Das RAF-Kommando „Siegfried Hausner" entführte
am Montag, 5.9.77, Dr. Hanns-Martin Schleyer, „den mächtigsten
Wirtschaftsführer Deutschlands" (Bild). Vier Personen kamen
bei dieser Aktion in Köln ums Leben: drei Sicherheitsbeamte
Schleyers und sein Fahrer. Schleyer war Präsident des
Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).
Seine markante Nazi-Vergangenheit wurde von der westdeutschen
Presse verschwiegen oder lapidar als „Jugendtorheit"
bezeichnet206. Schleyer war zu Ende des Zweiten Weltkriegs 30
Jahre alt. 1976 erschien eine sozialwissenschaftliche
Untersuchung mit dem Titel „Macht und Herrschaft der
Unternehmerverbände BDI, BDA und DIHT"207. Über Schleyer ist
dort zu lesen:
„Im Alter von 16 Jahren trat er der
faschistischen Bewegung bei. Nach dem Abitur ging er an die
Universität Heidelberg, wo er als Leiter des
NS-Studentenwerkes maßgebend ,an der Gleichschaltung und
Reinigung der Universitäten Heidelberg und Freiburg von
Nazigegnern, Judenstämmlingen und Miesmachern' mitwirkte. Nach
dem .Anschluß' Österreichs an Hitler-Deutschland nahm er als
frischgebackener SS-Untersturmführer (SS-Mitgliedsnummer
227014) gleiche Aufgaben als Leiter des
NS-Reichsstudentenwerks in Innsbruck wahr. Nach dem Überfall
auf die Tschechoslowakei siedelte er nach Prag über, wo er
ebenfalls die Leitung des NS-Reichsstudentenwerkes an der
alten Karlsuniversität übernahm. 1941 avancierte er als knapp
26jähriger zum Leiter des Präsidialbüros im Zentralverband der
Industrie für Böhmen und Mähren. Er war dort u. a. für die
rassische und wirtschaftliche Eingliederung des
tschechoslowakischen Industriepotentials in die deutsche
Kriegswirtschaft zuständig. Nach
Kriegsende schaffte der Nazi-Manager einen nahtlosen Übergang
in Führungspositionen der westdeutschen Wirtschaft"208.
Am Tag nach der Entführung erhielt das BKA
eine Erklärung der Entführer, aus der hervorging, daß Schleyer
freigelassen werde, sobald elf
Gefangene aus der RAF, darunter Baader, Ensslin und Raspe, in
ein Land ihrer Wahl ausgeflogen seien. Wenige Tage später
folgte eine Video-Aufzeichnung, die
Schleyer als „Gefangenen der RAF" zeigte und auf der er die
Bundesregierung ansprach.
Schleyers Entführung hatte „die politische
Landschaft grundlegend verändert", wie
die „Frankfurter Rundschau" (FR) schon am 8.9.77 feststellte;
weiter wurde vorausschauend und beipflichtend behauptet: »Die
Zeichen stehen (...) auf Härte. Gefragt ist das gesamte
Arsenal tätlicher Macht"209. Für die „FR" stand auch außer
Frage, wogegen dieses Arsenal
einzusetzen war: „In der Tat sind einige Anwälte zur,,
neuralgischen Punkt der gesamten Terrorszene geworden".
Der „Krisenstab" unter Leitung von
Bundeskanzler Helmut Schmidt traf sofort nach Eingang der
Erklärung zwei einschneidende Maßnahmen. Ebenso wie nach den
Attentaten auf Buback und Ponto wurden mehr als 100 wegen §
129(a) StGB oder in Zusammenhang damit verfolgte Gefangene -
also nicht nur diejenigen, deren Freilassung gefordert wurde -
einer totalen Kontaktsperre unterworfen: Es gab keinen
Umschluß mehr, Radio und Fernseher wurden weggenommen bzw.
abgeschaltet, Briefe und Zeitungen zurückgehalten,
Verteidigerbesuche verboten. Die zweite Maßnahme bestand
erstmals in einer totalen Nachrichtensperre für alle
Medien210. Die Regierung hüllte sich „in strengstes
Stillschweigen" („FAZ" vom 8.9.77} über alles, was mit der
Schleyer-Entführung in Zusammenhang stand oder stehen konnte.
Außerdem wandte sie sich auch wiederholt direkt an alle
Chefredakteure der Tagesund Wochenzeitungen, des Rundfunks und
Fernsehens sowie der Presseagenturen mit der dringenden Bitte,
„nichts zu tun, was die Anstrengungen der Sicherheitsorgane
des Bundes in irgendeiner Weise beeinträchtigen und dazu
beitragen könnte, die Gefahrenlage zu verschärfen"211. Im
Zweifelsfall solle man mit dem Pressereferat des
Bundesinnenministeriums Kontakt aufnehmen. Auch der Deutsche
Presserat wandte sich mit einem ähnlich lautenden Aufruf an
die Medien und ersuchte die Redaktionen, „die Maßnahmen der
Polizei- und Sicherheitsorgane zu unterstützen". Die „FR"
vermerkt dazu am 20.9.77: „Und der Generalsekretär des
Presserates (...) verweist auf Paragraph 34 des
Strafgesetzbuches: den rechtfertigenden Notstand".
Die gesamte westdeutsche Presse leistete
während des beinahe siebenwöchigen Zeitraums der Entführung
Selbstzensur. Im Ausland, vor allem in Frankreich, lehnten
Zeitungen und Presseagenturen eine derartig gravierende
Beschneidung ihrer öffentlichen Kontrollfunktion ab. Die
französische Zeitung „Liberation" begründet ihre Haltung:
„Man erlebt eine seltsame Zeit. Hätte man sich
vorstellen können, daß ein früherer Nazi, der Chef der
deutschen Arbeitgeber geworden ist, , Liberation benutzt, um
sich an seine Frau zu wenden? Grund dieses Paradoxons ist die
Vermittlung der Roten Armee Fraktion, die Hanns-Martin
Schleyer heute seit 33 Tagen gefangen hält. Es ist das
zweitemal, daß sich die Entführer an .Liberation' wenden, um
mit deutschen Behörden eine Nachricht auszutauschen, ohne daß
ihre Botschaft abgefangen, ganz oder teilweise in den
Redaktionen der geschriebenen Presse zensiert wird, die immer
noch, was diese Affäre angeht, einer direkten Zusammenarbeit
mit der Regierung unterworfen ist. Diese Situation, die die
Information in die Abhängigkeit der politischen Macht bringt,
untersagt es der Presse jenseits des Rheins, ihre Rolle zu
spielen. Daher haben wir uns völlig
frei zur Veröffentlichung dieser Dokumente bezüglich einer
Sache entschlossen, in der die Geheimhaltung einem unblutigen
Ausgang nur schaden kann. Im Gegenteil, die Verschwiegenheit
ist hier wie anderswo die Waffe all
jener, die eine Gewaltlösung wünschen. "(Zitiert nach FAZ, 10.
10.)212
Nachträglich stellte sich heraus, daß die
Nachrichtensperre als informationspolitisches Mittel wirksam
funktioniert hatte. Während gegenüber der Öffentlichkeit und
den Entführern fortwährend der Eindruck erweckt wurde, ein
Austausch werde erwogen, hatten die Verantwortlichen in Bonn
jedoch schon am 6.9.77, also einen Tag nach der Entführung,
beschlossen, die Gefangenen auf keinen Fall freizulassen213.
Sowohl die Nachrichtensperre als auch die Kontaktsperre wurden
stets mit dem Schutz des Lebens von Schleyer begründet. Die
nachträglich von der Bundesregierung herausgegebenen
Rechenschaftsberichte zeigen jedoch, daß eine ganz andere
Überlegung Priorität hatte, nämlich „die Handlungsfähigkeit
des Staates und das Vertrauen in ihn im In- und Ausland nicht
zu gefährden; das bedeute auch: die Gefangenen, deren
Freilassung erpreßt werden sollte, nicht freizugeben"214.
Nachrichten- und Kontaktsperre dienten also
dem vorläufigen Vertuschen dieser harten Linie der Regierung,
um Zeit für die Fahndung zu gewinnen und Schleyers
Aufenthaltsort eventuell durch einen Zufallstreffer
herauszubekommen. Eine Woche nach seiner Entführung äußerte
sich Schleyer in einem seiner vielen, erst nach seinem Tod
veröffentlichten Tonband- und Videoaufnahmen dazu:
„Ich habe immer die Entscheidung der
Bundesregierung, wie ich ausdrücklich schriftlich mitgeteilt
habe, anerkannt. Was sich aber seit Tagen abspielt ist
Menschenquälerei ohne Sinn. Es sei denn, man versucht mit
naiven Tricks meine Entführer zu fangen. Das wäre zugleich
mein sicherer Tod und ich kann mir nicht vorstellen, daß man
zwar die offizielle Ablehnung der Forderungen scheut, aber
Vorbereitungen trifft, um mich still um die Ecke zu bringen,
das man dann vielleicht als technische Panne ausgeben könnte.
Seit man Tag und Nacht berät, ich frage mich eigentlich
worüber noch, hat man mir den Eindruck vermittelt, man würde
die Forderungen annehmen. Alles redet zudem vom Leid der
Familie und bekundet den Wunsch, mein Leben zu erhalten. Man
verlangt aber ständig neue Lebenszeichen von mir und
verleugnet die vorliegenden oder zweifelt die Authentizität
grundlos an"215.
Zur Zeit der Nachrichtensperre - und
sicherlich als Ausgleich gedacht-waren die Medien jedoch
eifrig bemüht, „die freigiebig dargebotenen Hinweise aus
Quellen der Geheimdienste und der Polizei"216 auf die
Illegalen und die sogenannte Sympathisantenszene zu
veröffentlichen. 'n ihrem Buch „Ein deutscher Herbst"
dokumentieren die Herausgeber anschaulich diesen unkritischen
und willfährigen Journalismus als „be-°bachtende Fahndung"217.
Vorreiter war „Der Spiegel". Daß die He-Xenjagd auf
„Sympathisanten" einem Preisschießen ähnelte, wird von °en
Antworten auf die Frage „Wer kann schon sicher sein, nicht als
•Sympathisant' verdächtigt zu werden?" eindrucksvoll
illustriert:
.„Sympathisant' kann jeder sein: schon wer
.Baader-Meinhof-Gruppe' (statt: ,-Bande') sagt (so Bernhard
Vogel, laut FR vom 14.9.); schon wer vom
Kapitalismus spricht, schaffe damit .gleitende Übergänge' zur
Entführung von Wirtschaftsvertretern (so die .Welt' am 6.9.
über Peter von Oertzen). Auch Nichtstun schützt vor
Sympathisantismus nicht: Über die 48 Mescalero-Herausgeber und
den Schriftsteller Erich Fried schrieb die FAZ am 2.8.: .Diese
Sympathisanten, die nie einem Terroristen Nachtlager und
Reisegeld gegeben haben, sind die wirklich gefährlichen. Sie
haben... .nichts getan', sie haben nur ihre Meinung gesagt,
sie haben nur nachgedacht'. Selbst wer gegen Gewalt und Terror
auftritt, kann ein Sympathisant sein - und zwar gerade
deswegen. So schrieb .Bild' am 4. 10. über Günter Wallraff:
,Ich verabscheue Gewalt und Terror - so beginnt Günter
Wallraff im modischen Sympathisanten-Stil sein teures
Taschenbuch (16.80 DM)'"218
Editorische Anmerkungen
Der Text ist das Kapitel
VIII, 5.4.
in dem Buch "Stammheim - Die notwendige Korrektur der
herrschenden Meinung" von Pieter Bakker Schut, Kiel 1986, S.
475 ff,
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