Neuwahlen & "Links"partei

Wählen ist verkehrt
09/05

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Der Bundeskanzler stellt die Machtfrage 

Das deutsche Volk ist unzufrieden mit seiner rot-grünen Regierung. Diese Unzufriedenheit gibt es so zu Protokoll wie es ihm in der Demokratie erlaubt ist: es wählt die Opposition in mehreren Landtagswahlen an die Regierungsmacht. Das hat beim Bundeskanzler zu großer Unzufriedenheit mit seiner Macht geführt. Im Bundesrat ist Schröder mit einem beständigen Machtzuwachs der C-Parteien konfrontiert, die zwar wichtige Gesetze wie die Gesundheitsreform oder die Hartzgesetze nicht verhinderten. Dennoch musste er sich bei seinen Gesetzen immer wieder mit der Opposition arrangieren und sieht darin eine Beeinträchtigung seiner Politik. Auch innerhalb der SPD mehren sich die kritischen Stimmen an der Agenda 2010, weil viele SPD-Politiker bei Fortführung dieses Programms mit weiteren Wahlniederlagen rechnen und darüber ihre Mandate verlieren. Deswegen ist Schröder ständig mit Anträgen aus der eigenen Partei konfrontiert, die seinen Kurs einschränken oder abmildern wollen. Dem Bundeskanzler stößt seine schleichende Entmachtung durch die Unzufriedenheit im Volk auf; so will er jedenfalls nicht mehr weiterregieren. Deswegen kündigt er nach einer weiteren großen Wahlschlappe in Nordrhein-Westfalen nicht etwa seinen Rücktritt, sondern Neuwahlen an. 

Bemerkenswert an diesem Akt ist die Art und Weise wie Schröder mit der Unzufriedenheit im Volk, die den Ausgangspunkt für die Neuwahlen bildet, umgeht. Die ist jedenfalls kein Grund für ihn inhaltlich auf sie einzugehen, ihr entgegenzukommen oder gar Abstriche an seiner Politik zu machen. Stattdessen sorgt er mit den Neuwahlen dafür, dass ab sofort nur noch seine Unzufriedenheit mit seiner Macht gilt. Er tritt mit derselben Politik zu neuen Wahlen an um sich als Bundeskanzler bestätigen zu lassen und wieder freie Hand bei der Umsetzung seines Programms zu haben! Wie er regiert, da lässt er sich nicht hineinreden. Das ist allein seine Sache. Der Zweck der Neuwahlen besteht für ihn also in einer neuen Ermächtigung zu seiner Politik. Der Unzufriedenheit im Volk begegnet er damit mit der unverschämten Frage: „Meine Politik ist notwendig. Also gibt es nur eine Frage: Ich oder Merkel?“ Er erstickt jede Kritik an seiner Politik, die er als notwendigen Sachzwang und damit als unkritisierbar unterstellt, indem er darauf abhebt, wer sie macht. Statt weiter unzufrieden herumzunörgeln und der SPD weitere Wahlniederlagen zu bescheren, soll sich das Volk nur die eine Überlegung machen: wer soll die notwendigen Reformen umsetzen? Dabei spekuliert er darauf, dass die Mehrheit ihn als den besseren Führer einschätzt. Er „kann es“ schließlich „besser“. Schröder verwandelt so die Unzufriedenheit im Volk in eine Frage nach der Person, die die Macht haben und die Staatsnotwendigkeiten vollstrecken soll. Damit stellt er klar, dass das Volk in der Wahl im September keinen Einfluss darauf hat, welche Politik in der folgenden Legislaturperiode betrieben wird. Es entscheidet einzig und allein darüber, wer in den nächsten vier Jahren die Macht in der BRD besitzt. Unzufriedenheit mit der Politik führt in der Demokratie also nicht zu einem Politikwechsel, sondern nur zur Frage, wer sie durchsetzt! 

Dass die einzige Funktion von Wahlen die Ermächtigung der Politik, die Ausstellung einer Blankovollmacht für ihre Zwecke ist, und der Wähler dabei nur als Instrument der Ermächtigung vorkommt, ist kein Missbrauch von Wahlen, sondern schon immer ihr Inhalt gewesen. Schröder erfindet die Demokratie nicht neu, sondern bringt sie auf den Punkt. 

Der Inhalt der Wahl: pure Ermächtigung 

In jedem Sozialkundeunterricht erfährt man über Wahlen, dass sich da der Bürger – je nach seinem Interesse – einen Repräsentanten (egal ob Parteien oder einzelne Personen) wählt. Dieser soll dann als Delegierter des Bürgerwillens mit den Repräsentanten der anderen Interessen streiten und schließlich in Form eines Kompromisses zu einem Ausgleich zwischen den mannigfaltigen Interessen kommen.  

Diese Vorstellung wird nicht nur von Schröder widerlegt. Jede Wahl dementiert diese Vorstellung praktisch. Erstens ist nämlich ausdrücklich untersagt, eigene Interessen auf den Wahlzettel zu schreiben. Wer das tut, macht seine Stimme ungültig. Auch ist der Parlamentarier, den man wählt, nicht an die Wählerinteressen gebunden und wird seines Mandats enthoben, wenn er diese nicht vertritt. Er ist allein seinem Gewissen verpflichtet. Auf dem Wahlzettel werden dem Wähler drittens keine Interessen vorgelegt, die er ankreuzen könnte, sondern alternative Parteien bzw. Personen. So befindet der Wähler bei der Wahl nicht darüber, was er will, sondern wen er will. Das Wahlergebnis bestimmt darüber, welche Personen die getrennt von jeder Wahl feststehenden Ämter bekleiden. Die Amtsträger definieren und verfolgen dann von Amtswegen die Interessen des nationalen Staatswesens. Sie definieren beispielsweise, dass deutsche Interessen weltumspannend sein sollen und am Hindukusch verteidigt gehören. Sie legen fest, dass für den Gewinn der Standortkonkurrenz der bisherige Sozialstaat zur unbezahlbaren Last geworden und das Volk zu verarmen ist. Sie legen ganz andere Interessen fest, die nicht zur Abstimmung stehen und auf die der Bürger mit seiner Wahlentscheidung keinen Einfluss hat. Wenn er sich aber die Frage stellen lässt, wer die Amtsgeschäfte ausführen soll, bekennt er sich zur hiesigen Geschäftsordnung. Wer sich überlegt, wer es machen soll, der gibt zu Protokoll, dass diese Geschäfte erledigt gehören, also in Ordnung gehen. 

Nach der Wahl entscheiden die Amtsträger ganz frei über die nationalen Interessen und machen sie für alle verbindlich. Sie regieren. Ihr Amt gibt ihnen die Macht, das, was sie beschließen, gegen alle anderen Interessen durchzusetzen. Dann sind die nationalen Interessen, die sie definieren und verfolgen, aber nicht nur einfach andere Interessen. Sie stehen im Gegensatz zum Bürger, wenn die Amtsträger die Macht haben, die Beschlüsse gegen ihn durchzusetzen. Ansonsten wäre es absurd, jemandem diese Machtbefugnisse auszusprechen. 

Das Ergebnis der Wahl ist also, dass die Amtsträger ermächtigt worden sind, nationale Interessen zu definieren und zu verfolgen. Der Wähler ist deswegen aus der Politik ausgemischt. Ab sofort ist seine Auffassung von Politik nur noch folgenloses Genörgel. Er ist nur noch betroffen. Kaum wurde gewählt und die neue Regierung macht sich an ihr Geschäft, werden auch schon die ersten Klagen laut. Der deutsche Rentner z.B. gibt zu Protokoll, dass er nie und nimmer die SPD gewählt hätte, wenn er vor der Wahl gewusst hätte, dass Schröder mit seiner Agenda einen einzigen Anschlag auf die Rente vorhat. „Die da oben machen doch was sie wollen!“, beschwert sich dann im Nachhinein mancher Wähler. Doch um einen Wahlbetrug handelt es sich dabei ganz sicher nicht. Die Klage gibt im Gegenteil Auskunft darüber, dass der Wähler dem Gewählten in Wahrheit eine Blankovollmacht ausstellt. Weil er die Regierung ermächtigt, unabhängig von seinen Interessen Sachen zu beschließen, kommt es immer sofort nach der Wahl zu den ersten Enttäuschungen und Unzufriedenheiten auf Seiten der Bürger. Der Wähler tritt also im Wahlakt seinen Willen an die Gewählten ab. Die sollen an seiner Stelle über sämtliche Abteilungen der Gesellschaft befinden. 

Das Wahlverfahren 

In jedem Sozialkundeunterricht erfährt man, dass der Bürger in der Wahl seine Interessen vertrete. Die Stimmabgabe wäre in etwa so was wie die Formulierung von Interessen, die zusammengezählt und gesammelt würden. Die Interessen, die die Mehrheit bekommen haben,  dürften in den nächsten vier Jahren Gültigkeit beanspruchen.

Für die Ermittlung und Beratschlagung über die Gültigkeit von Interessen wäre dieses Verfahren absurd. Ginge es bei der Wahl tatsächlich um so etwas wie die Formulierung und Vertretung eigener Interessen, wären Wahlen dafür völlig untauglich. Ob ein Interesse vernünftig ist und durchgesetzt gehört, macht man doch nicht davon abhängig, ob die Mehrheit der Gesellschaft auch dafür ist. Das ist doch eine Frage von guten oder schlechten Gründen. Umgekehrt gibt es Interessen, die, auch wenn sie eine Mehrheit hinter sich versammeln würden, vernünftigerweise keine Gültigkeit beanspruchen dürften. Wenn die Mehrheit der Gesellschaft für die Verfolgung aller im Land lebenden Ausländer wäre, würde sich jeder vernünftige Mensch gegen dieses Interesse verwehren und es kritisieren, damit es unterbleibt. Schon am Wahlverfahren sieht man also, dass es um die Formulierung von eigenen Interessen nicht geht. Ginge es darum, müsste man sich beschweren.  

Dafür passt dieses Verfahren goldrichtig zu der Frage, die die Parteien selbst neu entschieden haben wollen: Wer darf an die Regierungsmacht? Es generiert nämlich für jede Partei in Prozent ausgedrückte Stimmanteile, mit denen die Parteien in ihre Konkurrenz um die Regierungsämter gehen. Wer letztendlich die Regierungsmacht bekommt, entscheiden die Parteien unter sich.

Wenn das Wahlkreuz des Wählers allein die Wer-Frage entscheiden soll, sich der Wähler also dafür hergeben soll, dass er mit seinen Volksgenossen den Dienstleister an dem Konkurrenzkampf der Parteien um Sessel gibt, muss im Wahlkreuz jedes Interesse des Wählers getilgt sein. Dafür ist gründlich gesorgt. Jedes Wahlkreuz zählt nämlich gemäß der freien, gleichen und geheimen Wahl gleich, als Teilquantum einer Gesamtmasse von Stimmen, also als eine Stimme. Das ist gar nicht so banal, wie es klingt, denn immerhin haben die Wähler für ihr Kreuz bestimmte Gründe. Der eine wählt Merkel, weil sie eine Frau ist, ein anderer, weil er Schröder nicht leiden kann, wiederum ein anderer, weil er die angekündigte Politik der CDU befürwortet, ein weiterer will bloß das kleinere Übel wählen und der nächste findet sie sympathischer als den Schröder. Diese teilweise gegensätzlichen Gründe für das gleiche Votum sind im Wahlkreuz ausgelöscht und zählen nichts. Der bestimmte Wille tritt nur noch als eine Stimme auf, als rein quantitativ gemessener Wille, der mit den anderen leeren Willen zu einer Gesamtmenge zusammengerechnet wird. Sonst hätte man nämlich schlicht und ergreifend verschiedene oder gegensätzliche Willensinhalte vor sich, weswegen man sie gar nicht zusammenzählen könnte. Die einzelnen Stimmen werden zusammengezählt und ergeben so das prozentual ausgedrückte Endergebnis der Wahl. Damit ist klar, dass die eigene Stimme erst einmal gar nichts bewirkt. Ob man mit dem eigenem Votum später zur Mehrheit gehört, hängt schließlich davon ab, wie viele andere Leute an derselben Stelle ihr Kreuz gemacht haben. Ob der im Wahlkreuz ausgedrückte eigene Wille Gültigkeit hat, hängt also vom puren Zufall ab. Jeder Wähler erklärt sich damit einverstanden, dass seine Stimme nur im Verhältnis zu allen anderen Stimmen zählt, also damit, dass er sich letztendlich der Mehrheit beugt. Das Wahlkreuz erklärt also den eigenen Willen für unmaßgeblich!  

Ein Fazit: Die Demokratie sorgt institutionell dafür, dass die Wählerinteressen in der Politik keine Rolle spielen. Sie verwickelt das Volk in die Frage, die nur die Herrschenden haben: wer darf es machen. Schröders Zuspitzung – die oder ich – ist also der Witz an dieser Herrschaftsform und keine Entgleisung. Die Unzufriedenheit des Volkes mit seiner Regierung ist der Ausgangspunkt für die Neuwahlen. Der Kanzler sorgt mit der Wahlansetzung dafür, dass nur noch seine Unzufriedenheit mit seiner Macht gilt. Wenn der Wähler am 18. September seiner Unzufriedenheit Luft macht und ein Kreuz setzt, bleibt von seiner Unzufriedenheit genau so viel übrig: sie ist Schmiermittel und Material für die Konkurrenz der Machtgeier. Seine Unzufriedenheit ist durch das Wahlverfahren in Zustimmung zur Herrschaft umgemünzt!

Gruppe Keine Alternative, September 2005

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Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns von Gruppe „Keine Alternative am 15.9.2005 zur Veröffentlichung überlassen.