Von der Volks- zur Klassenpartei
Zur Transformation des Parteiensystems in der Bundesrepublik

von Gregor Kritidis (sopos)
09/05

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"Ein Gespenst kehrt zurück" titelte der Spiegel Ende August und ließ Karl Marx mit gestrengem Blick und Victory-Zeichen von den Auslagen der Trinkhallen und Kioske auf das bundesdeutsche Proletariat blicken.[1] Und die taz wartete Mitte September mit der programmatischen Frage auf : "Wissen Sie, was heute links ist?"[2] Zur Aufklärung trugen beide Publikationen weniger bei, eher zum Gegenteil. Während der Spiegel mit dem Vorsitzenden der "Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft" sogar einen expliziten Antimarxisten bemühte, zwei Ausgaben später mit Rudolf Hickel aber immerhin einen an Marx geschulten linkskeynsianischen Ökonomen zu Wort kommen ließ,[3] versammelte die taz einen Fundus von Beiträgen, unter denen sich nicht einmal ein intellektuell profilierter Vertreter der marxistischen Linken befand.[4] Immerhin: Die Debatte um gesellschaftliche Alternativen ist in der breiteren Öffentlichkeit, nach dem 18. September auch im Bundestag, wieder eröffnet.

Die Rückkehr von Karl Marx in die Gazetten und in die parlamentarische Debatte kommt freilich nicht von ungefähr. Nachdem ein relevanter Teil der sozialdemokratischen Wähler beim Urnengang in NRW in diesem Jahr dem Kurs der Partei die Gefolgschaft verweigert hat, ist ins Bewußtsein getreten, daß die SPD-Führung um Schröder die SPD faktisch gespalten hat. Mit der Gründung der WASG hat sich der aktive, an den Erfahrungen und Interessen der Kolleginnen und Kollegen orientierte Gewerkschaftsflügel verselbständigt; durch die Kooperation mit der nun zur Linkspartei umbenannten PDS zu den Wahlen ist eine Formation entstanden, die dem politischen Establishment noch erhebliche Kopfschmerzen bereiten wird. Allein durch die Tatsache, daß es zukünftig eine parteipolitische Kraft geben wird, die an den Interessen der Lohnabhängigen orientiert ist, hat die Diskussion in der bürgerlichen Öffentlichkeit geöffnet. Die jahrelange, fast hermetische Ausgrenzung kritischer Positionen und das Ausblenden der neuen sozialen Frage ist durch die Aktion der (Wahl-)Verweigerung in NRW aufgebrochen worden. Selbst im Deutschlandfunk ist das Neue Deutschland mittlerweile zitierfähig geworden. Diese "neue Macht der Linken" (Spiegel) hat die etablierten Parteien des bürgerlichen Kartells erheblich unter Druck gesetzt. Stoibers Ausfälle gegen die "frustrierten" Ostdeutschen belegen das ebenso wie die erneuten antikommunistischen Kampagnen, die auf die Stasi-Verwicklungen von Linkspartei-Protagonisten abheben. Aber es wird kaum gelingen, ehemalige Reformkommunisten wie Gregor Gysi auf diese Art in die Ecke zu drängen, nachdem derartige Kampagnen in den letzten Jahren mit schöner Regelmäßigkeit gescheitert sind. Der Antikommunismus hat seine argumentative Schubkraft mit dem Fall der Mauer historisch eingebüßt.[5] Das wird sinnfällig, wenn auf Wahlplakaten Oskar Lafontaine mit dem Schriftzug "Vorsicht SED" versehen wird - man hätte genauso gut "Vorsicht, SPD" plakatieren können.

Man sollte sich weder vom Wahlkampf noch von den kurzatmigen Wahlanalysen den Blick auf die grundlegenden sozialen Entwicklungen und politischen Verschiebungen der letzten Jahre verstellen lassen. So ist die Bundesrepublik mit dem Anschluß der DDR norddeutscher und protestantischer geworden.[6] Die CSU als bayrische Regionalpartei hat seit 1989 relativ an Gewicht verloren. Daß sich dieser relative Bedeutungsverlust nicht aufhalten lassen würde, war der CSU bei der Vereinigung bewußt, nur scheiterte seinerzeit ihre mit der Gründung der DSU geplante Ausdehnung nach Sachsen. Es spricht nicht für die intellektuellen Qualitäten Stoibers, diesen Zusammenhang aus dem Blick verloren zu haben.

Für die CDU gilt ähnliches: Ihr großer Erfolg nach dem Faschismus hatte darin bestanden, die bürgerlichen Kräfte konfessionsübergreifend zu vereinen und unter dem Banner des christlich-demokratischen Abendlandes und des Antikommunismus die Hegemonie zu erlangen. Die Säkularisierung nach 1968 und dem Anschluß der DDR hat die Bindekraft der traditionellen christlich-konservativen Milieus und damit die CDU geschwächt. Man lasse sich vom Papst-Besuch nicht täuschen: Für eine klerikale Politik steht der Wind in Deutschland nicht günstig. Wollte die CDU ihrem politischen Selbstverständnis gerecht werden, müßte sie eine offensive Kampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei führen. Daß sie dies nicht tut, sondern lediglich für eine "privilegierte Partnerschaft" der Türkei mit der EU propagiert, gibt einigen Aufschluß über die politische Orientierung innerhalb der sozialen Eliten, gegen deren Medienmacht solche Kampagnen nicht zu realisieren sind.[7]

Für einflußreiche Kapitalfraktionen ist zudem die traditionell dominante West-, d.h. USA-Bindung der CDU weniger bedeutsam; wer die eigenen, "deutschen" Großmachtinteressen verfolgen will, muß versuchen, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Regierung Schröder/ Fischer hat bei all ihrer imperialistischen Unerfahrenheit diese Eigenständigkeit bewiesen. Die Verbindungen nach Paris, Moskau und Peking haben im Vergleich zu denen nach Washington eine größere Bedeutung erlangt. Und damit kann die CDU genauso wenig dienen wie mit einem Brückenschlag in die Türkei.

Daß Rot-Grün aus dieser Lage der CDU/CSU nur mit Mühe Kapital schlagen kann, liegt am Legitimationsverlust des neoliberalen Parteienkartells insgesamt. Die Aufkündigung des postfaschistischen, "asymmetrischen Klassenkompromisses" (Peter von Oertzen) zerstört nicht nur den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern unterhöhlt zwangsläufig auch die traditionellen Parteibindungen. Mit der Demontage des Sozialstaats hat das Konzept der "Volkspartei", das in den 50er Jahren innerhalb der Arbeiterbewegung ebenso umkämpft war wie die rote Fahne oder die Anrede "Genosse", an Überzeugungskraft verloren. Mit der Spaltung der SPD, der Gründung der WASG und der Fusion zur Linkspartei vollzieht sich nun im Kern der umgekehrte Prozeß: da die Integration breiter Teile der Bevölkerung nicht mehr gelingen kann, bildet sich eine neue, an Klasseninteressen orientierte Partei heraus. Von dieser Dynamik sind freilich auch die anderen Parteien betroffen. Die CDU als Partei mit dem zeitweise größten Anhang an ArbeiterwählerInnen hat sich mit ihrer Steuerdiskussion größte Mühe gegeben, sich am rechten Rand des neoliberalen Mainstreams zu positionieren und damit die Illusionen und Hoffnungen breiter Wählerschichten zu zerstören. Sollte die CDU in den kommenden Wochen Regierungsverantwortung übernehmen,[8] dürften sich ähnliche Abspaltungsprozesse vollziehen wie bei der SPD. Schon jetzt hat es Übertritte von der CDA zur Linkspartei gegeben. Die an Marx geschulte Linke sollte diese Prozesse nach Kräften befördern und die Diskussion mit dem sozialkatholischen Flügel suchen. Eine Klassenpartei, die die alten Traditionsströmungen der Arbeiterbewegung der Weimarer Zeit - SPD, KPD und katholisches Zentrum - umfaßt, deren traditionelle Differenzen überwindet und deren politischen Konzeptionen aktualisiert, wäre ein gewaltiger historischer Schritt nach vorn. Zudem wäre ein Kopf wie Norbert Blüm ein idealer Gegenspieler zu Oskar Lafontaine, der eher einem antietatistischen Syndikalismus zugeneigte Sozialkatholizismus ein ideales Gegengewicht zur mehr protestantisch und preußisch geprägten PDS. Man soll die Rolle einzelner Personen jedoch nicht überbewerten; so verdienstvoll der Schulterschluß von Gysi und Lafontaine ist - beide sind Repräsentanten des Übergangs und werden die neue Partei in wesentlich geringerem Ausmaß prägen, als der Medienhype derzeit suggeriert.

Im Kern würde sich mit einer derartigen Vereinigung auf parteipolitischer Ebene das vollziehen, was in den Gewerkschaften schon Realität ist: Dort ist das Prinzip der Einheitsgewerkschaft verwirklicht, allerdings unter politischer Führung der SPD.[9] Es wird eine zentrale Aufgabe der Linken (nicht der Linkspartei) in den Gewerkschaften sein, diese Dominanz der SPD aufzuheben und den Weg für einen konfrontativeren, antikapitalistischen Kurs zu ebnen.

Die Grünen bilden im gewissen Sinne einen Sonderfall, der eingehender Betrachtung bedarf.[10] Bislang tun die Grünen so, als hätten sie mit der staatlich betriebenen Sozialdemontage nichts zu tun, weder als deren Akteure noch als deren Leidtragende. Das ist definitiv nicht so, die Grünen waren von Beginn an auch und gerade die politische Repräsentanz des Milieus der modernen Arbeitnehmer.[11] Eine irgendwie geartete sozial- oder gewerkschaftspolitische Programmatik, die dieser Klientel angemessen wäre, haben die Grünen jedoch nie entwickelt.

Die Gründung der Grünen ist eine Spätfolge der Formierung der Neuen Linken nach 1968, die quasi im Widerstand gegen den sozialstaatlichen politischen Kompromiß nach 1945 entstanden ist. Ihre Voraussetzungen waren "Wohlstandsgesellschaft und Kalter Krieg",[12] nicht die soziale Frage der alten Arbeiterbewegung mit ihrer Zentrierung um die kapitalistische Fabrik, sondern die Reproduktionssphäre und "weiche" Bereiche wie der Bildungssektor standen seinerzeit im Brennpunkt der Auseinandersetzung.[13] Die Unterbelichtung der sozialen Frage in der Neuen Linken setzte sich innerhalb der Grünen fort, zumal die "Gattungsfrage", d.h. die Frage nach dem Überleben der Menschheit angesichts ökologischer Katastrophen, einen höheren Stellenwert bekam als die Klassenfrage, die scheinbar an das Ende ihrer historischen Bedeutung gekommen war.[14] Der Zusammenhang von sozialer und ökologischer Frage wurde nie systematisch hergestellt. Die Grünen pflegen seither die Illusion, jenseits der sozialen Auseinandersetzung zu stehen und eine progressive Politik bar jeder Interessenbindung zu betreiben. Diese Illusion - oder besser: Ideologie - macht sie anfällig für neoliberal-kapitalistische Konzepte á lá Metzger oder Göring-Eckart, während die traditionelle Friedenspolitik mit der Behauptung, man betreibe nicht etwa Interessenpolitik für einen kapitalistischen Staat, sondern lasse sich bei der Bombardierung Jugoslawiens von moralischen Imperativen leiten, in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Die traditionelle grüne Kritik am Lebensstil breiter ArbeiterInnenschichten ist mittlerweile vielfach in Mittelschicht-Ressentiments umgeschlagen. Die berechtigte Kritik an der Form des kapitalistischen Massenkonsums wird gar reaktionär, wenn sie die Verzichtskampagnen der Eliten ummanteln oder die eigene soziale Position absichern soll. Dieses Phänomen des "Unterschichtenbashing" (Klaus Walter) ist auch innerhalb der kulturrevolutionären Linken weit verbreitet. Angesichts einer allgemeinen Verunsicherung, die weit bis in die Mittelschichten hineinreicht, sind derartige Abgrenzungskämpfe nachvollziehbar, aber alles andere als emanzipativ. Diejenigen, die den "Postmaterialismus" á la Hartz IV jetzt am eigenen Leib zu spüren bekommen, sind für eine neuen sozial-ökologische Agenda dagegen durchaus ansprechbar. Die Gründung von Attac in Deutschland und die Unterstützung der Linkspartei durch Attac-AktivistInnen belegt, daß es innerhalb von Teilen des ökologischen Spektrums eine Neuorientierung gegeben hat. Die Diffamierung der Antiglobalisierungsbewegung durch grüne Spitzenfunktionäre wie Fischer und Cohn-Bendit hat zudem gezeigt, daß ihnen sehr wohl klar geworden ist, daß sich hier der aktivste Teil der eigenen Basis verselbständigt hat und ihre Position faktisch untergräbt.

Die soziale Transformation der Industriegesellschaften, die in Deutschland mit Rot-Grün eine neue Dynamik gewonnen hat, birgt Risiken, die es zu vermeiden, und Chancen, die es zu nutzen gilt. Ein neues emanzipatives Projekt ist möglich und notwendig. Seine Möglichkeit kann aus Kooperation und Solidarität erwachsen, die angesichts der globalen Arbeitsteilung notwendigerweise über den nationalen Rahmen hinausgehen muß. Seine Notwendigkeit ergibt sich aus der Entdemokratisierung und den sozialen und ökologischen Verwüstungen des Neoliberalismus. Eine erstarkte Linkspartei kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten, sofern sie den Wählerauftrag vom 18. September ernst nimmt: Gegen eine Politik anzusteuern, welche die Lebensinteressen der Menschen bedingungslos unter die Herrschaft kapitalistischer Verwertung zwingen will. In der Konsequenz kann das nur heißen, in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern die SPD entweder zu einer Kehrwende zu zwingen oder aus diesen "rot-roten" Koalitionen auszuscheiden. Linke, respektive sozialistische Politik verträgt sich nicht mit dem Schutz der Interessen von Geldvermögensbesitzern, der Privatisierung öffentlicher Dienste, Tarifflucht oder der Schließung von Bibliotheken in Arbeiterwohnbezirken. Wenn man das politische Gewicht zur Gestaltung hat - gut. Hat man es nicht, sollte man nicht so tun, als ob, sondern den Widerstand organisieren.

Anmerkungen:

[1] Spiegel v. 22.8.2005.

[2] Tageszeitung v. 10./11. September 2005.

[3] Spiegel v. 5.9.2005.

[4] Richtig Kritik üben durfte mit Peter Gauweiler nur ein erklärter Rechter. Das liest sich dann so: "Vieles wird in einer Art Neusprech vermischt. Oftmals sind die Begriffe links - und was dahintersteht, ist rechts. Denken wir nur an die als ‚Friedensmission' getarnte Bombardierung von Belgrad ohne Kriegserklärung unter Rot-Grün." Ob er als Rechter diesen Krieg gerechtfertigt fand, nur gerne eine formal-korrekte Kriegserklärung gehabt hätte, ließ Gauweiler allerdings offen.

[5] Da hilft es auch wenig, wenn in der taz in einer Anzeige einer dubiosen "Aktion für ein lebenswertes Deutschland" vor der Linkspartei gewarnt wird, diese verteidige den Mauerbau. Allemal wäre es zutreffender, der CDU vorzuwerfen, sie habe die Spaltung Deutschlands betrieben, um die Positionen der NS-Funktionäre in Wirtschaft und Gesellschaft zu schützen.

[6] Die gesamtdeutsche Perspektive der SPD in den 50er Jahre fußte genau auf der Annahme, in einem wiedervereinigten Deutschland - zumal ohne die ländlichen Gebiete Ostpreußens - würde die Sozialdemokratie zur stärksten politischen Kraft werden.

[7] Selbst die Bild-Zeitung gibt sich vergleichsweise harmlos, selbst wenn sie dagegen polemisiert, daß die SPD um die Stimmen der türkischstämmigen Wähler buhlt. Vgl. "Entscheiden die Türken die Wahl?" Bild v. 14.9.2005.

[8] Auch wenn man eine Ampel nicht vorzeitig ausschließen sollte (es wäre nicht das erste mal, daß die FDP politisch "umgefallen" wäre): Eine große Koalition ist angesichts der Bundesratsmehrheit der CDU/CSU naheliegend. Faktisch wäre das die Fortsetzung der bisherigen informellen großen Koalition mit offiziellem Trauschein.

[9] Ein ähnlicher Prozeß erfolgte in den 50er Jahren in NRW unter den Bedingungen der Restauration. Dort sammelte sich ein großer Teil sowohl der Anhängerschaft der KPD als auch der CDU unter dem Dach der SPD, die bis zu den Wahlen in diesem Jahr dort politisch hegemonial war.

[10] Die FDP, nach dem Krieg ein Sammelbecken für NS-Funktionäre, war immer schon eine bürgerliche, vor allem wirtschaftsliberale Klassenpartei.

[11] Vgl. Peter v. Oertzen, Zum Verhältnis von "Neuen Sozialen Bewegungen" und Arbeiterbewegung. Zur Sozialstruktur des grünen Wählerpotentials. In: Ders., Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft. Hrsg. v. M. Buckmiller, M. Vester und G. Kritidis. Hannover 2004.

[12] Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991. Berlin/Hamburg/Göttingen 2002, S. 13.

[13] Das ist natürlich eine Zuspitzung; so wie die alte Arbeiterbewegung ihre Genossenschaften und Kleingärten kannte, so gab es zwischen 1968 und 1973 massive ArbeiterInnenkämpfe. Vgl. z.B. Willi Hoss, Komm' ins Offene, Freund. Autobiographie. Hrsg. v. Peter Kammerer. Münster 2004.

[14] Die sog. "Proletarische Wende" innerhalb der neuen Linken war mehr ein ideologisches Phänomen; die Ausfechtung der ideologischen Kämpfe der 20er Jahre war eher Ausdruck von Identitätspolitik als reales Interesse an proletarischen Lebenslagen. Vgl. dazu auch Hoss, a.a.O.

 Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien in der sopos 9/2005 und ist eine Spiegelung von
http://www.sopos.org/aufsaetze/432eb964a6034/1.phtml