Venezuela
Zehn Thesen über die neue politische Klasse

von Heinz Dieterich
09/05

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1. Jede Revolution generiert unweigerlich drei Tatsachen: a) Die teilweise oder komplette Zerstörung der politischen Klasse des alten Regimes, b) die Entstehung einer neuen politischen Klasse und c) den Angriff der Konterrevolution. Wenn der Prozess die Schläge der Konterrevolution überlebt, geht die größte Gefahr von der neuen politischen Klasse aus: dominante Sektoren dieser neuen Klasse können das ursprüngliche revolutionäre Projekt entkräften. Tatsächlich war dies die Norm von den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriegen über die sowjetische Revolution unter Stalin bis zur Dekolonisierung Afrikas nach dem Zweiten Weltkrieg.

2. Die bolivarianische Revolution ist nichts "neues" wie es ein ganzes Heer von politischen Theologen, Romantikern und übel gesinnten behauptet sondern sie ist Teil des Prozesses der historischen bürgerlichen und sozialistischen Revolutionen der Moderne, der mit der Englischen Revolution des Oliver Cromwell begann. Ihre Entwicklung teilt also das oben erwähnte Problem.

3. In Venezuela sind die Auflösung der alten und die Entstehung einer neuen politischen Klasse offensichtlich. Der Zusammenbruch der Parteien der Oligarchie, also der sozialdemokratischen Acción Democrática (AD) und der christlich-sozialen Copei, spiegelt den ersten Aspekt wider und ist als solcher breit kommentiert worden. Der zweite Aspekt jedoch, die neue politische Klasse, die den Staat und die bolivarianische Revolution führt, ist noch nicht Objekt einer ernsthaften öffentlichen Debatte gewesen. Es ist, als ob sie als politisches Phänomen nicht existiere. Die einfachen Menschen in Venezuela, die die Realität wesentlich besser wahrnehmen als die mittleren Klassen, sind zwar auf das Problem eingegangen, konzeptualisieren es aber als "Bürokratie", das heißt nicht als eine Machtstruktur von Klassen sondern als eine Ineffizienz des Staates.

4. Das Fehlen von Diskussion über die und Analysen der neuen politischen Klasse ist schädlich für die Gesundheit der Revolution, für die revolutionären Absichten ihres größten Lenkers Hugo Chávez und für die Interessen des Volkes [1]. Die Implementierung von revolutionären Maßnahmen ergibt sich historisch aus dem Ansporn der Konterrevolution oder der Radikalisierung der revolutionären Kräfte des Volkes und die bolivarianische Revolution ist nicht die Ausnahme dieser Regel gewesen. Mit der Abwesenheit der Antithese der Revolution - der widerlichen Konterrevolution - ist die bolivarianische Revolution in eine Phase der Normalisierung der sozialen Beziehungen mit allen Sektoren der Gesellschaft eingetreten, die die Volkskräfte als einzige Quelle der Radikalisierung des Prozesses übrig lässt. Diese sind jedoch nicht organisiert und haben auch keine autonomen Organe, um Einfluss auf den Staat zu nehmen. Unter solchen Bedingungen wächst das Gewicht der bürgerlichen Sektoren in den Reihen des offiziellen Sektors und die Besetzung von Positionen des Staates und der Parteiapparate schreitet voran.

5. Die Niederlage der ADisten und Copeiisten ist fast endgültig. Während Chávez Präsident ist werden sie viel Zeit darauf verwenden wieder Optionen der Macht zu werden - wenn sie es überhaupt schaffen. Das ergibt sich aus einem doppelten Effekt. Sie haben kein historisches Projekt, weil Chávez den einzigen in der Dritten Welt möglichen Entwicklungsweg für sich beansprucht: den Keynesianismus. Für sie bleibt nur der Neoliberalismus und dieser ist für niemanden attraktiv. Der zweite Effekt, mit dem er die vorherigen Herren der Politik des Landes in Schach halten kann ist, dass Venezuela sein zweites Erdölhoch in dreißig Jahren durchlebt. Aber im Unterschied zum ersten wird der Erdölpreis nicht unter die 60 Dollar-Marke fallen. Das bedeutet, dass Chávez genug Geld zur Verfügung haben wird, um den Wohlfahrtsstaat für die ausgeschlossene Mehrheit zu finanzieren so lange er will und diese so in eine solide Basis der sozialen Unterstützung zu verwandeln.

6. Die wesentliche Gefahr für den Bolivarianismus besteht also nicht in der internen Opposition, sondern darin, die Laufbahn der zwei oligarchischen Parteien zu wiederholen. Der erste Ölboom erschuf die Bedingungen, die das Dominationsmodell des Puntofijismo [2] korrumpierte und schließlich zerstörte. Es besteht die Gefahr, dass der zweite Ölboom mittelfristig einen ähnlichen Erosionseffekt bei den Kräften des aktuellen offiziellen Sektors produziert und diese zu einem Ende führt wie dem der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) in Mexiko.

7. Die dominanten Klassen der modernen Gesellschaft setzen sich aus vier wesentlichen Segmenten der Macht zusammen. a) Der wirtschaftlichen Elite, b) der militärischen Elite, c) der politischen Klasse und d) der kulturellen Elite. Diese Schichten sehen sich in jedem revolutionären Prozess durch sehr unterschiedliche Arten betroffen. In Venezuela hat sich der Transformationseffekt der bolivarianischen Revolution im Wesentliche in der politischen Klasse der Vierten Republik [3] bemerkbar gemacht, die in ihren Organisationsformen praktisch verschwunden ist. Die kulturelle Elite hingegen bleibt weitgehend intakt, z.B. die hohe katholische Hierarchie und der Lehrkörper der Universitäten, der sich zu 70 bis 80 Prozent nicht mit dem Prozess identifiziert. Auf die gleiche Art und Weise hat die wirtschaftliche Elite nicht ihre Produktionsbeziehungen beeinträchtigt gesehen und in den Streitkräften fehlen etwa fünf Jahre bis die hohen, im Schema des Antikommunismus und des Antichavismus indoktrinierten Offiziere - die besonders stark waren zwischen 1992 und 1999 - die Armee verlassen. Der Lehrplan der neuen Militärdoktrin und des modernen Bolivarianismus wird ab Januar 2006 zu lehren begonnen.

8. Die Daseinsberechtigung jedes Sektors einer dominanten Klasse ist unterschiedlich. Die des Militärs besteht darin, mittels der Drohung der physischen Vernichtung - nach außen wie nach innen - die Produktionsbeziehungen und die über ihnen errichtet öffentliche Ordnung zu garantieren. Die Daseinsberechtigung der kulturellen Elite besteht in der Kontrolle der Köpfe der Mehrheiten, die der wirtschaftlichen Elite in der Akkumulation von Kapital und die der politischen Klasse in den Staatsgeschäften und seinen sekundären Verzweigungen wie es die politischen Parteien sind. Kurzfristig bestimmt die politische Klasse den Kurs des Staates, mittel- und langfristig die wirtschaftliche Elite.

9. Die politische Klasse reproduziert sich auf zwei Arten. Die erste Quelle der Herkunft sind die durch die Machtzentren des Systems ernannten oder eingenommenen Funktionäre, das heißt unter anderem die Exekutive, die hohen parlamentarischen Schichten und die Führungsspitzen der Parteien. Die zweite Quelle sind die Funktionäre, die Posten durch Wahlen besetzen, so wie Abgeordnete, Gouverneure, Bürgermeister und Stadträte.

10. In Venezuela setzt sich die neue politische Klasse im Wesentlichen aus Militärkadern, Kadern der Ex-Linken und "neochavistischen" Sektoren zusammen, die aus dem alten Establishment kommen. Diese neue Klasse übt gemeinsam mit dem Präsidenten Chávez die institutionelle politische Macht im Land aus. Innerhalb der neuen Klasse sind zwei dominierende Gruppierungen zu beobachten, nennen wir sie das "Segment S" und das "Segment T". Gäbe es, aus welchen Gründen auch immer, bald Wahlen ohne den Präsidenten Chávez, würde das "Segment S" wahrscheinlich die neue Regierung stellen. Dies wäre das Ende des ursprünglichen Projektes des Bolivarianismus.

Anmerkungen

[1] Auch wenn der Begriff "pueblo" bzw. "popular" nicht im deutschen "Volk" eine ausreichende Entsprechung findet, wird hier der Begriff "Volk" verwendet.

[2] Nach dem Ende der Militärdiktatur unter Pérez Jiménez 1958 schlossen die bürgerlichen Parteien den "Pakt von Punto Fijo" (Küstenstadt im Nordwesten Venezuelas) und sicherten sich damit bis in die 90er Jahre die Macht, die immer von einer der beiden großen Parteien ausgeübt wurde. Damit war die Linke isoliert. Dieses System des "Puntofijismo" dauerte bis zum Wahlsieg Chávez' 1998 an.

[3] Die Gründung der "Fünften Republik" war Ziel der bolivarianischen Bewegung, die damit der korrupten "Vierten Republik" des "Puntofijismo" ein Ende bereiten wollte. Dies zeigt sich z.B. in der Namensgebung der größten Regierungspartei, die sich "Bewegung Fünfte Republik" (MVR) nennt.
 

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien bei Indymedia am 13.09.2005. Es handelt sich um Übersetzung durch  malegría  eines Artikels von Heinz Dieterich, Professor für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) und Mitherausgeber der linken spanischsprachigen Infoseite rebelion.org über die neue politische Klasse, die durch die bolivarianische Revolution in Venezuela entsteht.

Das Original erschien in: Diario Vea, 12. September 2005, http://www.diariovea.com.ve  und  http://www.rebelion.org/noticia.php?id=19407