Ökonomenlexikon
Bettelheim,
Charles

von Dietmar Schadow
09/05

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20.11.1913 Paris; französischer bürgerlicher Ökonom, Mitbegründer der Theorie der Planifikation, führender Vertreter .des gegenwärtigen Linksradikalismus.

B. studierte an der Pariser Univ. und ist seit 1939 Prof. für Wirtschaftswissenschaften. Von 1944 bis 1948 war er Direktor des Instituts für Sozialforschung und internationale Beziehungen im Arbeitsministerium in Paris, von 1948 bis 1952 Prof. für politische Ökonomie an der Ecole Practique des Hautes Etudes, Paris. B. leitete von 1945 bis Mitte der 50er Jahre eine UN-Mission zur Unterstützung der indischen Regierung beim wirtschaftlichen Aufbau des Landes. Von 1958 bis 1964 war er Prof. am Institut d'Etudes du Deve-loppement Economique et Social, Paris, sowie Chefredakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift »Probleme de planification« und Direktor des »Centre d'Etudes des Modes d'Industrialisation«. B. beschäftigte sich lange Zeit mit ökonomischen Problemen der kurz-und langfristigen Planung sowohl der Volkswirtschaft insgesamt als auch der einzelnen Zweige. Weitere Untersuchungen galten ausgewählten Aspekten der Produktion und Distribution des Bruttosozialprodukts bzw. des Nationaleinkommens, der Rolle des technischen Fortschritts, der Arbeitslosigkeit, den Prozessen in der Geld- und Kreditsphäre, Fragen des Außenhandels, des Kapitalexports sowie Wachstumsproblemen der Entwicklungsländer.

B. gehört zu den theoretischen Begründern der Planifikation, einer spezifisch französischen Variante der zentralen Wirtschaftsprogrammierung im staatsmonopolistischen Kapitalismus (Programmierung des gesamtwirtschaftlichen Reproduktionsprozesses). Mittels staatlicher Programme sollen wirtschaftspolitische Zielstellungen lang- und mittelfristig durchgesetzt werden, was umfangreiche Verstaatlichungen von Schlüsselindustrien zur Voraussetzung habe.

Als ' progressiver Ökonom analysierte B. auch ökonomische Prozesse in der Sowjetunion, in China. Kuba, Frankreich und Indien. Einige seiner Schriften liegen auch in russischer Übersetzung vor. Seine Arbeiten zu Wachstumsproblemen der wirtschaftlich schwachentwickelten Länder, vor allem Indiens, vermitteln einen auf fundierten Analysen beruhenden Einblick in die ökonomischen Entwicklungsprozesse, die er eng verbunden mit Problemen der spezifischen Klassenstruktur und tiefgreifenden sozialen Umwälzungen in Stadt und Land untersuchte. Obwohl B. von einem progressiven Standpunkt aus die sich hier vollziehenden ökonomischen und sozialen Prozesse aus politökonomi-scher Sicht untersuchte, vermochte er nicht, eine konsequent wissenschaftliche Einschätzung zum Beispiel der Grenzen der sogenannten Planung im Kapitalismus, vor allem aber eine Einschätzung der neuen Qualität der sozialistischen Planung, zu geben.

Im Laufe der 60er Jahre geriet B. auf die Positionen des Linksradikalismus, was sich insbesondere in einer »links«revisionistischen Bewertung der Entwicklung in der VR China zeigt. Die ausführliche Beschäftigung mit Entwicklungspro-Mernen der VR China führte bei B. zlir vorbehaltlosen Rechtfertigung aller politischen, ökonomischen und sozialen Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Politik des »Großen Sprungs nach vorn« und der »Proletarischen Kulturrevolution« durchgeführt wurden. t Die ökonomische Politik der »Vier Modernisierungen«, die seit dem Tode Mao Zedongs die Hauptrichtung der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas charakterisiert, wird von B. als gänzlicher Bruch mit der Linie und den Ideen Mao Zedongs und als »Großer Sprung zurück« eingeschätzt.
B.s linksradikale Sozialismuskonzeption basiert auf der Verwirklichung einer dezentralisierten Naturalwirtschaft. Aus der wachsenden Bedeutung des subjektiven Faktors beim Aufbau des Sozialismus leitet B. eine absolute Verselbständigung der Politik gegenüber der Ökonomie ab und ist der Auffassung, daß man sich über die Objektivität ökonomischer Gesetze und demzufolge über die Notwendigkeit, die Wirkungsweise ökonomischer Gesetze des Sozialismus zu berücksichtigen, hinwegsetzen könne, l. plädiert in der sozialistischen Wirtschaftspraxis für die Anwendung eines sog. Rotationssystems, d- h., »Leiter« und »Geleitete« wechseln periodisch, um Entfremdungserscheinungen und Bürokratie unmöglich zu machen. Bei seinen Analysen vermag B. nicht bis zu den grundlegenden Ur-achen der Entfremdung und der Bürokratie vorzudringen, die ihren Ausgangspunkt im privaten, speziell privatkapitalistischen Eigentum an den Produktionsmitteln haben. B. ignoriert, daß der hohe Vergesellschaftungsgrad der Arbeit und der Produktion im Sozialismus gesamtgesellschaftliche Planung und Leitung notwendig macht und ohne einen einheitlichen Willen, der die gemeinsame Arbeit leitet, nicht möglich ist.

Den realen Sozialismus diffamiert B. als »Übergangsgesellschaft« und »Staatskapitalismus«, vor allem aufgrund der Existenz von Ware-Geld-Beziehungen. Letztlich identifiziert B. kapitalistische und sozialistische Warenproduktion und leitet seine Wertungen aus der Existenz von Wertkategorien »an sich« ab. Sein linksradikaler kleinbürgerlicher Standpunkt läßt es nicht zu, den im realen Sozialismus gegebenen neuen sozialen Inhalt dieser Kategorien zu erfassen und die planmäßige sozialistische Warenproduktion und die sozialistischen Ware-Geld-Beziehungen als objektiv notwendige Mittel anzusehen, um eine Höherentwicklung des Sozialismus zu gewährleisten.

Publikationen: L'economie allemande sous le nazisme, Paris 1946 (dt.: Die deutsche Wirtschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1974); Les problemes theoretiques et practiques de la planification, Paris 1946 u. ö. (dt.: Theorie und Praxis der sozialistischen Planung, München 1971); L'economie sovietique, Paris 1950; Theories contemporaines de Femploi, Paris 1953; Longterm planning Problems, London 1956; Wachstumsprobleme der wirtschaftlich schwachentwickelten Länder. In: Wirtschaftswissenschaft, Berlin 1960, H. 5; Studies in the theory of planning, Bombay 1961; Some basic planning Problems, Bombay 1961; Planification et croissance acceleree, Paris 1964; Les cadres socio-economiques et ['Organisation de la planification so-ciale, Paris 1965; La construction du socialisme en Chine (mit J. Charriere u. H. Marchisio), Paris 1965 (dt.: Der Aufbau des Sozialismus in China, München 1972); La transition vers l'economie socialiste, Paris 1968; Zur Kritik der Sowjetökonomie (Mitautor), hg. von P. Strotman, Berlin (West) 1969; Wertgesetz, Planung und Bewußtsein (Mitautor), Frankfurt a. M. 1969; Calcul economique et formes de propriete, Paris 1970 (dt.: Ökonomischer Kalkül und Eigentumsformen. Zur Theorie der Übergangsgesellschaft, Berlin [West] 1970); Les lüttes de classes en U.R.S.S., Bd. 1-3, Paris 1974-1977 (dt.: Die Klassenkämpfe in der UdSSR, Bd. l, 2, Berlin [West] 1975 u. 1980); China since Mao, Paris 1978; Questions sur la Chine apres la morte de Mao, Paris 1978.

Literatur: J. S. Lautenbach: Zur Kritik linksradikaler Entstellungen der sozialistischen Produktionsweise. Diss. A, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1982; D. Schadow: Marxistisch-leninistische politöko-nomische Auseinandersetzung mit den Angriffen des gegenwärtigen Linksradikalismus auf den realen Sozialismus. Diss. A, Humboldt-Univ. zu Berlin, Berlin 1982; K.O.W. Müller: Politische Ökonomie des Linksradikalismus, Berlin 1984: Geschichte der politischen Ökonomie. Grundriß, Berlin 1985.

Editorische Anmerkungen

Der Text stammt aus: Krause, Werner; Graupner, Karl-Heinz & Sieber, Rold (1989). Ökonomenlexikon. Berlin: Dietz. S. 46ff

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