Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

09/09

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Teil und Ganzes - RelationsbegrifTe, mit deren Hilfe der Systemcharakter, die hierarchische Ordnung und die Struktur der objektiven Realität erfaßt werden.

Das Verhältnis Teil und Ganzes hängt auf das engste mit der Dialektik von Einheit und Vielheit, Einheit und Mannigfaltigkeit, Element, Struktur und System zusammen. Jedes Ganze ist eine Vielheit, insofern es sich aus einer Menge von Teilen zusammensetzt, also quantitativ bestimmt ist; jedes Ganze ist jedoch auch eine Einheit, insofern es ein der quantitativen Mannigfaltigkeit seiner Teile gegenüber relativ eigenständiges Verhalten aufweist. Im Gegensatz zum Mechanizismus, der letzte unteilbare Elemente der Materie, also die Existenz von Dingen annimmt, die nur Teile, nicht aber selbst auch Ganze sind, ist für den dialektischen Materialismus die Dialektik von Teil und Ganzem universell. Insofern die Teile Dinge sind, sind sie selbst auch Ganzheiten und damit sowohl Einheit von Mannigfaltigem als auch Vielheit von Einheiten.

So ist z.B. das Atom sowohl Teil als auch Ganzes; Teil in bezug auf das Molekül, dem es angehört, Ganzes gegenüber seinen Konstitutionselementen, den Neutronen, Elektronen usw. Ein Ding kann als Teil immer nur in bezug auf ein bestimmtes System, ein bestimmtes Ganzes definiert werden (x ist ein Teil von St). Die Angabe des Bezugssystems ist unerläßlich, weil das gleiche Ding in der Regel Teil mehrerer Systeme ist, wobei die Eigenschaften, die das Ding als Teil in den verschiedenen Systemen aufweist, nicht nur von seiner eigenen Beschaffenheit, sondern auch von der Eigengesetzlichkeit des jeweiligen Systems abhängen (x wirkt in 5t vermöge seiner Eigenschaft o; i n S2 vermöge seiner Eigenschaft b usw.). Kein Ding kann jedoch Teil von jedem Ganzen sein, da es durch seine dingspezifischen Eigenschaften nur für bestimmte Klassen von Ganzheiten als Konstruktionselement geeignet ist (x ist unverträglich mit S3, da es die Eigenschaft c besitzt). Die Fähigkeit der Dinge, als Teile verschiedener Klassen von Systemen aufzutreten bzw. nicht aufzutreten, beweist, daß die Dinge selbst Systeme von Eigenschaften, also Ganzheiten sind. Wie der Teil nur in bezug auf das Ganze, so kann das Ganze nur in bezug auf seine Teile definiert werden: durch die Menge, Art und Anordnung seiner Teile sowie durch die damit gegebenen Relationen, also durch die Struktur. Das Ganze ist damit seinem Wesen nach mehr als die Summe seiner Teile, insofern durch die Struktur Leistungen und Verhaltensweisen ermöglicht werden, die aus den Leistungen und Verhaltensweisen der isolierten Teile nicht ableitbar sind. Es ist der Fehler jeder idealistischen Ganzheitsphilosophie, von dem aus der bloßen Menge der Teile nicht ableitbaren Ganzheitsverhalten nicht auf die wechselseitige Abhängigkeit der Teile als Erklärungsprinzip zurückzugreifen, sondern transzendente (ideelle) Faktoren anzunehmen, die aus den Teilen erst ein Ganzes bilden (Ganzheitstheorie, Holismus, Vitalismus).

Nicht jedes Ding, das irgendwie in einem System enthalten ist, kann deswegen schon als Teil dieses Systems betrachtet werden. Als Teile können jeweils nur diejenigen Elemente bzw. Subsysteme des Gesamtsystems bezeichnet werden, aus deren wechselseitiger Anordnung und Abhängigkeit das systemspezifische Verhalten resultiert. So sind Atome zwar Teile der Moleküle, nicht aber im strengen Sinne Teile von Organen; oder: Zellen sind Teile von Organen, nicht aber Teile des Organismus. Aus der Nichtbeachtung der hierarchischen Ordnung von Teil und Ganzem resultiert der Fehler jeglichen Mechanizismus, für den das Atom (bzw. die jeweils gerade erkannte kleinste Einheit der Materie) Teil jedes stofflichen Gebildes ist und der daher alle anderen Realitätsbereiche auf die Seins- und Bewegungsgesetze dieses Realitätsbereiches reduziert und nivelliert, wodurch er eine materialistische Erklärung der realen Ganzheiten unmöglich macht. Präzise Vorstellungen über das Verhältnis von Teil und Ganzem hat in jüngster Zeit vor allem die kybernetische Systemtheorie entwickelt. O. Lange (Ganzheit und Entwicklung in kybernetischer Sicht 1966) zeigt, daß Ganzheiten höherer Ordnung aus mindestens zwei Systemen niederer Ordnung bestehen, die durch mindestens eines ihrer Elemente miteinander gekoppelt sind und die gegenüber dem System höherer Ordnung als Teile füngieren. Jfe höher der Ordnungsgrad eines Systems, d.h., je mehr koordinierte und subordinierte Teilsysteme zusammen- und einander entgegenwirken, desto ausgeprägter ist das Ganzheitsverhalten eines Systems, in desto höherem Maße ist es befähigt, Eigengesetzlichkeit sowohl gegenüber dem Verhalten seiner Teile als auch gegenüber seiner Umgebung zu entwickeln. Der Ganzheitscharakter eines dynamischen Systems wächst proportional mit seinem Stabilitätsbereich. Nimmt mit der Komplexität von Systemen einerseits deren Ganzheitscharakter, ihre relative Selbständigkeit gegenüber den Teilen zu, so können andererseits auch die Teile bzw. Teilsysteme einen zunehmenden Grad an Selbständigkeit und Unabhängigkeit voneinander erlangen. Multistabile Systeme sind z.B. dadurch gekennzeichnet, daß sie gegenüber bestimmten Störungen nicht als Ganzes, sondern durch bestimmte Teilsysteme reagieren.

Die relative Selbständigkeit des Ganzen wie auch die seiner Teile ergibt sich auch aus dem bereits von aristoteles festgestellten Merkmal von Ganzheiten, daß diese, im Gegensatz zu bloßen Mengen oder Aggregaten, ihre Qualität nicht verändern oder nicht zerstört werden, wenn sie eine einen bestimmten Spielraum nicht überschreitende Menge von Teilen verlieren bzw. sich um eine ebenfalls im Rahmen des Ganzheitsmaßes haltende Menge von Teilen vermehren, oder wenn der verlorene bzw. hinzutretende Teil für das Ganze nicht wesentlich ist. So kommt es z.B. durch die Exstirpation bestimmter Teile des Gehirns, an die bestimmte psychische Leistungen vorwiegend gebunden sind, zwar vorübergehend zu deren Totalausfall, jedoch wird nach und nach die ausgefallene Funktion durch andere Teile ersetzt, so daß der alte Systemzustand - wenn auch häufig auf insgesamt niedrigerem Niveau - wiederhergestellt wird. In diesem Falle ist die Ganzheit durch Verlust von Teilen nicht zerstört worden. Aber die Kompensationsfähigkeit des Gehirns hat sowohl in quantitativer Hinsicht (die Menge der entfernten Teile kann nicht beliebig groß sein) als auch in qualitativer Hinsicht (es gibt Teile, deren Verlust nicht ersetzbar ist) ihre Grenze.

Der Zusammenhang zwischen den Kategorien «Ganzes» und «Maß» zeigt, daß das Verhältnis zwischen Teil und Ganzem der Dialektik von Qualität und Quantität gehorcht.

 

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S.1078f

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