Tief(..) ist die Trennung der
Oppositionellen an der Einschätzung der Funktion
bürgerlich-konventioneller, von der Verfassung vorgesehener
Formen der Politik. Eine aufklärerisch orientierte APO, der es
primär auf die radikale Demokratisierung des Verfassungsstaates
ankommt, wird notwendigerweise zu einer anderen Strategie
kommen, als eine Opposition, die von einer kritisch
materialistischen Theorie ausgeht. Die letztere wird den
Parlamentarismus nicht an seinem möglicherweise realisierbaren
Gehalt messen, sondern nach seiner praktischen Transformation zu
einem Instrument der ökonomischen und sozialen Herrschaft
einschätzen. Und diese Trennung ist deshalb so wesentlich, weil
sie sozusagen am Fundament der Außerparlamentarischen Opposition
selbst stattfindet. Die konkrete Frage lautet, ob in der
langfristigen Perspektive des revolutionären Prozesses eine
andere Strategie als die der Verweigerung der Mitarbeit in
konstituierten Organen überhaupt möglich ist, auch wenn diese
Mitarbeit - etwa als oppositionelle Fraktion des Bundestages -
kurzfristig Erfolge verspricht: eine erhöhte Publizität zum
Beispiel; oder eine unmittelbare Präsenz gerade in den nicht
öffentlich tagenden Entscheidungsgremien; oder gar eine erhöhte
Respektabilität und Honorigkeit, die das Odium des Außenseiters
abbaut.
Es geht konkret darum, ob die
demokratischen und sozialistischen Kräfte, die demnächst sich zu
einer Wahlpartei formieren wollen, noch zur
außerparlamentarischen Opposition gehören. Denn diese Opposition
findet ihre spezifische Qualität, ihr Unterscheidungsmerkmal
nicht im zeitweiligen Ausgeschlossensein von der
parlamentarischen Tätigkeit und von der Regierungsmöglichkeit.
Sie ist APO nicht insofern sie sozialistisch opponiert, sondern
weil sie außerparlamentarisch die radikale sozialistische
Veränderung anstrebt. Daher zielt sie nicht auf einen Einbau in
den konstitutionell vorgesehenen Apparat
der politischen Herrschaft und damit auf die Chance einer
Revolution von oben, einer durch normale legislative Arbeit
herbeigeführten Umwälzung. Vielmehr sieht sie ihre eigene
emanzipatorische Funktion darin, jenseits des vorhandenen
Apparats eigene Entscheidungs- und Handlungszentren zu
entwickeln, die von unten her wirken. Eine außerparlamentarische
Opposition, die ins Parlament will, verliert ihre eigene
Qualität und wird eine systemadäquate Kraft, die vielleicht
durch die 5%- Klausel, nicht aber durch eine theoretisch
begründete Strategie sich genötigt sieht, außerparlamentarische
Opposition zu betreiben. (,...)
An der Organisationsfrage zeigt
sich die gleiche Widersprüchlichkeit, die in der
widersprüchlichen Einstellung zum Parlamentarismus liegt. Beides
ist miteinander verbunden. Die nicht-parlamentarische Strategie
fordert einen eigenen Organisations- und Disziplintypus, der die
gezielte Störaktion einzelner, dezentralisierter Gruppen ebenso
ermöglicht wie die langfristige Bewußtmachung und Aktivierung
der Massen. Beide Ziele zu vereinigen, wird nicht gerade leicht
sein. Eines steht aber organisations- theoretisch fest: keines
der beiden Ziele läßt sich verwirklichen mit einem
Verbandstypus, der strategisch an der Erhöhung parlamentarischer
Präsenz (schlicht: an einer Erhöhung der Bundestagsmandate) sich
orientiert und damit - ob man will oder nicht - in den Sog der
Entwicklung zur Wahlpartei geraten wird. Beteiligung am
Parlamentarismus verlangt eine bestimmte soziale Verhaltens- und
politische Aktionsweise. Die Parlamentspartei will nicht
desin-tegrieren, sondern legislative Arbeit machen. Es liegt
nicht in ihrem Interesse noch in der Verbesserung ihrer
Funktionalität, Massen durch Bewußtmachung ihrer Situation aktiv
zu radikalisieren. Vielmehr muß sie eine passive Radikalisierung
zu erreichen versuchen; das heißt: sie wird aus ihr eine passive
Wahlkonsumenten-Masse machen, die sich für radikale Kandidaten
entscheidet. Ihre ganze Organisation wird zwingend den Charakter
des Apparats annehmen, in den sie sich einbauen will. Sie muß
für die Einheitlichkeit des Images ebenso sorgen, wie für die
Einheitlichkeit des Auftretens bei Wahlversammlungen und im
Parlament. Das Wichtigste aber ist, daß sich das Verhältnis
zwischen der Organisationsführung und den Mitgliedern auf die
Erfordernisse der periodischen Wiederholung der Wahlen
einpendelt: einheitliche Mobilisierung der Mitglieder für den
Wahlkampf, nach den von der Führung festgelegten pragmatischen
Richtlinien. Eines Tages ist es dann soweit: Aktion und
Provokation werden abgesagt, weil Wahlen vor der Tür stehen; der
Generalstreik wird abgebrochen, weil der Präsident der Republik
die Kammer aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben hat.
Die permanente Mobilisierung
zunächst des Einzelnen, langfristig der Massen, setzt hingegen
eine Organisationsform voraus, in der die spontane Aktivität
freigesetzt wird und in der das Verhältnis zwischen
avantgardistischen Kadern und dezentralisiert spontanen Gruppen
sich zugunsten der Letzteren verschiebt. Theoretisch bedeutet
dies: eine Wahlpartei gewordene, konstitutionell festgelegte APO
entwickelt sich nach rechts zum Bürokratismus hin; eine APO, die
strategisch außerparlamentarisch bleibt, entwickelt sich nach
links.
Das ist nicht nur für den Erfolg
der revolutionären Strategie wichtig. Noch wichtiger ist dieses
Organisationsprinzip für den Erfolg der Revolution selbst. Wenn
Revolution Emanzipation der Massen bedeutet, so gilt es (wir
haben es schon gesehen), in der Organisierung des revolutionären
Prozesses die Freiheit prospektiv zu verwirklichen, das heißt
aber ein möglichst hohes Maß an Abweichung und Ungehorsam in die
gesellschaftlich notwendige Disziplin einzubezie-hen. Innerhalb
der APO hat wohl Peter Brückner am klarsten die Notwendigkeit
der dialektischen Verbindung von Disziplin und Ungehorsam sei es
für die Organisation der Umwälzung, sei es für die Organisation
der emanzipierten Gesellschaft, gesehen. Außerhalb der APO wird
man die Frage wohl nicht einmal verstehen können, weil die
Negation negativ aufgefaßt wird, der Ungehorsam als Verbrechen,
die Disziplin nicht als notwendiges Moment des
Produktionsprozesses, sondern als Grundelement der
gesellschaftlichen Anpassung.
Editorische Anmerkungen
Der Text erschien
1994 in der Zeitschrift SPEZIAL Nr. 95. Die Redaktion schrieb
damals dazu: Die hier abgedruckten Überlegungen von
Johannes Agnoli, die wir auszugsweise aus seinem Manuskript für
eine Sendung des Süddeutschen Rundfunks zitieren, liefern trotz
ihrer historischen Eingebundenheit gerade heute Denkanstöße für
linke und radikale Politikformen. Sie weisen nicht nur auf den
Don-Quichotte-C'harakter linker Wahlbeteiligung hin, sondern
nahmen schon damals die Wahlformation des staatssozialistischen
Ansatzes aufs Korn und den Kriechgang der
"Grünen" vorweg.
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