Frankreich:
Alle Gewerkschaften mobilisieren für den 4. Oktober
 
Von Bernhard Schmid

09/05

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Die französischen Gewerkschaften haben sich, über ihre sonstigen strategischen Divergenzen hinweg, auf ein gemeinsames Mobilisierungsdatum für die „Rentrée“ (den zweiten Jahresbeginn nach der Sommerurlaubsperiode) geeinigt. Am Dienstag, 4. Oktober werden frankreichweit Arbeitsniederlegungen – wohl vor allem im öffentlichen Dienst – und Einheitsdemonstrationen gegen die soziale Kahlschlagspolitik der Regierung unter Dominique de Villepin stattfinden. Das Datum fällt mit dem ersten Sitzungstag des französischen Parlaments nach der Sommerpause zusammen.  

Zu den Demonstrationen rufen die fünf gesetzlich als „repräsentativ“ anerkannten Gewerkschaftsverbände zusammen auf: die ehemals KP-nahe CGT; die rechtssozialdemokratische CFDT; die „unpolitisch“-populistische FO; die christliche CFTC; und der Gewerkschaftsbund der höheren Angestellten, CFE-CGC. (Ihr „repräsentativer“ Charakter bedeutet, dass eine Betriebs- oder Branchengewerkschaft, die in einem dieser Dachverbände Mitglied ist, automatisch gesetzlich dazu ermächtigt ist, ein Kollektivabkommen zu unterzeichnen, also eine Art Tarifvertrag. Ein Kollektivvertrag nach französischem Recht bindet alle abhängig Beschäftigten, die in seinen Geltungsbereich fallen, nicht nur die Mitglieder der unterzeichnenden Gewerkschaft. Alle anderen Gewerkschaften, die nicht Mitglied in einem der fünf Dachverbände sind, können zwar auch – gerichtlich – als „repräsentativ“ anerkannt werden, aber sie müssen dann beweisen, dass sie es sind. Etwa durch Offenlegung ihrer Mitgliederzahlen und ihrer Verankerung im Betrieb oder in der Branche.) Neben den fünf Gewerkschaftsbünden haben darüber hinaus auch mehrere „nicht konföderierte“ Lohnabhängigen-Organisationen, d.h. nicht einem der anerkannten Dachverbände angehörende Gewerkschaften, ihre Unterstützung signalisiert. Namentlich die Lehrergewerkschaft FSU, der Verband „Solidaires“ (Zusammenschluss der linken Basisgewerkschaften vom Typ „SUD“) und der sozialdemokratisch-unpolitische Verband UNSA werden sich den Demonstrationen am 4. Oktober ebenfalls anschließen. 

100 Tage Villepin 

Den letzten Anstoß für die verschiedenen Gewerkschaften, sich zum Aktionsbündnis für den 4. Oktober zusammenzuschließen, bildete die „100-Tage-Bilanz“ von Premierminister Dominique de Villepin am 7. September. Der amtierende Regierungschef, der zuvor Außenminister und davor sechs Jahre lang persönlicher Berater von Präsident Jacques Chirac gewesen war, kam Anfang Juni dieses Jahres ins Amt. Vor allem, weil sein Amtsvorgänger Jean-Pierre Raffarin, der aufgrund der neoliberalen „Reformen“ der letzten drei Jahre und seiner dumpf-provinziellen Selbstzufriedenheit extrem unpopulär war, nach dem „gescheiterten“ Reform vom 29. Mai über den EU-Verfassungsvertrag durch Präsident Chirac entlassen worden war. 

In seiner „100-Tage-Bilanz“ hielt Premierminister de Villepin sich vor allem einen Rückgang der Arbeitslosenzahlen zugute. Doch abgesehen davon, dass dieser Rückgang (um einige zehntausend von offiziell ausgewiesenen 2,5 Millionen Arbeitslosen, wobei die Statistik frisiert ist und nicht das wirkliche Ausmaß der  Erwerbslosigkeit und Geringbeschäftigung anzeigt) sehr relativ ausfiel, hatte sich vor allem auch herumgesprochen, „warum“ die Arbeitslosenstatistik nach unten zeigt. Der erste Monat, in dem die Kurve nach unten ging, ist der Monat Juni 2005 (in dem die offizielle Arbeitslosenrate von offiziell 10,2 auf 10,1 Prozent sank und, in absoluten Zahlen, um 35.200 oder 1,4 Prozent der amtlich registrierten Erwerbslosen zurückging). Doch im Juni dieses Jahres ist gleichzeitig auch die Zahl der wieder in Lohn und Brot gekommenen Ex-Arbeitslosen gesunken und nicht angestiegen: Sie fiel von 86.545 (im Mai 2005) auf jetzt 81.838. Geklettert ist dagegen die Zahl der „administrativen Streichungen“, also der Arbeitslosen, die aus der Statistik geworfen und denen die Unterstützung gestrichen worden sind. Ihr Anteil nahm von 37,8 Prozent der „Abgänge“ aus der Arbeitslosenstatistik (im Mai 2005) auf, einen Monat später, 44,7 Prozent zu, oder in absoluten Zahlen: von 124.908 im Mai auf 163.642 im Juni. (Zahlenangaben zitiert nach „Le Monde“ vom 30. und vom 31. Juli 2005). 

Denn seit dem Frühsommer hat sich der Druck der Ämter auf die Betroffenen stark erhöht: Zahlreiche Arbeitslose erhielten Briefe, in denen ihnen fiktive Vorwürfe gemacht wurden („Sie haben einer Vorladung nicht Folge geleistet“, „Sie haben seit einem Jahr keinen Gesprächstermin wahrgenommen“...). Wer nicht rechtzeitig antwortet oder auch den Brief auf dem Postweg nicht erhalten, hat Pech gehabt: Weg ist die Unterstützung. Bereits im Juni konnte man in Pariser Arbeitsämtern zahlreiche Betroffene Schlange stehen sehen, die gegen solche Entscheidungen protestieren wollten. Bereits in der vorherigen Phase war der Druck allmählich angewachsen: Die Zahl der „Abgänge“ aus der Arbeitslosenstatistik durch administrative Streichung lag in den Monaten von Januar bis Mai 2005 „um 9 Prozent höher als im Vergleichszeitraum, den ersten fünf Jahresmonaten, von 2003 – als ob es darum gegangen wäre, die Statistik vor dem Referendum über die EU-Verfassung (vom 29. Mai) zu schönen“ („Le Canard enchaîné“ vom 27. Juli 2005). 

Seitdem die Regierung am 2. August neue Verordnungen über den Umgang mit den Erwerbslosen verabschiedete, ist nunmehr geplant, den Druck noch erheblich zu verstärken. Statt, wie bisher, alle sechs Monate sollen die Arbeitslosen nunmehr von „ihren“ Ämtern ein bis zwei mal pro Monat vorgeladen werden, um sie in Atem zu halten. Dabei haben die Arbeitsämter gar nicht genügend Mittel und Personal, um diese Anordnung von Premierminister de Villepin in die Tat umzusetzen: In Paris etwa kommen 11.000 Arbeitslose auf einen Mitarbeiter der ANPE (ungefähres Pendant zur deutschen Arbeitsagentur). Aber erhöhen werden sich ohne Zweifel die Schikanen und Pressionen gegen die Betroffenen. Die Verordnungen vom 2. August haben ebenfalls das Arsenal der zur Verfügung stehenden Sanktionen erweitert: Bisher hatten die ANPE-Agenturen als Sanktionsmittel fast nur die administrative Streichung zur Folge, aufgrund derer ein/e Arbeitslose/r völlig aus der Unterstützung herausfliegt. Aufgrund der Konsequenzen, aber auch der drohenden (Rechts)Streitigkeiten zögerten die ANPE-MitarbeiterInnen bisher eher, dieses Instrument auch einzusetzen. Zukünftig aber haben sie ein abgestuftes Sanktionsinstrumentarium zur Verfügung, so können sie den Betroffenen beispielsweise aus einer Reihe von Gründen die Unterstützung für die Dauer von 2 Monaten streichen. Im Gegenzug sollen sie künftig aber ohne Zögern diese Druckmittel auch einsetzen. 

Die Hauptentscheidung für die nähere Zukunft, die Premerminister de Villepin in seiner Regierungserklärung vom 7. September traf, besteht aber in einem Bündel von Steuersenkungen, das laut der Presse „vor allem den Mittelschichten“, in Wirklichkeit aber mehr noch den obersten Einkommen zugute kommen wird. Statt bisher 6 Steuergruppen wird es ab dem Jahr 2007 (dem Superwahljahr!, dann werden sowohl der Präsident als auch das Parlament neu gewählt) nur noch 3 geben. Je höher das Einkommen, desto höher wird die Ersparnis ausfallen. Eine ledige Person, die im Jahr 17.000 Euro verdient, wird etwa jährlich ganze 80 Euro sparen und ein Ehepaar (mit zwei Kindern), das zusammen 34.000 Euro verdient, im Jahr stolze – 10 Euro, ein nettes Taschengeld. Dagegen wird ein Ehepaar (mit zwei Kindern), das im Jahr 100.000 Euro verdient, künftig über 4.000 Euro jährlich an Steuern sparen. „Im Gegenzug“ wird ab 2007 – die „Reform“ greift erstmals für die Versteuerung des Jahreseinkommens von 2006 – der bisherige Abschlag für Lohnabhängige in Höhe von 20 Prozent abgeschafft. Bisher wurden abhängig Beschäftigten pauschal ein Fünftel ihrer Einkommen vor der Versteuerung abgezogen, aus einem nachvollziehbaren Grund: Lohn- und GehaltsempfängerInnen können ihre Einkommen so gut wie gar nicht vor dem Fiskus verbergen, während Selbstständige, Freiberufler und Unternehmer sehr viel leichter einen Teil ihrer Einkünfte verschleiern können. Der pauschale Steuerfreibetrag erlaubte es bisher den niedrigen Einkommen, rund um 10.000 Euro jährlich, noch steuerfrei auszugehen. Die kommende Abschaffung des Abschlags wird also Lohnabhängige, vor allem in den unteren Lohngruppen (unter 1.500 Euro monatlich) bestrafen und die mittleren, vor allem aber höchsten Einkommen belohnen. Diese Regierung weiß eben ziemlich genau, welche Klientel sie bedient 

Im Mittelpunkt: Schleifung des Kündigungsschutzes 

Im Zentrum der geplanten gewerkschaftlichen Proteste wird aber der so genannte „Neueinstellungsvertrag“ (contrat nouvelle embauche) stehen, der ebenfalls durch eine Verordnung vom 2. August eingeführt worden ist –siehe unseren Artikel von Anfang August. Dieser neue Vertragstyp, der bisher auf die kleinen und mittleren Betriebe bis zu 20 Beschäftigten beschränkt ist, erlaubt es dem Arbeitgeber, innerhalb von 2 Jahren nach Aufnahme des Arbeitsverhältnisses den/die Beschäftigte/n ohne Angabe von Rechtfertigungsgründen loszuwerden. Premierminister de Villepin überlegt nach eigenen Angaben derzeit, „wie man, ohne mechanisch den neuen Vertragstyp auf die Großbetriebe übertragen zu wollen, mit den Sozialpartnern über andere Instrumente für andere (d.h. größere, Anmerkung B.S.) Unternehmen reden kann“. 

Die CGT hat bereits am 8. August eine Klage gegen die Notverordnung, mittels derer der neue Vertragstyp eingeführt worden ist, erhoben. Deswegen rief sie den Conseil d’Etat, also das oberste Gericht im öffentlichen Recht (vergleichbar dem Bundesverwaltungsgericht) gegen die Verordnung an, um zu erreichen, dass diese für illegal erklärt und abgeschafft wird. Am 26. August reichten dann die CFDT, die CFTC und die CFE-CGC von ihrer Seite her eine gemeinsame Klage gegen die Verordnung ein. Ihrerseits hat Force Ouvrière (FO) erklärt, die Affäre bei der ILO (Internationale Arbeitsorganisation), mit der dieser Dachverband eng verflochten ist, zur Sprache zu bringen. 

Forderungsbündel 

Ansonsten wird am 4. Oktober vor allem eine Erhöhung der Löhne gefordert werden. Derzeit lasten vor allem die dramatische Erhöhung der Mieten (frankreichweit: plus 14,2 Prozent in den Jahren 2001 bis 04, voraussichtlich plus 4,7 % im laufenden Jahr 2005) sowie der Erdölpreise und damit der Heiz- und Tankkosten auf den einkommensschwachen Haushalten. Im Hinblick auf die Benzinpreiserhöhung hat die Regierung jetzt den Haushalten mit niedrigem Einkommen (denen, die aufgrund zu niedrigen Lohns oder Gehalts keine Einkommenssteuer bezahlen, das sind circa 50 Prozent der Haushalte) einen Sonderbonus von 75 Euro gewährt. Dies dürfte jedoch das Problem der allgemein kletternden Preise und (proportional) schrumpfenden, da in absoluten Zahlen weitgehend stagnierenden, Einkommen kaum lösen. 

Die CGT wollte von ihrer Seite her auch noch „die Verteidigung der öffentlichen Dienste“ in den Forderungskatalog aufgenommen wissen. Doch dagegen sperrte sich die CFDT, die angab, „stets gegen disparate Forderungsbündel“ (sinngemäß: im Kaufhauskatalog-Stil) zu sein. Derzeit läuft namentlich die Privatisierung des Energieversorgungsunternehmen EDF, Electricité de France, sowie der französischen Autobahnen. Im letzteren Fall wird der Staat nur circa ein Viertel der Einnahmen, die für die nächsten 30 Jahre erwartet werden, von den Übernahmekandidaten kassieren. Auch Dissidenten im bürgerlichen Lager sprechen von „Verschleuderung“. 

Eine kurze Diskussion gab es auch über das Datum: Die CFDT favorisierte im Grunde einen Samstag als Mobilisierungsdatum, wie sie erklärte, „um auch den Beschäftigten aus kleinen und mittleren Betrieben, die von dem ,Neueinstellungsvertrag’ hauptsächlich betroffen sind, die Teilnahme zu ermöglichen“. Dagegen insistierte vor allem die CGT auf einem Wochentag als Mobilisierungsdatum. Vor allem in den Bereichen, wo die Gewerkschaften noch relativ günstige Kräfteverhältnisse aufweisen, insbesondere in den öffentlichen Diensten, erleichtert ein Werktag als Datum die Mobilisierung. Ferner lässt sich so die Mobilisierung mit Warnstreiks verbinden. 

Ein wichtiger Beweggrund der CGT, neben der (äußerst legitimen) Empörung der Basis über die jüngst beschlossenen „Reformen“, ist aber auch das Herannahen des in einem knappen halben Jahr bevorstehenden Kongresses des Gewerkschafts-Dachverbands. Im März 2006 wird der kommende Gewerkschaftstag der CGT im nordfranzösischen Lille stattfinden. Nicht zufällig eröffnete der Generalsekretärs des ehemals KP-nahen Gewerkschaftsbunds, Bernard Thibault, die „Rentrée“ (Herbstsaison) durch ein größeres Protestmeeting in Lille, vor 2.200 CGT-Mitgliedern, am Nachmittag des 6. Septembers. Zu Recht schreibt Rémi Barroux (ein von der radikalen Linken kommender Journalist, der sich bei der renommierten Pariser Abendzeitung um Gewerkschaftspolitik kümmert) in „Le Monde“: „Sechs Monate vor ihrem Kongress lässt die CGT den Ton lauter werden“. Der Zusammenhang ist keineswegs künstlich hergestellt. Die derzeitige CGT-Spitze muss sich im Vorfeld des Kongresses um Profilierung bemühen, da Bernard Thibault um seine Wiederwahl (mit möglichst deutlichem Stimmenanteil) besorgt sein muss. Seitdem die Führungsspitze rund um Thibault, die gegen einen expliziten Aufruf zum „Nein“-Stimmen beim Referendum über den EU-Verfassungsvertrag eintrat und am Schluss mit Händen und Füßen dagegen rang, bei einer Tagung mit den Mitgliedsgewerkschaften am 2. Februar 2005 in dieser Frage einer 82prozentigen Mehrheit der Delegierten unterlag, wackelt ihre Stellung. Nunmehr muss sie daher, in den kommenden Monaten, deutlicheres Profil zeigen. Wie es dann nach dem Kongress der Gewerkschaftsorganisation weitergehen wird, muss sich erst noch erweisen.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 19.9. 2005 zur Verfügung gestellt.