DAS POLITISCHE BUCH

Bernd Drücke (Hg.)
ja! Anarchismus.
Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert.
Interviews und Gespräche.

09/06

trend
onlinezeitung

Bücher zum Thema Anarchismus als Gesamtdarstellungen und Einführungen haben z.Zt. Hochkonjunktur. Vielleicht liegt wirklich ein Generationswechsel in der Luft, wenngleich jene Einführungen sich meistens doch wieder auf den „klassischen Anarchismus“ stützen. Der vorliegende Band* des Soziologen und Redakteurs der anarchistischen Monatszeitung Graswurzelrevolution, trägt den vollmundigen Untertitel „Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert“, und ich muss gestehen, das dieses Statement nicht übertrieben ist.

Das Buch enthält 17 Interviews (bzw. Gespräche + einen Nachruf auf Marie-Christine Mikhailo, sowie von ihr einen kleinen, anrührigen Artikel über das Altwerden) mit den unterschiedlichsten AktivistInnen der libertären Szene, und selbst, wenn von denen einige es leugnen, dass es in Deutschland derzeit eine anarchistische Bewegung gibt, so lässt dieses Buch ganz entschieden die Hoffnung zu, dass eine gelebte Utopie möglich ist, dass wir keineswegs nur in unseren kleinen Verbänden vor uns hinwurschteln, sondern das an allen Ecken und Enden der Republik umtriebige Menschen leben und eben nicht nur die Hände in den Schoß legen.

Eingeteilt ist das Buch in fünf Kapitel mit den Überschriften: Anarchismus und Kultur (Film, Musik, Literatur, Kabarett), Anarchistische Medien und Verlage (Ed. Nautilus, Karin Kramer Verlag und Wolfgang Haug über den Trotzdem Verlag und die Zeitschrift Schwarzer Faden), Gewaltfreier Anarchismus und Graswurzelrevolution (mit Gesprächen von AktivistInnen, incl. einem Interview anlässlich der 300. Graswurzelrevolution mit Bernd Drücke), Anarchafeminismus und soziale Revolution (Marianne Enckell von CIRA, Monika Grosche von der FAU sowie der Ex-Stadtguerillera Ilse Schwipper) und Gelebte Utopie (u.a. mit Horst Stowasser und Uwe Kurzbein zum Thema Kommunen).

Interview-Bände haben natürlich mitunter das Problem das der/die LeserIn an der einen oder anderen Stelle das Gefühl bekommt, dass die Fragen nicht ausreichend beantwortet werden, und es bleiben zwangsläufig Fragen offen. Auf der anderen Seite kommt diese Form der inhaltlichen Übermittlung wesentlich authentischer und lockerer rüber, als etwa Aufsätze zu den jeweiligen Themen.

Die Gespräche und Interviews erschienen alle bereits in der Graswurzelrevolution, was allerdings selbst die LeserInnenschaft dieser Zeitung von dem Kauf des Buches nicht abhalten sollte, da die meisten Beiträge für dieses Buch nochmals überarbeitet wurden, und hier in kompakter Form wirklich zu einer Bereicherung für die Ideenlandschaft von anarchistischem Gedankengut beiträgt.

Was mich persönlich freut, ist die Tatsache, dass der Herausgeber noch vor kurzem von einen „Altherren-Anarchismus“ bzgl. eines 2002 erschienen Sammelbandes sprach, in dem überwiegend Männer jenseits der 50iger Jahre geschrieben hatten (war zwar vom damaligen Herausgeber nicht so geplant war, aber...), und in seinem Buch jetzt sind von den insgesamt 24 InterviewpartnerInnen 15 ebenfalls über 50 Jahre alt. Dies scheint mir ein guter Generationenmix zu sein, und der These zu widersprechen, dass Anarchismus ein reines Jugendphänomen ist. Die Möglichkeit in der Anarchie, bzw. in der Bewegung auch alt zu werden, empfinde ich als beruhigend. Es ist eben nie zu spät aus dem bestehenden System auszusteigen und in ein herrschaftsfreies Leben (soweit wie möglich) einzusteigen. Hier sind die Utopien – natürlich auch mit Rückschlägen etc. – dokumentiert, und sie machen Mut. Eine wahrlich positive Werbung für ein selbstbestimmtes Leben.

Die angehängte zehnseitige Bibliographie scheint mir etwas wahllos zu sein (die Privatbibliothek des Herausgebers?), aber trotz der Lücken sicherlich ein guter Überblick, und genügend Anregung für NeueinsteigerInnen. Und da Bernd Drücke weiterhin für die Graswurzelrevolution unermüdlich Interviews und Gespräche führt können wir uns sicherlich auch in absehbarer Zeit auf einen Nachfolgeband freuen.

Jochen Knoblauch

Editorische Anmerkungen

Bernd Drücke (Hg.)
ja! Anarchismus.
Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche.

Karin Kramer Verlag Berlin 2006
Abb. / 274 S. / 19,80 €