Stichwort RAF

 "Wir sind ungeheuer radikal"

von Inge VIett
09/07

trend
onlinezeitung

Wir bekämpfen alles, was dem verachteten System seinen Fortbestand und seine Legitimation sichern hilft: die bürgerlichen Gesetze, die bürgerliche Moral, das Eigentum, die. Staatsmedien, die Justiz, die Polizei, die Gefängnisse, die Vorherrschaft der Männer, die Tagespolitik des Berliner Senats die Außen- und Innenpolitik und vor allem die Banken^
Wir sind ungeheuer radikal, militant und erkennen mit wachsendem Entsetzen und Abscheu den Gang der Dinge unter der Herrschaft des Geldes.

Wir nehmen alles grundernst, was wir tun. Es ist wichtig. Ich bin wichtig. Wir sind wichtig. Jeder Steinwurf in die Glasfronten der Bankhäuser verbindet uns mit den Revolutionären in der ganzen Welt, mit dem Vietcong im Dschungel, mit dem ermordeten Che Guevara, mit den Tupamaros in Uruguay, mit den kämpfenden afrikanischen Revolutionären in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Namibia und Südafrika, mit den großen Schlachten der Arbeiterbewegung, die in den Straßen Berlins geführt wurden. Wir sind stolz, wir haben keine Angst, wir sind dem System entschlüpft, wir wissen Bescheid.

Ich bin viel mit Verena unterwegs. Sie erzählt mir, wie sie beim Sprühen einer Parole festgenommen wurde: «Nieder mit...», weiter war sie nicht gekommen. Eine ganze Nacht lang drangsalierte der Staatsschutz sie mit seiner Neugier, was sie habe sprühen wollen. Verena schwieg. Am Morgen sie rausgelassen, denn aus «Nieder mit» ließ sich kein Politischer Straftatbestand machen.

«Was wolltest du denn schreiben?» fragte ich. Sie lacht mich verschmitzt an: «Nieder mit den Milchpreisen.»

Wir schleichen im Dunkeln durch die Stadt und bepflastern sie mit geheimnisvollen Aufklebern: «Die schwarze Braut kommt». Am Morgen sind die Schaufenster der Braut- und Pornoläden verwüstet. Die Bürger schütteln die Köpfe. Solche schöönen Brautkleider!

Wir stürmen die «Mißwahlen» in den Kaufhäusern. Sie waren zur Verkaufssteigerung von Grundig-Geräten und anderem Konsummüll Sitte geworden. Wir halten revolutionäre Reden über die sexuelle Ausbeutung und Entwertung der Frau und sind wieder davon, bevor die Polizei anrückt.

Wir klauen organisiert in den Tempeln der Konsumkonzerne und schicken davon Pakete an die Gefangenen im Knast.

Wir haben weder Angst noch Respekt vor der Staatsgewalt oder sonstigen Autoritäten. Wir haben unser eigenes Gesetz, und das heißt: Widerstand gegen die Welt des Profits und Solidarität mit den Ausgebeuteten und Verfolgten überall!

Ich ziehe in die Kommune «Liebenwalder Straße». Wir sind ein anarchischer Haufen Frauen und Männer. Beseelt von der Idee, dem Kommunismus den Weg zu bereiten, im Kampf gegen die alten kapitalistischen Mächte. Die «Liebenwalder» ist das Zentrum der «Schwarzen Hilfe». Tag und Nacht brodeln im Hinterhof geheime und nichtgeheime Aktivitäten für die Weltrevolution im allgemeinen und für die Gefangenen in den Berliner Knasten und Heimen im besonderen.

Wir sind die größten Romantiker und hängen an der Idee, daß ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat, sich erheben und seine Würde erkämpfen wird. Wir halten die an den Rand gedrängten, kriminalisierten und ausgebooteten Menschen für mobilisierbar. Es gibt keine Kriminellen, sagen wir, sie sind alle Opfer des Profitsystems. Randgruppenstrategie! Das Subproletariat revolutionieren, bevor die Herrschenden es gegen die Revolution mobilisieren! Die Revolution scheint uns eine unzweifelhafte Perspektive. Nur eine Frage der Zeit, eine Frage der Intensität unserer revolutionären Entschlossenheit.

Die Rote Hilfe betrachtete uns als ihre kleine anarchistische Schmuddelschwester, ähnlich, wie die Bewegung 2. Juni die ungeliebte, verwilderte Verwandte der RAF war.

Die Rote Hilfe war studentisch-marxistisch, legte Wert auf ideologische Korrektheit und Theorie. Wir in der Schwarzen Hilfe kriegten uns nicht über revolutionäre Vorbilder und politische Linien in die Haare. Alle waren berechtigt: Rosa Luxemburg, Thomas Müntzer, Schinderhannes, Robin Hood, Durruti, Bakunin, Malcolm X, Fidel Castro, Che Guevara, Ho, Tschi Minh, Mao Tse Tung. Wir wurden allgemein Anarchisten genannt, aber das ist eigentlich falsch. Ich erinnere mich nur an einen, der sich mit anarchistischer Theorie beschäftigte, und das war der verkrachte Harald Sommerfeld, der nach seiner ersten Verhaftung zum Verfassungsschutz überlief.

Wir suchten nach revolutionären Vorbildern, nicht nach geschlossenen Weltbildern. Meine Vorstellung von der Zukunft^ hatte keine feste gesellschaftliche Gestalt.

Editorische Anmerkungen

Der Text stammt aus Inge Vietts Autobiografie: Nie war ich furchtloser, Reinebek 199, S.87ff 

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