Land wurde am 5. Juli 1962 vom französischen Kolonialismus unabhängig). Algerische Journalistenvereinigungen und Oppositionsparteien führten eine Kundgebung vor dem Pariser Rathaus durch. Parallel dazu fanden auch Protestaktionen in algerischen Städten statt.

 Die Karikaturisten der algerischen Presse zeichnen am folgenden Vormittag ausnahmslos Richter, die entweder an Marionettenschnüren hängen oder an der Telefonstrippe - um sich die Anordnungen der politischen Machthaber geben zu lassen.  

Der "Fall" Benchichou ist exemplarisch dafür, wie das algerische Regime jene seit anderthalb Jahrzehnten herrschende reale Pressefreiheit aushebeln will, die es so in keinem anderen arabischsprachigen Land - vielleicht ausgenommen den Libanon - und in keinem anderen afrikanischen Staat mit Ausnahme Südafrikas gibt. Die Existenz einer echten Pressefreiheit und ­pluralität in dem nordafrikanischen Land ist eine unmittelbare Konsequenz aus dem Zusammenbruch des vormaligen Einparteienstaats unter dem FLN (Front de libération nationale, Nationale Befreiungsfront). Das Einparteienregime brach im Oktober 1988 unter dem Ansturm einer Jugendrevolte in der Hauptstadt Algier zusammen, nachdem bereits seit Mitte der 80er Jahre mehrere Brotrevolten und Streikwellen seine Legitimität gehörig angeknackst hatten.  

Präsident Boutefliqa, kein Freund der Pressefreiheit  

Der am 15. April 1999 erstmals (ohne Gegenkandidat, nachdem die sechs konkurrierenden Bewerber sich 24 Stunden vor dem offiziell Wahltag wegen bereit sichtbarer Wahlmanipulation zurüclgezogen hatten) nominierte algerische Staatspräsident Abdelaziz Boutefliqa ist jedoch, gelinde ausgedrückt, kein Freund der Pressefreiheit.  

Seit dem Amtsantritt Boutefliqas (auch Bouteflika geschrieben) hat das Regime nicht nur allgemein noch stärker den Charakter eines autoritären Präsidialregimes mit zunehmender Machtkonzentration angenommen. (Zur Illustration: Im Vorfeld der Wahl von 2004 hatte Boutefliqa sogar führende Militärs gegen sich aufgebracht mit seinem Vorschlag den Posten des Premierministers abzuschaffen und alle Befugnisse von Präsident und Regierungschef in einer Hand, nämlich in seiner Hand, zu konzentrieren. Seine Amtsvorgänger dagegen hatten noch stärker das Kollegialitätsprinzip in der politischen Führung gewahrt, auch wenn sie selbstverständlich auch überwiegend die Interessen der herrschenden Oligarchie repräsentierten.) In besonderem Maße hat Boutefliqa es auch auf die zu unabhängige oder zu unverschämte Presse abgesehen. Bereits im Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr 1999 hatte Abdelaziz Boutefliqa kritische Journalisten öffentlich als "Klatschweiber" (tayyabat el-hammam) abgewatscht. Es sollten Taten folgen, vor allem jetzt in den letzten anderthalb Jahren.  

Bereits im Juni 2001 hatte das algerische Parlament ein stärker restriktives Pressegesetz verabschiedet, das vor allem horrende Geldstrafen sowie drei- bis zwölfmonatige Haft im Falle von Beleidigung des Präsidenten oder der Staatsorgane vorsieht. Daraufhin hatten sich vor allem im vorigen Jahr die Prozesse, die durch Klagen des Verteidigungsministeriums ausgelöst wurden, gehäuft. Der berühmte, den Militärs ebenso wie den Islamisten und dem Präsidenten gegenüber völlig respektlose Karikaturist Ali Dilem (Zeichner der Tageszeitung Liberté) etwa wurde im Herbst 2003 in polizeilichen Gewahrsam genommen und vorgeladen. Doch diese Verfahren zogen zu viel Aufmerksamkeit auf sich und sorgten für unnützen Lärm.

Repression gegen Journalisten mittels angeblichen Wirtschaftsdelikts  

Bei Benchicou verfuhr man deswegen anders: Er wurde nicht etwa aufgrund eines Presse- oder Meinungsdelikts angeklagt und hinter Schloss und Riegel verfrachtet, sondern unter dem Vorwand, er habe eine "unpolitische" Straftat in Gestalt eines Finanzvergehens begangen. Am 23. August 2003 war Benchicou, anlässlich einer Rückkehr aus Paris, am Flughafen von Algier durch die Grenzpolizei festgehalten worden. Dabei wurden bei ihm so genannte bons de caisse gefunden, das sind Bankobligationen ­ mit diesen auf ein paar Monate oder zwei Jahre hinaus gültigen Papieren kann man sich eine festgelegte Summe am Bankschalter ausbezahlen lassen. Einen "Verstoß gegen die Wechselgesetze", die den illegalen Kapitalexport behindern sollen, stellte die Grenzpolizei deswegen angeblich fest.  

Tatsächlich hat die Existenz dieser Gesetze in Algerien, wo die Korruption keine lästige Begleiterscheinung, sondern eine institutionalisierte Herrschaftsform darstellt, ihren guten Grund. Allein die in der Schweiz lagernden Kapitalien von Angehörigen der algerischen Oligarchie sollen die komplette Staatsschuld des beim Internationalen Währungsfonds (IWF) tief in der Kreide stehenden Landes überschreiten. Angewandt werden diese Gesetze allerdings kaum, jedenfalls nicht gegen bei den potenziellen Hauptbetroffenen. Gegen Benchicou dagegen wurde unmittelbar ein Ermittlungsverfahren angestrengt.  

Die Sache hat nur mindestens zwei Haken. Erstens wurden die Bankpapiere, die der Chefredakteur bei sich trug, nicht bei der Ausreise, sondern bei der Rückkehr nach Algier in seiner Aktentasche gefunden ­ er kann also kaum Gelder illegal außer Landes geschafft haben. Zum Zweiten sind die Obligationspapiere in algerischen Dinar abgefasst, und deswegen in keinem anderen Land einlösbar, denn der Dinar gilt nicht eben als begehrte Währung. Wahrscheinlich trug Benchicou die Papiere nur aus Unachtsam oder Bequemlichkeit bei sich.  

Die Grenzpolizei präsentierte Benchicou denn auch nicht dem Zoll, der normalerweise für Wirtschaftsgehen zuständig ist, sondern führte ihn direkt der Justiz vor. Der oberste Leiter der Zollbehörde seinerseits hat sich in einem Offenen Brief zu der Sache geäußert ­ und öffentlich festgestellt, dass Benchicou gegen keinerlei Vorschrift verstoßen habe. Die Richter in Algier dagegen hatten es eilig, eine Strafsache gegen den Zeitungsmann zu eröffnen. So eilig, dass sie nicht einmal die erforderliche Klageerhebung durch die Wirtschaftsbehörden abwarteten: Am 27. August letzten Jahres wurde gegen 9 Uhr morgens ein Strafverfahren gegen Benchicou eingeleitet - doch die Klageschrift, welche die Richter über das Vorliegen eines Delikts informieren sollte, traf erst am selben Tag gegen 15 Uhr beim Gericht ein.  

Politische Hintergründe des Benchicou-Prozesses  

Tatsächlich hat der Prozess und die Verurteilung Benchichous natürlich politische Gründe. Der Postkommunist ist der jetzigen politischen Führung ein Dorn im Auge.  

Erstens zählt er zu jenem politischen Flügel des algerischen Establishments, der politischen Klasse und in der Armee, der einen betont antiislamistischen Diskurs pflegt - und dem jetzigen Präsidenten Abdelaziz Boutefliqa seit seinem Amtsantritt 1999 vorwirft, den im Bürgerkrieg unterlegenen Islamisten zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben. Dieser Streit schwelt seit dem Erlass des Amnestiegesetzes vom Sommer 1999, mit dem die islamistischen Guerillagruppen zum Niederlegen der Waffen bewegt werden sollten.  

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl vom April 2004 fuhr Le Matin eine erbitterte Kampagne gegen Staatschef Boutefliqa, die teilweise groteske Züge annahm, insofern als die Zeitung mitunter ohne Abstriche behauptete, der amtierende Präsident wolle aus Algerien eine Islamische Republik machen. Das ist nun wirklich Unfug, der aber politisch erklärbar ist. Algeriens frühere pro-sowjetische Kommunisten, die nach 1989 politisch gescheitert sind und sich seit Anfang der Neunziger nur noch als reine Islamisten-Verhinderungspartei (unter Preisgabe jeder schärferen sozialen Kritik) definierten, um später vollkommen zum Anhängsel eines Flügels innerhalb der Oligarchie und der Armee zu werden, rechtfertigen durch einen solchen ideologischen Diskurs nach wie vor ihre eigene historische Richtungsentscheidung. Dass der Bürgerkrieg 1998/99 mit einer deutlichen Niederlage der Islamisten, einer Niederlage doppelter Natur (gegenüber dem Staat und gegenüber der Gesellschaft) tatsächlich zu Ende ging, haben sie daher nicht in ihren Diskurs integriert. Die Beschwörung, es sei nach wie vor Fünf Minuten vor Zwölf, was die drohende Errichtung einer Islamischen Republik betreffe, dient ihnen heute als alleinige Rechtfertigung ihrer Existenz als politische Rest-Strömung. Dieser Diskurs beeinflusst(e) auch sehr stark die Kernredaktion von Le Matin.  

Zum Zweiten hat Benchichou daneben aber auch einige pikante Informationen über Angehörige der politischen Führung veröffentlicht, namentlich über Innenminister Yazid Zerhouni. Diesem wird unter anderem vorgeworfen, er habe 1971 als Geheimdienstoffizier den Besitzer einer Apotheke foltern lassen, damit seine Frau sich den Betrieb unter den Nagel reißen konnte. Ferner wird Zerhouni zur Last gelegt, zwischen 2001 und 2003 für die Behandlung von Protestlern aus der kabylischen (berbersprachigen) Unruheregion politisch verantwortlich zu sein. Zerhounis Dementi bestand aus der öffentlichen Ankündigung, er werde Benchicou "bezahlen lassen".  

Drittens hat Benchicou im Februar 2004, wenige Wochen vor der Wahl, eine Biographie Boutefliqas mit dem Untertitel Une imposture algérienne (Eine algerische Hochstapelei) in Paris und Algier gleichzeitig veröffentlicht. (Die französische Ausgabe erschien bei Jean Picollec, Paris, 245 S., 18 Euro) Es handelt sich um eine durchaus verzichbare Lektüre: Benchicou betreibt darin den Versuch einer Abrechnung mit Boutefliqa, ohne das System der Oligarchie aber generell zu kritisieren, sondern sich allein auf tatsächliche oder angebliche persönliche Mängel Boutefliqas konzentrierend. Im besonders peinlichen Schlusskapitel präsentiert Benchicou einige selbstgebastelte psychoanalytische Erklärungen für den "Größenwahn" des Präsidenten und taucht ein in das Verhältnis Boutefliqas zu seiner Mutter, zu seinem Vater, zum "Übervater" in Gestalt des früheren Präsidenten während der Blütezeit des unabhängigen Algerien, Houari Boumedienne... Dass Boutefliqa daraufhin Rache schwor, kann man sich unschwer vorstellen.  

Zeitungsschließung als Racheakt  

Seit Anfang August 04 sitzt nun nicht nur ihr Chefredakteur in Haft, sondern musste auch die Zeitung Le Matin ihr Erscheinen einstellen. Staatliche Finanzämter hatten Steuerrückstände geltend gemacht, die in der Vergangenheit de facto durch das Regime bei den privaten Zeitungen nie eingetrieben wurden ­ die aber nun, in angespannteren Zeiten, zu einer Waffe gegen diese zu werden drohen. Die Behörden setzen eine extrem kurze Zahlungsfrist und leiteten alsbald, in Rekordzeit, die Zwangsversteigerung des Redaktionsgebäudes von Le Matin ein. Die Redaktion fand sich ohne Sitz und ohne Geld, aber mit Schulden wieder. Am 3. August erschien die letzte Druckausgabe.  

Die Liste der von Repression betroffenen Journalisten verlängert sich  

Doch Benchicou und seine Redaktionskolleginnen und -kollegen sind keineswegs die einzigen algerischen Journalisten, denen es derzeit ­ bildlich gesprochen ­ an den Kragen geht. Der Korrespondent mehrerer algerischer Tageszeitungen und Aktivist einer Menschenrechtsvereinigung im 300 Kilometer südlich von Algier gelegenen Djelfa, Ghoul Hafnaoui, etwa wurde am 9. Juni zu einer zweimonatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt, weil er örtliche Honoratioren beleidigt habe. Er hatte auf Versäumnisse aufmerksam gemacht, die zum Tod von 13 Säuglingen in einem örtlichen Krankenhaus führten. Im Berufungsverfahren im Juli wurde die Strafe gleich auf drei Monate erhöht; zugleich wurden 39 weitere Klagen von Nomenklaturisten und Honoratioren eingereicht. Seit dem 10. August 2004 befindet Hafnaoui sich im Hungerstreik; in der zweiten Woche seiner Hungerstreikaktion hatte sich sein Gesundheitszustand bereits in bedenklicher Weise verschlechtert.  

Am 28. Juni wurde in Oran der Direktor der Zeitung Er-Rei El-Aam (Die öffentliche Meinung), Ahmed Bennaoum, festgenommen und inhaftiert, weil Honoratioren eine Anzeige gegen ihn erstattet hätten. Bennaoum ist ein "moderater" Islamist, der früher Präsident Boutefliqa unterstützte, aber dann umschwenkte und seit 2003 zur Unterstützung des diesjährigen aussichtsreichsten Gegenkandidaten zum Präsidenten, Ali Benflis, aufrief. Damals begannen seine Probleme, etwa durch Zahlungsaufforderungen der öffentlichen Hand, die seit August 2003 das Erscheinen seiner Zeitung verhinderten. Das belegt, dass die Repression zur Zeit weitgehend unabhängig von der konkreten politischen Ideologie der Betroffenen (welche laizistisch für Mohammed Benchicou, "moderat islamistisch" für Bennaoum ausfällt) gegen alle jene Journalisten zuschlägt, die dem Machtzentrum gegenüber unangenehm auffallen.  

Und am 30. Juni schließlich entzog die algerische Regierung dem in Qatar ansässigen Fernsehsender Al-Jazira die Akkreditierung, so dass ihr Korrespondent, der algerische Staatsbürger Mohammed Daho, nicht mehr legal tätig sein kann. Das Regime störte sich an Diskussionssendungen, in denen unwahre Behauptungen über Algerien verbreitet worden seien. Die Arbeit des Korrespondenten Mohammed Daho selbst, der in seiner Arbeit immer auf Unauffälligkeit und das Vermeiden von "Anecken" bedacht war, wird nicht beanstandet. Anfang Juli wurden dann auch per Regierungsverordnung die rechtlichen Bedingungen für die Arbeit ausländischer Korrespondenten in Algerien verschärft: Diese können ab jetzt generell nur noch für ein einziges ausländisches Medium eine Akkreditierung erhalten, d.h. gesetzlich nurmehr für ein einziges Presse- oder audiovisuelles Organ tätig sein. Die beabsichtigte Wirkung ist vermutlich nicht so sehr, tatsächlich Mehrfachbetätigungen zu unterbinden; um von ihrer Arbeit leben zu können, werden Auslandskorrespondeten mutmaßlich weiterhin mehreren Medien zugleich ihre Arbeiten anbieten. Vielmehr dürfte es in Wirklichkeit darum geben, ein Werkzeug gegen missliebig oder sonst auffällig gewordene Auslandsjournalisten in der Hand zu haben, denen auf diesem Wege leicht ein Gesetzesverstoß wird nachgewiesen werden können.  

Für die zweite Jahreshälfte 2004 kündigte das Kabinett zur selben Zeit ein neues, noch schärferes Pressegesetz an. Nach Ansicht des Kommunikationsministers Boudjemaa Haïchour gilt dann für die Medien endlich "das Marktgesetz: Nur die Zuverlässigstesten werden überleben".  

Ein Überblick: Presselandschaft in Algerien  

Zum Jahresende 2002 erschienen in Algerien insgesamt 25 Tageszeitungen in französischer und 15 in arabischer Sprache. Alles in allem verkaufen diese 40 Pressetitel rund 1,5 Millionen Exemplare täglich. Die größten Auflagen haben bzw. hatten dabei Le Matin, El-Watan, Liberté (französischsprachig) und El-Khabar (arabischsprachig). 34 von 40 dieser Presseorgane sind in privater Hand, die übrigen 6 im Staatsbesitz befindlich.  

Im Vergleich mit der Presse aller anderen arabischsprachigen Ländern, aber auch des übrigen afrikanischen Kontinents (mit Ausnahme von Südafrika) genießt die algerische Presse eine außerordentliche Ausdrucksfreiheit. Ihr Tonfall ist mitunter äußerst frech, und wenn es um den aktuellen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika geht, wird in einigen Fällen auch klar unterhalb der Gürtellinie argumentiert. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vielfalt der Presse sich zum guten Teil daraus erklärt, dass die Oligarchie in heftig miteinander rivalisierende Flügel gespalten ist. Tatsächlich geht die Gründung von Presseorganen - in der Mehrheit der Fälle ­ auf die Initiative dieses oder jenes Kreises, der über Macht und Einfluss verfügt, zurück. Aber ist das, vom Prinzip her, in westlichen Ländern so viel anders?  

Stärker einschränkend auf die Wirklichkeit der Meinungsvielfalt wirkt sich aus, dass die einzelnen Presseorgane oft über, verglichen mit "dem Westen", geringe materielle Mittel verfügen. Deswegen waren während der Jahre des Bürgerkriegs viele JournalistInnen auf den Informationsfluss seitens der Sicherheitsorgane angewiesen; und manche bequem gewordenen Redakteure haben dann auch später die "Arbeitsweise" beibehalten, einfach solche Nachrichten aus "Sicherheitskreisen" weiter zu verarbeiten. Doch zugleich hat sich eine hohe Improvisationskunst seitens der JournalistInnen entwickelt, die mit oft minimalen Mitteln Investigation betrieben und Reportagen durchführten. Junge Berufseinsteiger und Studierende konnten sich dadurch einen Namen machen, wenn sie bereit waren, im Gegenzug eine höchst magere (oder gar nur symbolische) Bezahlung zu riskieren. Heute haben sich die Arbeitsmöglichkeiten, gegenüber den neunziger Jahren mit Bürgerkrieg und Terror, natürlich verbessert.  

Kennzeichnend für die algerische Presse ist ferner, dass die Trennung zwischen Berichterstattung und Kommentar oft nur schwach ausfällt. Politische oder ideologische Streits, die oftmals (auch) Bruchlinien innerhalb der Oligarchie widerspiegeln, werden oftmals offen ausgestritten. Die Oligarchie, von der hier die Rede ist, besteht im Wesentlichen aus hohen Militärs, Staatsbürokratie und in die Privatwirtschaft recycelten Ex-Nomenklaturisten. Besonders angesichts der Fragen internationaler Wirtschaftspolitik, der Einbindung in die "Globalisierung", der Privatisierung (perspektivisch vor allem jener der algerischen Erdölindustrie) herrschen mitunte zugespitzte Widersprüche in ihren eigenen Reihen.  

Französischsprachige Titel:  

Le Matin: Seit Anfang August 2004 musste er sein Erscheinen einstellen. Davor konnte man ihn wie folgt chrakterisieren: Eine der auflagenstärksten Tageszeitungen; entstand 1991 aus einer Spaltung der Redaktion bei der, bis dahin parteikommunistisch orientierten, Zeitung Alger Républicain. Heute das Sprachrohr desjenigen Flügels innerhalb der Oligarchie und der Armee, der den aktuellen Staatspräsident Abdelaziz Boutefliqa wird scharf bekämpft und "pro-islamistischer Tendenzen" geziehen. Vor den Wahlen im April 2004 unterstützte die Redaktion den Boutefliqa feindlich gesonnen Flügel des FLN (der ehemaligen Staatspartei), und die aus seinen Reihen kommende Präsidentschaftskandidatur von Ali Benflis. http://www.lematin-dz.net/accueil/  

Liberté: Diese Tageszeitung gehört dem kabylischen Milliardär Ibrahim Rabrab. Wirtschaftlich eher pro-liberal, aber der Regierung, vor allem dem Staatspräsidenten Boutefliqa gegenüber (aus z.T. ähnlichen Gründen wie auch Le Matin) eher feindlich gegenüber stehend. Unterstützt die kabylische Regionalpartei RCD unter Saïd Sadi. http://www.liberte-algerie.com/  

La Tribune: Von dem ehemaligen algerischen Premierminister der Jahre 1989 bis 1991, Mouloud Hamrouche, und seinem Umfeld begründete Tageszeitung. Hamrouche leitete den Übergang vom Einparteienstaat zum Mehrparteiensystem ein, galt als "Reformer" und als "algerischer Gorbatschow". In wirtschaftlicher Hinsicht war er eher sozialliberal orientiert. ­"Seine" Zeitung liefert heute oft die differenziertesten Informationen und in jedem Fall die umfangreichsten Wirtschaftsnachrichten. http://www.latribune-online.com/  

El Watan (ungefähr: "Die Nation", oder "Die Heimat"): Diese Zeitung wurde ursprünglich mit Geldern aus Kreisen der Militärs, um den (Anfang August 04 zurückgetretenen) Generalstabschef Mohammed Lamari, begründet. Mitte der neunziger Jahre war sie jedoch mehrere Monate lang "suspendiert", also zeitweise verboten, da die zu unabhängigen JournalistInnen sich nicht an Verbote bezüglich der Veröffentlichung "sicherheisrelevanter" Informationen hielten, die während der Bürgerkriegsphase in Kraft waren. Seit zwei oder drei Jahren, nachdem sie einen Relaunch durchmachte und ihr Layout veränderte, sucht El Watan als nüchtern-seriöse Informations- und Qualitätszeitung zu reüssieren. Dazu gehört, stärker als sonst allgemein in der algerischen Presse üblich, eine Trennung von Bericht und Kommentar. http://www.elwatan.com/  

Le Quotidien d¹Oran: Ursprünglich eine reine Regionalzeitung in Westalgerien, die seit drei bis vier Jahren den Aufstieg zur überregionalen Zeitung geschafft hat. Zeichnet sich durch eine gewisse Qualität der Recherchen aus. Muss aber als eher regierungsnahe, und Präsident Abdelaziz Boutefliqa tendenziell unterstützend gelten. http://www.quotidien-oran.com/  

La Dépêche de Kabylie: Eine Neugründung der letzten anderthalb bis zwei Jahre. Auf die Kabylei ausgerichtet und sich teilweise regionalistisch gebend - aber unterstützt den Staatspräsidenten Abdelaziz Boutefliqa. Zeitungsdirektor ist Aymara, ein zwielichtiger Geschäftsmann, der keine Skrupel im Umgang mit den Mächtigen der algerischen Oligarchie zu kennen scheint. Während des Präsidentschaftswahlkampfs 2004 organisierte er Unterstützungskomitees für Präsident Boutefliqa im Ausland, d.h. in der französischen Emigrationsbevölkerung, die stark kabylisch geprägt ist. Das kommt in der aufmüpfigen Berberregion nicht besonders gut an, weshalb es mehrere Boykottaufrufe gegen das Blatt gibt. Seitdem Besucher der Zeitung im Internet direkt auf die offizielle Homepage der Wahlkampagne "Boutefliqa 2004" weitergeleitet wurden, ist auch der Webmaster der Zeitung zurückgetreten. Seitdem ist die Website "wegen Überarbeitung" nicht zugänglich... http://www.depechedekabylie.com  

Le Jeune indépendant: Diese Tageszeitung gilt als den militärischen Nachrichtendiensten nahe stehend. Sie wird auch benutzt, um Informationen oder Enthüllungen zu "lancieren". http://www.jeune-independant.com/  

La Nouvelle République: Eine kleine und nicht sonderlich bekannte Tageszeitung; interessant an ihr sind die Hintergrundartikel des linken Intellektuellen Radouane Osmane. Und in jüngerer Zeit die Berichte zu den lang anhaltenden Streikbewegungen der Lehrer in Algerien, an denen Osmane wesentlichen Anteil trug. http://www.lanouvellerepublique.com/site/  

Le Soir d¹Algérie: Eine Boulevardzeitung, die in den späten Neunziger Jahren entstand ­ ursprünglich, nach Aussage von MitarbeiterInnen, um Angehörigen der Oligarchie als Anlage zur Geldwäsche zu dienen. Die Zeitung lebt aber ebenso wie die meisten anderen in Algerien vom Improvisationstalent ihrer JournalistInnen, und kann daher auch als (ergänzende) Informationsquelle heran gezogen werden. http://www.lesoirdalgerie.com/  

El Moudjahid: Offizielles Verlautbarungsorgan in Algerien. Dereinst im Unabhängigkeitskrieg die Untergrundzeitung der bewaffnet kämpfenden Befreiungsfront FLN, wurde die Zeitung später zum öden Propagandainstrument der FLN-Staatspartei und betrieb langweilige Phrasendrescherei. Heute ist sie die Stimme des Präsidenten Abdelaziz Boutefliqa. Höchstens insofern interessant, als hier offizielle Texte oder Reden mitunter in voller Länge dokumentiert werden. http://www.elmoudjahid.com/  

Arabischsprachige Titel:  

El-Khabar (Die Nachricht) ist die erste arabophone private Tageszeitung in Algerien, die nach der Einführung des Pressepluralismus von 1989 gegründet wurde, und zwar im Jahr 1990. Acht Jahre lang war sie auch die einzige; dann kamen zwei kleinere Presseorgane in arabischer Sprache hinzu, Saout el-Ahrar (Die Stimme der Freien) und Er-Raï (Der Standpunkt, die Meinung). Nach wie vor bleibt El-Khabar die größte und führende arabischsprachige Zeitung im Land und bemüht darum, als seriöse Informationszeitung Anerkennung zu finden ­ ähnlich wie die französischsprachige El-Watan. http://www.elkhabar.com/  

El-Youm (Der Tag) wurde 1999 begründet und macht dem anderen großen arabischsprachigen Blatt seitdem erhebliche Konkurrenz. Die Zeitung zeichnet sich, unter Führung von Nacer Aloui, durch die Qualität ihrer Recherchen und ihre unabhängig-kritische Information aus. Auch die Militärs werden nicht mit Kritik verschont. www.el-youm.com/  

Editorische Anmerkungen

Der Autor schickte uns am 28 Aug 2004 seinen Artikel in der vorliegenden Fassung und das oben stehende Foto zur Veröffentlichung.