Geschichte ohne europäischen Blick
Lindebaugh Peter und Rediker Marcus, Die vielköpfige Hydra

besprochen von Peter Nowak

09/08

trend
onlinezeitung

Edward und Catherine Despard oder Robert Wedderburn – diese Namen dürften kaum noch bekannt sein. Doch diese Menschen haben in ihrer Zeit gegen Unterdrückung und Ausbeutung gekämpft und geschrieben, wurden verfolgt und gefoltert. Die drei gehören zu der Vielzahl von Menschen des afrikanischen und amerikanischen Kontinents, die die US-amerikanischen Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker in ihren historischen Buch "Die vielköpfige Hydra“ einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht haben. Der Untertitel „Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik“ charakterisiert den Inhalt des Buches treffend. Dem Verlag Assoziation A ist es zu verdanken, dass es jetzt in einer Übersetzung von Sabine Bartel auch den deutschsprachigen Lesern zugänglich ist. Anhand konkreter Biographien entwickeln die Autoren ein Panorama der Lebensumstände der Armen des 16. und 17. Jahrhundert. Hier ist die Zeitspanne zwischen der bei uns weitgehend vergessenen Englischen Revolution und der viel bekannteren Französischen Revolution gemeint. Für das Autorenduo war es eine Ära der ersten frühkapitalistischen Globalisierung. Ihr Zentrum war aber nicht Europa sondern die Karibik, die zu jener Zeit das Zentrum des Handels und des Transportwesens war. Tausende Auswanderer waren dort auf der Suche nach einem besseren Leben in den aus europäischer Sicht „neuen“ Kontinenten. Gleichzeitig wurden auf der Karibik die afrikanischen Sklaven von Afrika zum amerikanischen Kontinent gebracht. Andere Schiffe brachten die Produkte ihrer Sklavenarbeit, Bodenschätze aller Art, nach Europa und sorgen, wie der US-Soziologe Eduardo Galeano in seinem Bestseller „Die offenen Adern Lateinamerikas“ nachgewiesen hat, für den ersten frühkapitalistischen Aufschwung in Europa. Lindebaugh und Rediker zeichnen nun die Spuren von Widerständigkeit und Aufruhr nach, mit denen sich die Menschen wehrten.

Vielfältiger Widerstand

Das beginnt mit der Flucht vieler Sklaven in das Hinterland der karibischen Inseln. Viele schließen sich dort zu regelrechten Kommunen zusammen und machen der Seefahrt mit Piraterie das Leben schwer. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Seefahrt zu dieser Zeit das wichtigste Transportwesen war, wird erst deutlich, welchen Schrecken die Männer mit der Piratenfahne bei den europäischen Politikern und Kaufleuten auslöste. Im Buch wird auch gezeigt, wie die ersten europäischen Militäraktionen gegen die Piraterie vorbereitet wurden, die schließlich soweit dezimiert wurde, dass sie für die europäische Wirtschaft keine Gefahr. mehr bedeutete.

Ausführlich werden die Revolten der Plantagenarbeiter von Virginia 1663 – 1676, der gescheitere Aufstandsversuch der New Yorker Unterklassen 1741 und der Sklavenaufstand von Haiti 1791- 1804 geschildert.

Im Buch werden auch erste Vorstellungen einer klassenlosen Gesellschaft entwickelt, die Sklaven und europäische Arme oft gemeinsam entwickelten. Schließlich war ihre Situation gar nicht so unterschiedlich. Oft fanden sie sich gemeinsam in den Kasematten der Zucht- und Arbeitshäuser wieder und entwickelten selbst unter den widrigsten Bedingungen Visionen von einem „freien und gleichen Menschengeschlecht“, die in dem Buch vorgestellt werden.

Spuren dieses Kampfes um die Freiheit findet sich an unerwarteten Stellen, beispielsweise im Theaterstück „Der Sturm“ von William Shakespeare. Es geht auf Augenzeugenberichte nach einem Schiffbruch der Sea-Venture im Juli 1609 zurück. Das Schiff sollte sowohl europäischer Auswandere als auch afrikanische Sklaven in die neu eroberte Welt bringen. Nach dem das Schiff auf einer Insel gestrandet war, machten die Sklaven und das Schiffspersonal Schluss mit der Klassengesellschaft auf dem und errichteten die Keimform einer egalitären Gesellschaft, die erst durch eine Intervention aus Großbritannien beendet wurde.

Gegenrevolution und Entstehung des Rassismus

Erst Ende des 18. Jahrhundert entwickelten sich Reaktion auf diese „vielköpfige Hydra“ des Aufstandes rassistische Weltsichten, so die an vielen Beispielen belegte These des Autorenduos. Dabei begreift das Autorenduo den Rassismus nicht nur als ein Werkzeug der Herrschenden zur Spaltung der Unterdrückten. Auch unter den weißen Unterklassen begann das Rassekonzept an Bedeutung zu gewinnen. Schon in den Jahren 1764 und 1765 verwandelte sich die New Yorker Sektion der einst revolutionären Sons of Liberty in Garanten der Ordnung und bekämpften den Aufruhr, aus dem sie einst selbst hervorgegangen waren. Auch die Erfahrung des Aufstands der Sklaven von Haiti hat dazu beigetragen, dass sich das Lager der Gegenrevolution formierte. Dass sich diese Menschen eigenständig erhoben haben und nicht auf die pateranalistische Unterstützung der „wohlmeinenden“ Weißen warteten, trieb auch manchen vormals Radikalen ins Lager der rechten Ordnungspartei. Mit dem Rassekonzept konnte dieser Übergang besser bemäntelt werden. „Als die Zahl der Opfer der britischen Feldzüge gegen Haiti in den Jahren 1795/90 immer größer wurde, machte sich Panik und Rassismus in der Gesellschaft breit“, schreiben die Autoren.

Das Buch ist ein wahres Anti-Geschichtsbuch, das den europäischen Blick hinter sich lässt und noch dazu spannend zu lesen und auch heute noch verdammt aktuell ist.

Lindebaugh Peter und Rediker Marcus
Die vielköpfige Hydra
Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik
,

ISBN 978-3-935936-65-1 | 432 Seiten |
Berlin-Hamburg 2008 |  28.00 €
Verlag Assoziation A