BMJ und Ex-Verfassungsrichter stimmen Jung zu
Eine Zwischenbilanz über die Flugzeug-Abschuß-Diskussion nach der gestrigen Bundestags-Debatte
eine Indymedia-Recherche
09/07

trend
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Wer/welche oberflächlich liest, müßte meinen, die Jung-Pläne seien nach der gestrigen Bundestags-Debatte vom Tisch. Wer/welche genau liest merkt, daß in der Sache praktisch gar kein Dissens besteht, sondern SPD und zumindest auch Teile der parlamentarischen Opposition Jung nur übel nehmen, daß er ausspricht, was alle denken. Nach einem Bericht der Welt hat auch das SPD-geführte Bundesjustizministerium (BMJ) eine Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zu den Jung-Äußerungen mitgezeichnet; in der Antwort heißt es: „Den Worten des Bundesverfassungsgerichts kann nicht entnommen werden, dass es der Bundesregierung untersagt ist, terroristische Angriffe abzuwehren, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind. Darauf nimmt die Ministeräußerung Bezug.“ Auch der Richter, der im BVerfG für die Vorbereitung des Urteils zu dieser Frage zuständig war, soll nach dem Welt-Bericht Jung mehr oder minder zugestimmt haben.

Die Bundestagsdebatte

Wer/welche oberflächlich liest – insbesondere die SPD-nahe Frankfurter Rundschau – müßte meinen, die Jung-Pläne seien nach der gestrigen Bundestags-Debatte vom Tisch: „Die FDP darf es auf den Punkt bringen: ‚Die Mehrheit des Deutschen Bundestages steht nicht hinter den Aussagen des Verteidigungsministers’, resümiert Guido Westerwelle am späten Mittwochnachmittag die aktuelle Stunde des Bundestags. ‚Ja, nicht einmal die Mehrheit der Regierung steht zu den Worten Franz Josef Jungs.’“ Und ein paar Sätze weiter unten in dem gleichen FR-Bericht: „viele aus Reihen der SPD und selbst einige Unionsabgeordnete [würden] beim Auftritt des Verteidigungsministers am liebsten vor Scham im Boden versinken.“ (1) Ähnlich formuliert die Süddeutsche Zeitung. (2) Und auch die taz frohlockt: „Jungs erneute Abschussvisionen stießen im Lager der Opposition, aber auch beim Koalitionspartner SPD umgehend auf Empörung.“ (3) Selbst die FAZ betitelt ihren Bericht über die Bundestags-Debatte über die Jung-Äußerungen mit der Überschrift: „Alleingelassen“ (4)

Wer/welche nicht nur die Überschriften und die ersten paar Sätze der Berichte liest, erhält allerdings genauere Informationen. Bei der FAZ bspw.: „Die Debatte förderte auch das Ringen in der großen Koalition über die Einbeziehung der Bundeswehr in den inländischen Kampf gegen den Terror zutage. Die SPD ist von ihrer alten Haltung, dass die Bundeswehr im Inland keine militärischen/hilfspolizeilichen Sicherheitsaufgaben wahrzunehmen habe, abgerückt, aber der Union reicht das Entgegenkommen gegenüber ihrer langjährigen Forderung nicht. […]. Die SPD sieht, dass die Union in der Sache nicht unbegründet redet – die Gefahr, die heute noch nicht besteht, kann morgen schon gegenwärtig sein. […].“

Nur konsequent ist es da, daß – nach einem Bericht der Welt – auch das SPD-geführte Justizministerium eine die Jung-Äußerungen verteidigende Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage zu den Jung-Äußerungen mitgezeichnet hat. In dem Welt-Bericht heißt es:

„Er könne doch nicht, sagte Jung mehrmals, tatenlos zusehen, wenn ein entführtes Passagierflugzeug in ein voll besetztes Fußballstadion gesteuert werde. Justizministerin Brigitte Zypries widersprach diesem Ansinnen, ließ sich aber auf Gespräche mit Jung und Schäuble über ein ‚Luft- und Seesicherheitsgesetz’ auf Arbeitsebene ein. Ein WELT ONLINE vorliegendes Papier aus dem Innenministerium vom Mai 2007 listet den bisherigen Diskussionsstand auf. Brisant ist dabei die geforderte Neuregelung des Grundgesetz-Artikels 87 a, Absatz 2. In dem internen Papier heißt es: ‚Das BMI will durch Schaffung einer neuen rechtlichen Kategorie (Einsatz zur unmittelbaren Abwehr eines Angriffs auf die Grundlagen des Gemeinwesens) die Grundlage für Maßnahmen der Streitkräfte zur Abwehr terroristischer Bedrohungen schaffen, bei der notfalls auch das Leben Unbeteiligter geopfert werden soll (Abschuss Passagierflugzeug).’ Zypries ist gegen diesen Schritt. Doch ihr Ministerium hat sich jetzt erstaunlicherweise hinter Jung gestellt. Das ergibt sich aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Frage des FDP-Abgeordneten Rainer Stinner. Für das Kabinett antwortete der Parlamentarische Verteidigungs-Staatssekretär Thomas Kossendey (CDU): ‚Den Worten des Bundesverfassungsgerichts kann nicht entnommen werden, dass es der Bundesregierung untersagt ist, terroristische Angriffe abzuwehren, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind. Darauf nimmt die Ministeräußerung Bezug.’ Nach Informationen von WELT ONLINE ist diese Antwort vom Justizministerium und vom Innenministerium intern gegengezeichnet worden. Stinner hatte gefragt, ob die Bundesregierung folgende Ansicht Jungs teile: ‚Wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung besteht, würde ich aufgrund übergesetzlichen Notstandes den Befehl geben, das Flugzeug abzuschießen.’“ (5)

Und wenn wir in dem oben schon zitierten FR-Bericht noch etwas weiterlesen, erfahren wir: Am Ende entscheidet sowieso nicht der Minister, sondern ein einzelner General wird machen, was er will: „Gerade Militärpraktiker sind es, die den Vorstoß des Hessen nicht verstehen. Schließlich habe sich Jung dazu verstiegen, einen extrem hypothetischen Fall zu konstruieren und daran eine konkrete Ministerentscheidung festzumachen. Ein früheres Regierungsmitglied wundert sich, weshalb der Verteidigungsminister das Thema überhaupt aufgebracht hat. Schließlich ordne ein Minister in der Praxis in solchen Situation ohnehin schon aus Zeitgründen gar nichts an. Der zufällig Dienst habende General habe zu entscheiden. Vielleicht, so eine wohlmeinende Deutung, wolle Jung ja der Generalität für den Notfall ein etwas sichereres Gefühl zu verschaffen. Per vorauseilendem Versuch, die eigene Gewissensentscheidung zu simulieren.“ Müssen wir da nicht Minister Jung fast dankbar sein, daß er den BürgerInnen reinen Wein einschenkt?

Reiner Wein – nicht jedermann/frau/s Sache
Und genau dies stört die meisten Jung-KritikerInnen – daß er reinen Wein einschenkt:


Hören wir den SPD-Sicherheitsexperten Arnold: „‚Man soll nicht über Dinge reden, die nicht geregelt werden können’, sagte SPD-Verteidigungspolitiker Rainer Arnold. Die Diskussion schade der großen Koalition.“ (taz) Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), warnt bei Fortsetzung der Debatte könnte „hier ein Loyalitätsverlust entsteh[en]“ (5a).

So ähnlich hört es sich laut Berliner Tagesspiegel bei Sabine Leutheusser-Schnarrenberger an: „Jungs Äußerungen erweckten den Eindruck, ‚als hätte es das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht gegeben’, wonach das rot-grüne Gesetz zu Luftsicherheit gegen die Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes verstößt. Es sei nach diesem Urteil ‚undenkbar’, den Fall gesetzgeberisch zu regeln; den ‚übergesetzlichen Notstand’, auf den Jung sich berufen wolle, dürfe man nicht antizipieren.“ (6) Man/frau darf es nicht regeln; es gibt den „übergesetzlichen Notstand“, aber man/frau darf ihn nicht antizipieren? Aber machen soll man/frau ‚es’ (den Abschuß) schon? Wird er gemacht werden?

Bei der taz erfahren wir dazu immerhin: „Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) bleibt dabei, im Notfall ein Passagierflugzeug unter Berufung auf ‚übergesetzlichen Notstand’ abschießen zu lassen. Er habe den Amtseid geschworen, ‚Schaden vom deutschen Volk’ abzuwenden, sagte Jung am Mittwoch in einer Aktuellen Stunde im Bundestag.“ Da die Bundeskanzlerin Jung nicht durch Köhler entlassen läßt, wird es dann wohl gemacht werden – es sei denn es formiert sich noch Widerstand, der nicht auf schaumschlägerischer Empörung, sondern auf einer präzisen Analyse der Lage beruht.

Das Verfassungsgerichts-Urteil
Und: Die Jung-KritikerInnen scheinen alle an einer Leseschwäche zu leiden:


Die FR zitiert den niedersächsischen CDU-Landesvorsitzenden Wulf: „Nach dem Karlsruher Urteil könnten Verkehrsflugzeuge nicht abgeschossen werden.“ Laut FAZ hatte der SPD-Chef Beck schon kürzlich verkündet: „Jungs Äußerung sei in keiner Weise mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz in Einklang zu bringen.“ „Auch Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) zeigte keinerlei Verständnis für ihren Kabinettskollegen ‚Wir haben eine Verfassungsgerichtsentscheidung, die uns solcher Diskussionen völlig enthebt’.“ (7) Ähnliche Glaubenssätze können wir auch in der Süddeutschen und der FR lesen (8).

Auch die taz, die vor ein paar Tagen schon mal ziemlich genau über den tatsächlichen Inhalt des Verfassungsgerichts-Urteil berichtet hatte (9), formuliert nun wieder verwaschen: „Einhellig verwiesen sie auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar dieses Jahres. Damals hatte Karlsruhe eine Regelung des rot-grünen Luftsicherheitsgesetzes beanstandet, die den Abschuss entführter Flugzeuge explizit erlaubte.“ Was soll das heißen? Es darf nicht „explizit“ erlaubt werden? – aber implizit schon?!

Wer/welche das Urteil genau liest wird sehen: Das Bundesverfassungsgericht selbst hat Minister Jung seine Argumentation mehr oder minder nahegelegt: Sowohl der „übergesetzliche Notstand“ als auch Jungs Argumentation mit einer „gemeine[n] Gefahr […] oder […] Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ (10) sind dort vorgedacht (s. dazu die Analyse bei http://delete129a.blogsport.de/ [11]).

Laut Welt hat dies auch der Richter, der im Bundesverfassungsgericht für die Vorbereitung des Urteils zum Flugzeug-Abschuß zuständig war, bestätigt. Die Welt schreibt in dem schon zitierten Bericht: Dem SPD-Politiker „Arnold wäre es lieber, in einem solchen Fall würde der Verteidigungsminister ohne entsprechende Rechtsgrundlage entscheiden. So argumentierte unlängst auch der jüngst ausgeschiedene Bundesverfassungsrichter Dieter Hömig, der als Berichterstatter das Urteil gegen das rot-grüne Luftsicherheitsgesetz vorbereitet hatte. Trotzdem, so sagte er, hoffe er darauf, dass es schließlich ein Verantwortlicher auf sich nehme, das Notwendige zu vollziehen und die Last eines Rechtsverstoßes persönlich auf sich zu nehmen. Ein Verfassungsrichter also, der hofft, dass seine Urteile im Falle des Falles ignoriert werden – Jung ist zu verstehen, wenn er Klarheit verlangt.“

Und etwas Weiteres wird in dem genannten Bericht bei delete129a deutlich: Während Leutheusser-Schnarrenberger in der Bundestags-Debatte vor einer „Amerikanisierung des deutschen Rechts“ warnte, ist die Berufung auf einen übergesetzlichen Staatsnotstand vielmehr ein deutsche Tradition, die weitaus älter als „Guantánamo“ ist und die sich mindestens bis zu Carl Schmitt, einem wichtigen und wohl der bekannteste Jurist sowohl der Weimarer als auch der Nazi-Zeit, der im Hintergrund auch für die Nachkriegs-Rechtswissenschaft der BRD prägend blieb, zurückverfolgen läßt. (Den Vergleich zwischen den Positionen von Jung und Schmitt hat im übrigen auch Ex-Innenminister Baum [FDP] aufgemacht – allerdings mit etwas anderer Argumentation als bei delete129a. [12]).

Zur Einschätzung

Nicht verhehlt sei, daß die Position von Ex-Richter Hömig, SZ-Kommentator Prantl (s. noch einmal FN 6) u.a. durchaus etwas für sich hat. Wenn der Abschuß gesetzwidrig (und zivilrechtlich u.U. schadenersatzpflichtig) bleibt und nur aufgrund einer übergesetzlichen Konstruktion die individuellen Täter (Soldaten und anstiftender Minister) ausnahmsweise straffrei bleiben, ist dies etwas anderes und gemahnt vielleicht zu vorsichtigerem Handeln, als wenn der Abschuß legalisiert wird und der Staat offiziell eine entsprechende Kompetenz bekommt.

Aber: Wenn sich der ganze Streit auf diese Differenz reduziert, dann sollte dies doch bitte sehr auch den BürgerInnen genau erklärt werden (Prantl macht es ziemlich genau) und Jung mit weniger Empörung kritisiert werden.

Und noch ein Aber: Auch gegen die ‚individualistische’ Lösung bleibt immer noch ein gewichtiger Einwand, und das Verfassungsgericht hatte dieses Problem in seinem Urteil (13) durchaus durchgesehen (aber trotzdem Jung die beiden genannten Wege gewiesen):

„Die Vereinigung Cockpit hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. Geeignetheit und Erforderlichkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG, der den Einsatz von tödlicher Gewalt auch gegen Unbeteiligte erlaube, seien zweifelhaft. Der terroristische Erfolg eines Renegade-Angriffs sei von zahlreichen Unwägbarkeiten abhängig. Schon die Feststellung eines erheblichen Luftzwischenfalls im Sinne des § 13 Abs. 1 LuftSiG sei im Hinblick auf die tatsächlichen Abläufe des Flugverkehrs äußerst schwierig und nur selten mit Gewissheit möglich. Die bei der Überprüfung von Luftfahrzeugen nach § 15 Abs. 1 LuftSiG gewonnenen Erkenntnisse seien selbst bei idealer Wetterlage allenfalls vage. Die mögliche Motivation eines Flugzeugentführers und die Ziele einer Flugzeugentführung blieben bis zuletzt spekulativ. Eine auf gesicherte Tatsachen gestützte Entscheidung über einen Einsatz nach § 14 Abs. 3 LuftSiG komme angesichts des zur Verfügung stehenden knappen Zeitfensters im Zweifel zu spät. Deshalb funktioniere die Konzeption der §§ 13 bis 15 LuftSiG nur, wenn von vornherein im Übermaß reagiert werde.“ (Absatz-Nr. 68)

„Die Unabhängige Flugbegleiter Organisation UFO teilt die mit der Verfassungsbeschwerde vorgetragenen Bedenken. Der Abschuss eines Zivilflugzeugs sei unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gerechtfertigt. Das Ziel des Luftsicherheitsgesetzes, die Sicherheit des Luftverkehrs und den Schutz der Zivilbevölkerung vor terroristischen Angriffen zu erhöhen, werde zwar unterstützt. Dafür seien aber noch lange nicht alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft. Zudem bestehe die Gefahr, dass von der Erde aus die Situation an Bord falsch eingeschätzt werde. Dort könne praktisch nicht beurteilt werden, ob die Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 LuftSiG vorlägen. Die Informationen, die der Bundesminister der Verteidigung für seine Entscheidung benötige, den Abschuss eines Flugzeugs anzuordnen, stammten nicht aus der direkten Gefahrenzone an Bord des Flugzeugs. Es seien nur indirekte Informationen, die der Pilot vom Kabinenpersonal erhalten habe, das sich womöglich in der Gewalt von Terroristen befinde. Abgesehen davon könne sich die Lage an Bord in Sekundenschnelle ändern und dies wegen der langen Kommunikationswege möglicherweise nicht schnell genug dem Boden mitgeteilt werden.“ (Absatz-Nr. 69 f.)

„(1) Vor allem die Vereinigung Cockpit hat darauf hingewiesen, schon die Feststellung, dass ein erheblicher Luftzwischenfall im Sinne des § 13 Abs. 1 LuftSiG vorliegt und dieser die Gefahr eines besonders schweren Unglücksfalls begründet, sei je nach Sachlage von großen Unsicherheiten geprägt. Diese Feststellung könne nur selten mit Gewissheit getroffen werden. Neuralgischer Punkt bei der Lagebeurteilung sei, inwieweit die möglicherweise betroffene Flugzeugbesatzung den Versuch oder den Erfolg der Entführung eines Luftfahrzeugs den Entscheidungsträgern am Boden noch mitteilen könne. Gelinge das nicht, sei die Tatsachengrundlage von Anfang an mit dem Makel einer Fehlinterpretation behaftet. Auch die Erkenntnisse, die durch Aufklärungs- und Überprüfungsmaßnahmen nach § 15 Abs. 1 LuftSiG gewonnen werden sollen, sind nach Auffassung der Vereinigung Cockpit selbst bei idealer Wetterlage allenfalls vage. Der Annäherung von Abfangjägern an ein auffällig gewordenes Luftfahrzeug seien im Hinblick auf die damit verbundenen Gefahren Grenzen gesetzt. Die Möglichkeit, die Situation und die Geschehnisse an Bord eines solchen Luftfahrzeugs zu erkennen, sei deshalb selbst bei - zudem oft nur schwer herstellbarem - Sichtkontakt eingeschränkt. Die auf den ermittelten Tatsachen beruhenden Einschätzungen hinsichtlich Motivation und Zielen der Entführer eines Luftfahrzeugs blieben unter diesen Umständen im Allgemeinen wohl bis zuletzt spekulativ. Die Gefahr bei der Anwendung des § 14 Abs. 3 LuftSiG liege infolgedessen darin, dass der Abschussbefehl auf ungesicherter Tatsachengrundlage zu früh erteilt werde, wenn der Einsatz von Waffengewalt im Rahmen des zur Verfügung stehenden, im Regelfall äußerst knappen Zeitfensters überhaupt noch rechtzeitig mit Aussicht auf Erfolg und ohne unverhältnismäßige Gefährdung unbeteiligter Dritter vorgenommen werden solle. Damit ein solcher Einsatz wirkungsvoll sei, müsse deshalb von vornherein in Kauf genommen werden, dass die Maßnahme möglicherweise gar nicht erforderlich sei. Es werde mit anderen Worten häufig wohl mit Übermaß reagiert werden müssen.

(2) Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung auf unrealistischen und daher unzutreffenden Annahmen beruhen könnte, sind im Verfahren nicht hervorgetreten. Im Gegenteil hat auch die Unabhängige Flugbegleiter Organisation UFO nachvollziehbar ausgeführt, dass die vom Bundesminister der Verteidigung oder seinem Vertreter nach § 14 Abs. 4 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 3 LuftSiG zu treffende Entscheidung auf der Grundlage weitgehend ungesicherter Informationen gefällt werden müsse. Wegen der komplizierten und fehleranfälligen Kommunikationswege einerseits zwischen Kabinenpersonal und Cockpit an Bord eines in einen Luftzwischenfall involvierten Luftfahrzeugs und andererseits zwischen Cockpit und den Entscheidungsträgern am Boden sowie im Hinblick darauf, dass sich die Lage an Bord des Luftfahrzeugs innerhalb von Minuten, ja Sekunden ändern könne, sei es für diejenigen, die auf der Erde unter extremem Zeitdruck entscheiden müssten, praktisch unmöglich, verlässlich zu beurteilen, ob die Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 LuftSiG vorliegen. Die Entscheidung könne deshalb im Regelfall nur auf Verdacht, nicht aber auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse getroffen werden. Diese Bewertung erscheint dem Senat nicht zuletzt deshalb überzeugend, weil das komplizierte, mehrfach gestufte und auf eine Vielzahl von Entscheidungsträgern und Beteiligten angewiesene Verfahren, das nach den §§ 13 bis 15 LuftSiG durchlaufen sein muss, bis es zu einer Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG kommen kann, im Ernstfall einen nicht unerheblichen Zeitaufwand erfordern wird. Angesichts des verhältnismäßig kleinen Überfluggebiets Bundesrepublik Deutschland besteht deshalb nicht nur ein immenser zeitlicher Entscheidungsdruck, sondern damit auch die Gefahr vorschneller Entscheidungen.“ (Absatz-Nr. 126-129)

Wenn trotz alldieser Unsicherheit ein Abschuß mit welcher Konstruktion auch immer juristisch legalisiert oder meta-juristisch legitimiert werden soll, dann scheint also das Hauptmotiv der VerfechterInnen derartiger Lösungen nicht der Schutz der Bevölkerung am Boden zu sein, sondern um jeden Preis Handlungsfähigkeit des (Rechts)staats beweisen zu wollen: „Nichts stellt den Rechtsstaat mehr in Frage als die Feststellung, er sei einer derartigen Bedrohung wehrlos ausgeliefert.“ (Minister Jung lt. TSP). Und genau dieses Problem – daß es im deutschen Rechtsstaat wieder einmal nicht um den Schutz der Individuen vor dem Staat, sondern um den Schutz des Staates geht – wird in der bisherigen Debatte viel zu wenig gesehen.


Weitere Informationen:

Grundgesetz: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf

Strafgesetzbuch:  http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/stgb/gesamt.pdf

BVerfG-Urteil zum Luftsicherheitsgesetz: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html

Wikipedia zum „übergesetzlichen Notstand“: http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbergesetzlicher_Notstand

delete129a zum „übergesetzlichen Notstand“:  http://delete129a.blogsport.de/category/uebergesetzlicher-notstand/

Wikipedia zu Carl Schmitt: http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Schmitt

Informationen bei dejure.org zu Notwehr und Notstand (§§ 32 - 35 StGB) sowie Schuldunfähigkeit (§§ 19 – 21 StGB): http://dejure.org/gesetze/StGB

Zu den jüngsten Flugzeug-Abschuß-Plänen von Ministerin Zypries (SPD):
„Zypries will Abschuss unbemannter Flugzeuge ermöglichen“ (http://www.tagesspiegel.de); „Zypries will unbemannte Terror-Jets zum Abschuss freigeben“ (http://fr-online.de); Zypries: Flugzeug-Abschuss in bestimmten Fällen (http://www.sueddeutsche.de);
„Auch Zypries will Abschuss von Terror-Jets ermöglichen“ (http://www.welt.de)



Quellen:

(1) http://fr-online.de/top_news/?em_cnt=1213145.

(2) „Die Forderungen von Bundesinnenminister Schäuble und Verteidigungsminister Jung, in Terrorabsicht entführte Passagierflugzeuge notfalls abschießen zu dürfen, sind in der Großen Koalition höchst unterschiedlich aufgenommen worden. Heftige Kritik kam von Seiten der SPD – aber auch in der CDU regte sich Widerstand.“ (http://www.sueddeutsche.de).

(3) http://www.taz.de/

(4) http://www.faz.net
(5) http://www.welt.de/
(5a) http://fr-online.de/top_news/?em_cnt=1213481.

(6) http://www.tagesspiegel.de/politik/Innere-Sicherheit;art771,2383224; auf der gleichen Linie argumentiert auch SZ-Kommentator Herbert Prantl: http://www.sueddeutsche.de/, http://www.sueddeutsche.de/  vgl. dazu die Erläuterungen bei  http://delete129a.blogsport.de. Ebenso Bundesjustizministerin Zypries: „Abgelehnt wird eine so weit gehende Grundgesetzänderung nach wie vor von der SPD, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz hält eine Verfassungsänderung für überflüssig, weil die Bundeswehr heute schon aus dem Ausland kommende Flugzeuge “zur Verteidigung” abschießen dürfe. Justizministerin Brigitte Zypries lehnt dagegen jede Ausweitung und Neuinterpretation des Verteidigungsfalles ab. Ein Verteidigungsminister könne sich beim Abschuss eines Jets nur auf sein Gewissen berufen. Wie das Franz Josef Jung gestern ankündigte.“ (http://www.taz.de).

(7) Beide Äußerungen (Beck und Zypries) laut: http://www.faz.net
(8) „Zwischen den Äußerungen von Struck und Jung aber liegen vier Jahre, ein Regierungswechsel und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2006. Die Richter haben damals unmissverständlich klargemacht, dass das noch von Minister Struck initiierte Luftsicherheitsgesetz mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei. Es könne keinen von der Verfassung gedeckten Befehl zum Abschuss einer mit Passagieren besetzten Maschine geben, urteilten die Richter, - auch wenn das Flugzeug von Terroristen in ein Hochhaus oder in ein Atomkraftwerk gesteuert werden soll.“ (http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/453/133205/). „Die ‚verfassungsrechtliche Klarstellung’, die Jung jetzt erneut einfordert, hat Karlsruhe damals gegeben. Unmissverständlich. Es sei ‚schlechterdings unvorstellbar’, heißt es im Urteil, dass der Staat unschuldige Menschen vorsätzlich töte. Wer ein entführtes Flugzeug zum Abschuss freigebe, degradiere dessen Passagiere und Besatzung zu bloßen Objekten einer Rettungsaktion, verletze also ihre Menschenwürde nicht weniger als die Täter.“ http://fr-online.de/).

(9) „Mit seiner Äußerung verstößt Jung nicht gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die Richter haben keine Anweisung für den Fall gegeben, dass ein entführter Passagier-Jet gezielt in ein AKW oder ein vollbesetztes Fußballstadion gelenkt werden soll. Sie haben nur eine gesetzliche Regelung verboten, die einen Abschuss in solchen Fällen ausdrücklich erlaubt. Schon in ihrer Entscheidung von 2006 deuteten die Richter an, dass ein Verteidigungsminister und die Piloten nach einem Abschuss straflos ausgehen könnten – wenn ein ‚übergesetzlicher Notstand’ vorliegt. Viele halten das Karlsruher Urteil deshalb für scheinheilig.“ http://www.taz.de/. Auch die FR war schon einmal dicht an der Wahrheit dran: „Franz Josef Jung ist nicht blöd, und dass es in seinem Verteidigungsministerium versierte Juristen gibt, dürfen wir annehmen. Man wird dem Mann also keineswegs gerecht, wenn man annimmt, er laufe ohne Sinn und Verstand Amok gegen das Grundgesetz mit seinem neuen Vorstoß zum Abschuss gekaperter Flugzeuge. Das tut er nicht, […].“ (http://fr-online.de/top_news/?em_cnt=1211823&).

(10) http://www.focus.de/politik/deutschland/flugzeugentfuehrung_aid_132959.html.

(11) http://delete129a.blogsport.de/ (html);
http://delete129a.blogsport.de/images/UebergesetzlicheStaatsnotwehr.pdf (pdf).

(12) „sueddeutsche.de: Sie haben gesagt, das erinnere Sie an den Nazi-Juristen Carl Schmitt. Warum?
Baum: Schmitt hatte die Vorstellung, dass im Ausnahmezustand nicht das Recht entscheiden könne. Das Recht befinde sich dann nach seiner Auffassung auch im Krieg und wird ein Teil davon. Das ist eine fatale Entwicklung, die neben Jung noch von einem anderen Bundesminister vorangetrieben wird, nämlich von Wolfgang Schäuble. Der hat die gezielte Tötung von Verdächtigen in die Diskussion gebracht. Das ist alles nicht mehr rechtsstaatlich. Das ist Kriegsrecht.“ http://www.sueddeutsche.de/,tt2l3/deutschland/artikel/843/133594/).
Baum ist allerdings leicht zu korrigieren. Schmitt hatte nicht „die Vorstellung, dass im Ausnahmezustand nicht das Recht entscheiden könne.“ Vielmehr hatte Schmitt die Vorstellung, daß im Ausnahmezustand nicht das Gesetz entscheiden könne und daß es ein Ausnahmerecht gebe, ein „Recht des übergesetzlichen Notstandes“ wie sich Jung ausdrückt, das über dem Gesetz steht.

(13) http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html.

Editorische Anmerkungen

Der Text erschien bei Indymedia am 20.9.07.