Neuwahlen & "Links"partei
Kandidieren oder opponieren?

Johannes Agnoli 1968 zur Zukunft der Außerparlamentarischen Opposition und der revolutionären Linken
09/05

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onlinezeitung

Tief(..) ist die Trennung der Oppositionellen an der Einschätzung der Funktion bürgerlich-konventioneller, von der Verfassung vorgesehener Formen der Politik. Eine aufklärerisch orientierte APO, der es primär auf die radikale Demokratisierung des Verfassungsstaates ankommt, wird notwendigerweise zu einer anderen Strategie kommen, als eine Opposition, die von einer kritisch materialistischen Theorie ausgeht. Die letztere wird den Parlamentarismus nicht an seinem möglicherweise realisierbaren Gehalt messen, sondern nach seiner praktischen Transformation zu einem Instrument der ökonomischen und sozialen Herrschaft einschätzen. Und diese Trennung ist deshalb so wesentlich, weil sie sozusagen am Fundament der Außerparlamentarischen Opposition selbst stattfindet. Die konkrete Frage lautet, ob in der langfristigen Perspektive des revolutionären Prozesses eine andere Strategie als die der Verweigerung der Mitarbeit in konstituierten Organen überhaupt möglich ist, auch wenn diese Mitarbeit - etwa als oppositionelle Fraktion des Bundestages - kurzfristig Erfolge verspricht: eine erhöhte Publizität zum Beispiel; oder eine unmittelbare Präsenz gerade in den nicht öffentlich tagenden Entscheidungsgremien; oder gar eine erhöhte Respektabilität und Honorigkeit, die das Odium des Außenseiters abbaut.

Es geht konkret darum, ob die demokratischen und sozialistischen Kräfte, die demnächst sich zu einer Wahlpartei formieren wollen, noch zur außerparlamentarischen Opposition gehören. Denn diese Opposition findet ihre spezifische Qualität, ihr Unterscheidungsmerkmal nicht im zeitweiligen Ausgeschlossensein von der parlamentarischen Tätigkeit und von der Regierungsmöglichkeit. Sie ist APO nicht insofern sie sozialistisch opponiert, sondern weil sie außerparlamentarisch die radikale sozialistische Veränderung anstrebt. Daher zielt sie nicht auf einen Einbau in den konstitutionell vorgesehenen Apparat der politischen Herrschaft und damit auf die Chance einer Revolution von oben, einer durch normale legislative Arbeit herbeigeführten Umwälzung. Vielmehr sieht sie ihre eigene emanzipatorische Funktion darin, jenseits des vorhandenen Apparats eigene Entscheidungs- und Handlungszentren zu entwickeln, die von unten her wirken. Eine außerparlamentarische Opposition, die ins Parlament will, verliert ihre eigene Qualität und wird eine systemadäquate Kraft, die vielleicht durch die 5%- Klausel, nicht aber durch eine theoretisch begründete Strategie sich genötigt sieht, außerparlamentarische Opposition zu betreiben. (,...)

An der Organisationsfrage zeigt sich die gleiche Widersprüchlichkeit, die in der widersprüchlichen Einstellung zum Parlamentarismus liegt. Beides ist miteinander verbunden. Die nicht-parlamentarische Strategie fordert einen eigenen Organisations- und Disziplintypus, der die gezielte Störaktion einzelner, dezentralisierter Gruppen ebenso ermöglicht wie die langfristige Bewußtmachung und Aktivierung der Massen. Beide Ziele zu vereinigen, wird nicht gerade leicht sein. Eines steht aber organisations- theoretisch fest: keines der beiden Ziele läßt sich verwirklichen mit einem Verbandstypus, der strategisch an der Erhöhung parlamentarischer Präsenz (schlicht: an einer Erhöhung der Bundestagsmandate) sich orientiert und damit - ob man will oder nicht - in den Sog der Entwicklung zur Wahlpartei geraten wird. Beteiligung am Parlamentarismus verlangt eine bestimmte soziale Verhaltens- und politische Aktionsweise. Die Parlamentspartei will nicht desin-tegrieren, sondern legislative Arbeit machen. Es liegt nicht in ihrem Interesse noch in der Verbesserung ihrer Funktionalität, Massen durch Bewußtmachung ihrer Situation aktiv zu radikalisieren. Vielmehr muß sie eine passive Radikalisierung zu erreichen versuchen; das heißt: sie wird aus ihr eine passive Wahlkonsumenten-Masse machen, die sich für radikale Kandidaten entscheidet. Ihre ganze Organisation wird zwingend den Charakter des Apparats annehmen, in den sie sich einbauen will. Sie muß für die Einheitlichkeit des Images ebenso sorgen, wie für die Einheitlichkeit des Auftretens bei Wahlversammlungen und im Parlament. Das Wichtigste aber ist, daß sich das Verhältnis zwischen der Organisationsführung und den Mitgliedern auf die Erfordernisse der periodischen Wiederholung der Wahlen einpendelt: einheitliche Mobilisierung der Mitglieder für den Wahlkampf, nach den von der Führung festgelegten pragmatischen Richtlinien. Eines Tages ist es dann soweit: Aktion und Provokation werden abgesagt, weil Wahlen vor der Tür stehen; der Generalstreik wird abgebrochen, weil der Präsident der Republik die Kammer aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben hat.

Die permanente Mobilisierung zunächst des Einzelnen, langfristig der Massen, setzt hingegen eine Organisationsform voraus, in der die spontane Aktivität freigesetzt wird und in der das Verhältnis zwischen avantgardistischen Kadern und dezentralisiert spontanen Gruppen sich zugunsten der Letzteren verschiebt. Theoretisch bedeutet dies: eine Wahlpartei gewordene, konstitutionell festgelegte APO entwickelt sich nach rechts zum Bürokratismus hin; eine APO, die strategisch außerparlamentarisch bleibt, entwickelt sich nach links.

Das ist nicht nur für den Erfolg der revolutionären Strategie wichtig. Noch wichtiger ist dieses Organisationsprinzip für den Erfolg der Revolution selbst. Wenn Revolution Emanzipation der Massen bedeutet, so gilt es (wir haben es schon gesehen), in der Organisierung des revolutionären Prozesses die Freiheit prospektiv zu verwirklichen, das heißt aber ein möglichst hohes Maß an Abweichung und Ungehorsam in die gesellschaftlich notwendige Disziplin einzubezie-hen. Innerhalb der APO hat wohl Peter Brückner am klarsten die Notwendigkeit der dialektischen Verbindung von Disziplin und Ungehorsam sei es für die Organisation der Umwälzung, sei es für die Organisation der emanzipierten Gesellschaft, gesehen. Außerhalb der APO wird man die Frage wohl nicht einmal verstehen können, weil die Negation negativ aufgefaßt wird, der Ungehorsam als Verbrechen, die Disziplin nicht als notwendiges Moment des Produktionsprozesses, sondern als Grundelement der gesellschaftlichen Anpassung.
 

Editorische Anmerkungen

Der Text erschien 1994 in der Zeitschrift SPEZIAL Nr. 95. Die Redaktion schrieb damals dazu: Die hier abgedruckten Überlegungen von Johannes Agnoli, die wir auszugsweise aus seinem Manuskript für eine Sendung des Süddeutschen Rundfunks zitieren, liefern trotz ihrer historischen Eingebundenheit gerade heute Denkanstöße für linke und radikale Politikformen. Sie weisen nicht nur auf den Don-Quichotte-C'harakter linker Wahlbeteiligung hin, sondern nahmen schon damals die Wahlformation des staatssozialistischen Ansatzes aufs Korn und den Kriechgang der "Grünen" vorweg.