"Fuer was
geht ihr auf die Strasse, jedes Jahr zum Ende des Ramadans und
schreit wie ferngesteuert 'Freiheit fuer Palastina'? Geht es
darum, sich zu solidarisieren mit denen, die geschlagen,
gepeinigt, gefoltert, getoetet, kollektiv unterdrueckt,
erniedrigt, ihres Selbbewusstseins beraubt werden; die ihrer
Freiheit beraubt, der Herrschaft preisgegeben sind? Geht es
euch, islamistische Freunde und Freundinnen, geht es euch um
Gerechtigkeit - wie sie der Islam, die Hingabe zum
Goettlichen, zur Liebe, vorsieht, dass mensch immer auf Seiten
des Mazlums (der Ohnmaechtigen) sein muss? Wach auf,
Schwester, Bruder! Sieh doch, wie die herrschende Ordnung im
Iran, dich unterdrueckt, dich schlagt, dich toetet, dich
deines Selbstbewusstseins, deiner Freiheit beraubt! Es ist
Heuchelei, fuer Palastina auf die Strassen zu gehen, weil dort
Ugerechtigkeit geschehe und im gleichen Atemzug seht ihr wie
eure Schwestern und Brueder, wie du selbst, im Namen des
Islams, im Namen des Einen, erniedrigt werdet! Was ist das
fuer eine Luege! Fordern wir Freiheit, soziale Gerechtigkeit
fuer alle Voelker dieser Welt, fuer alle Menschen, egal welche
Sprache, welche Religion, welche Wahrheit ihnen zugaenglcih
ist - das bedeutet aber auch, was fuer eine Ironie, das dazu
sagen zu muessen, fordern wir Freiheit und soziale
Gerechtigkeit auch im Iran!" [1]
Unendliche viele Menschen, es ist mir unmoeglich eine Zahl zu
schaetzen, mir kam es so vor als waere die ganze Stadt eine
Demonstration, waren heute in Tehran auf den Strassen, um sich
erneut fuer eine gesamtgesellschaftliche Aenderung der
Verhaeltnisse im Iran einzusetzen. Der heutige Tag
(18.09.2009) ist der letzte Freitag im Fastmonat Ramadan, der
Al-Quds-Tag. Seit bereits 20 Jahren ruft die herrschende
Meinung im Iran an jenem Tag dazu auf, an einer inszinierten
Demonstration in Solidaritaet mit Palastina teilzunehmen.
Dieser Aufruf ist mittlerweile dermassen offiziell, dass es in
allen oeffentlichen Kalendern gedruckt wird.
Doch heute sollte die Demonstration eine andere werden. Die
Menschen in Teheran, die bereits nach der (manipulierten) Wahl
von Ahmadi Nejad zum Praesidenten, die Strassen zum Aufstand
fuellten, hatten genug von traditionellen, heuchlerischen
Protesten. Wie in der Einleitung eine Demosntrantin zitiert,
war am heutigen Al-Quds-Tag die Idee, den Raum anderes
einzunehmen, die Palastina-Soli-Demo zu einer kritischen, d.h.
tatsaechlichen, Demonstration umzugestalten. Nicht, dass man
damit einverstanden waere, so ein Demonstrant auf dem Wege zur
Versammlung, was die israelische Regierung in Palastina an
Schrecken verbreitet, ein Land unter Besatzung genommen,
tagtaeglich terrorisert und obendrein sich als Opfer
darstellt, indem es das Leid was Juden in der Geschichte
angetan wurde als Freibrief zur Unterdrueckung anderer Voelker
missbraucht [...], nur ist es laengst an der Zeit in den
Spiegel zu schauen, sich zu fragen: Was macht die iranische
Regierung? Ist sie irgendwie besser? Wie geht es den Mensch im
Iran, wie fuehlen sie sich?
Die Antwort
ist laengst kein Geheimnis mehr, auch wenn es die Regierung
gerne so haette, die Bevoelkerung im Iran ist angesichts einer
Maschinerie der Unterdrueckung, die den Menschen vorschreibt,
wie sie zu leben, zu denken haben, bei nicht Einhalten
unmenschliche Strafmassnahmen einsetzt – die Bevoelkerung im
Iran, denen es nicht nur an Freiheiten fehlt, sondern die
grossteils bis auf die Knochen oekonomisch ausgebeutet werden,
in Armut leben muessen, sind zutiefst unzufrieden mit der
herrschenden Ordnung.
So soll heute, statt platter Antiamerkanismus, statt der
ueblichen Politik der Ablenkung, immer wieder als Parole zu
hoeren sein: "Stuerzt den Dikator! Stuerzt die Diktatur!"
Als die ersten Menschen gegen 10 Uhr frueh beim 'Haft Tir
Meidan' (Haft Tir Square) sich vorsichtig fuer den erneuten
Aufstand sammeln, war dort schon eine kleinere Gruppe
erkennbar, die jedoch eher fuer die traditionelle Demo
gestimmt war, offensichtlich Anhaenger der autoritaeren
Regierung. Es beginnen sich zoegerlich Blicke zu treffen, man
schaut sich an, ist sich nicht sicher, wer fuer welchen Zweck
hier ist, ob fuer den Aufruf im Staatskalender oder fuer den
Aufbruch. Man ist achtsam, am Vortrag machte sich ueber das
staatliche Fernsehen die Meldung breit, dass die Armee mit
Gewalt gegen 'rebellische Aktivitaeten' vorgehen wird, d.h. es
ist vor allem die Erkennungsmerkmale der Bewegung verboten:
Haende gebunden in Schlaufen aus Gruen, hochgehalten zum
Viktoryzeichen; schon gar nicht erlaubt, sich alternativ zu
sammeln, 'rebellische Parolen' zu skandieren, wie etwa: "Wenn
die Regierung bleibt, wird jeder Tag wie dieser!", wie sie von
allen Ecken der Stadt bis zum Sonnenuntergang noch zu hoeren
sein wird.
Die ersten geben sich zu erkennen, zeigen Farbe, bald wird
klar, dass bis auf diese Gruppe, alle zur Rebellion gekommen
waren. Die Menschen werden selbstbewusster, wie von
geisterhand, werden es innerhalb kurzer Zeit Tausende, dann
unueberschaulich, stehe auf einer Bruecke, mache Videos mit
meiner Handkamera, unendlich erscheinen die Menschen, wo auch
immer das Auge blickt. Es ist nun entschieden, der Inhalt der
Demonstration ist definitiv nun ein anderer, der Aufstand war
intellegent, nutze eine Veranstaltungen der Regierung um sie
umzufunktionieren: "Nicht fuer Gaza, nicht fuer Libnaon, wenn
sterben, dann fuer die Freiheit!" [2]
Das Herz schlaegt hoeher, die Stimmung emotional, geladen;
"unmoeglich, es gibt fuer den Iran kein zurueck mehr in eine
repressives System der Heuchelei, fuer ein Ankommen der
Zukunft!" sagt mein Freund mit leuchtenden Augen. Es geht in
Richtung 'Azadi Meidan' (uebersetzt 'Platz der Freiheit').
Eine Frau, kreativ, pflueckt von Baum einen Ast mit gruenen
Blaettern, haelt sie hoch in die Luft, atmet die Stimmung in
Gruen tief ein, die gemeinsame Farbe des Aufstandes, im Chore
mit all den Anderen schreit sie heraus: "Hab keine Angst, du
bist nicht allein!"
Eine junge Frau [3] haelt am Strassenrand ein Plakat mit einem
nachdenklichen, ebenso jungem, Gesicht darauf abgedruckt in
den Haenden: "Der hat mit uns studiert, sie haben ihn
umgebracht!" Die Zahlen der Toten seit dem Beginn des
Aufstandes im Juni ist nicht bekannt, Dutzende werden
vermutet, auch nicht wieviele in den Gefaegnissen eingsperrt
sind. Die Menschen schreien "Ende der Poltik des Gefaegnisses,
Freiheit fuer alle politisschen Gefangenen!", "Wenn ihr
verhaftet, werden wie eure Hoelle sein!"
Beim 'Valiasr Meidan' angekommen, war die Buehne fuer die
Abschlusskundgebung aufgebaut, aber auch dort nur wenige
Anhaenger der Regierung, kaum erkennbar. "Wenn ihr der
Islamismus der Unterdrueckung seit, sind wir der Islamismus
der Freiheit!" [4]
So ist die autentistische Theorie die Praxis selbst: Falls die
Freiheit noch immer, die Freiheit des Andersdenken bedeutet,
Demokratie etwas mit Toleranz, mit dem Aushalten der
Kontroverse zu tun hat, gab es in Teheran was zu lernen. Die
kleinen Gruppen von Regierungsanhaengern, die von einer Masse
der Rebellion ueberflutet war, wurden nicht attackiert. Als
wollte man die kommende Gesellschaft unter Beweis stellen,
wurde der Oppositon zur Revolte im eroberten Raum Platz
gegeben. Doch nochmals musste die Anhaenger von Ahmadi Nejad
ihre Fratze zeigen, und versuchten in einem ruhigen Moment
kurz einen Angriff, Ziel waren vor allem Khatami und Mousavi
[5], die sich unter den Demonstrant/innen befanden; erfolglos,
der Angriff war auf halben Weg schnell abgewehrt, die
Angreifer wurden jedoch nicht verfolgt, eine Provokation des
vielversprechenden Tages wollte man nicht mitmachen.
Freunde rufen an, auch auf der anderen Seite der Stadt, rund
um die Universitaet haben sich Massen versammelt, ziehen durch
die Strassen. Auch in anderen Orten Irans, soll es zahlreich
zu Protesten gekommen sein, in Orumieh, Esfahan, Shiraz,
Tabriz, Mashad, Hameda, Mazandaran (u.a.) wurde ebenfalls die
tradionelle Demonstration vom Aufstand eingenommen. Im
Staatsfernsehen werden Bilder von der Palastina-Demo vom
letzten Jahr ausgestrahlt, wuerden Bilder von heute gezeigt
werden, dann muesste das Staatsfernsehen die Revolte zeigen,
muesste die Botschaft der Bevoelkerung zeigen: die Regierung
ist selbst jenes Ungeheuer, was er in seiner Poltik der
Parnoia immer wo anders verortet.
Waehrend das Internet nicht funktioniert bzw. nur geringfuehig
(wir fragen uns: steht die Kommunikation etwa schon wieder
unter Zensur, wurde schon wieder das Internet grossteils
abgeschalten, nur offzielle Seiten der Regierung abrufbar, wie
so oft waehrend der Tage im Juni, um das organisieren zu
erschweren?), so moechte ich die Zeit nutzen, um eine
Botschaft einer Freundin noch nieder zu schreiben: "Der
Widerstand im Iran braucht ebenfalls keine heuchlerische
Solidaritaet von Menschen im 'Westen'. Hand aufs Herz, was
wuerden eure Regierungen machen, wenn sie wirklich Angst davor
haette gestuerzt zu werden? Wir sahen Bilder vom G8 in Genua,
obwohl es nicht zum Ziel eine Revolution hatte, sondern 'nur'
ein Protest war; wie die Carbineri Menschen noch in ihren
Schlafsaecken verpruegelt hat, wie ein Demonstrant erschossen
wurde; wir sehen wie tag taeglich Migrantinnen und Migranten
in "Schubhaft" ermodert werden, die noch nicht mal irgendeine
Tat begangen haben, wir haben die Brutalitaet in Griechenland
verfolgt, wir sahen die Bilder von Pagani... So wollen wir
bitte ehrlich sein, lassen wir nicht zu das rassisitische
Stereotypen, Vorurteile unsere gemeinsame Sehnsucht nach einer
anderem Leben, einer andern Welt ueberschatten. Solidaritaet
kann nicht bedeuten, dass ihr uns wie minderwertige Laender,
Kulturen betrachtet, dabei euch selbst als ach soviel besser,
als haettet ihr euch schon von euren gewaltaetigen Regierungen
emanzipieren koennen. So lasst uns gemeinsam kaempfen. Wir
geben bereits viel dafuer, sehr viel. Und du?")
................
[1] Aus einer spontanen Rede, ohne Megaphon, von einer
Demonstrantin am 'Haft Tir Meidan' in Teheran zu Beginn der
Proteste heute am 18.September 2009. Frei uebersetzt ins
Deutsche.
[2] Davon gab es auch die nationalistische Version: ''Nicht
fuer Gaza, nicht fuer Libanon, wenn sterben, dann fuer den
Iran'' Ueberahupt konnte man durch Parolen sehr gut die
unterschiedlichen Standpunkte erkennen.
[3] Der ueberwiegende Teil, zumindest in dem Kilometer, den
ich rund um mich blicken konnte, waren aufallend viele Frauen;
wie auch schon bei den vorgegangenen Demonstrationen. Mine
sagt, dass liege vor allem daran, dass die Frauen noch ein
groessers Problem haben mit dem herrschenden System, sind
merhfachbelastet. Das Selbstbewusstsein der Frauen bei den
Demonstrationen in Teheran (aber auch im Alltag), der Mut den
sie aufbringen, die Entschossenheit fuer ihre Freiheit, fuer
soziale Gleichstellung, koennte, wenn es verblendende
Vorurteile zulassen koennten, vorbildhaft sein fuer so manche
Feministin im Westen.
[4] Dies muss dazu gesagt sein, der Aufstand birgt in sich
unterschiedlichste politische Stroemungen, neben
sozialistisch/kommunistischen Weltanschauungen, buergerlich
Liberalen(, Anarchismus gibt es kaum und eher als theoretische
Position), doch der grossteil steht dennoch nicht im
Widerspruch mit dem Islamismus. Z.b. Selbst eine Frau, die
ihre Kopftucher waehrend den Aktionen fuer einen Monent fallen
lassen, um damit gegen den Zwang zu protestieren, koennen
dabei noch immer ‚Allah u Ekber’ skandieren (das heisst 'Allah
ist das Grosse', vielleicht besser uebersetzt mit: 'Allah ist
das Ganze', wobei Allah hier einfach die Einheit des Ganzen
meint; also nicht ganz das selbe, was man in der ueblichen
abendlaendischen Theologie unter "Gott" als reiner
Schoepfergott bzw. als Menschwerdung Gottes versteht...).
Islamismus wird im Iran, ueberhaupt im nahen und mittleren
Osten grundsaetzlich anders verstanden, als wie es im Westen,
im 'War against Terror', diskutiert bzw. propagiert wird als
eine einheitliche superautoritaere Ideologie. 'Islam' ist hier
zunaechst wortwoertlich zu verstehen, als die Hingabe an
Allah, d.h. an das Ganze des Seins, ein gewisses Vertrauen
darin, in die Allgemenheit der Existenz, in dessen regulative
Gerechtigkeit (daher ist auch soziale Gerechtigkeit immer
schon ein zentrales Thema). Man kann ohne weiteres im Iran
Islamisten (in diesem Sinne) begegenen, die nicht noch nicht
einmal an den bestehenden Koran als heilige Schrift glauben,
die der Meinung sind, dass dieser schon damals von den
Herrschenden verfaelscht worden sei, wie es ihrer Herrschaft
gepasst habe, dass gerade das islamistische Verstaednis die
Ablehnung eines Buches als totale Wahrheit, d.h. als
herrschenden ueber der Einheit Allahs, ablehnen muesste.
(diese libaerten Positionen sind, soweit es ueberhaupt
vergleichbar ist, am ehersten zu vergleichbar mit dem
'angagierten Budismus', Teile der Befreiungstheologie im
Christetum (wie etwas in Chiapas), oder mit freiheitlich
sozialen Stroemungen im Judentum, aber auch ueberhaupt mit
poltisch-philosophischen Konzeptionen von Welt und
Gesellschaft...).
[5] Obowhl der Name Mousavi oft in Medien genannt wird als der
'Anfuehrer der Oposition', darf man nicht vergessen, dass fuer
viele der Wahlbetrug, der die Amchtergreifung Moussavis
verhindert hat, nur eine gute Ausrede ist, um auf die Strassen
zu gehen. Die Meisten, so stellt es sich zuoft in Dikussionen
heraus, scheinen tatseachlich, nach 30 Jahren Unpolitik,
begriffen zu haben, dass es so grundsaetzlich nicht weiter
gehen kann. Dennoch sind die Leute sehr vorsichtig, weil schon
einmal die Revolution (1979 – bzw. nach dem Sonnenkalender,
der im Iran benutzt wird, im Jahre 1357) schon damals die
Revolution in eine falsche Richtung sich entwicklet hat.
Vorsichtig bedeutet jedoch nicht, dass eine Reform des
Bestehenden erwuenscht ist, es ist Wachsamkeit fuer eine
kommende, grundsaetzlich anderere, befreite Gesellschaft – das
noch kein Modell hat.
Editorische
Anmerkungen
Den Text spiegelten wir von
Indymedia, wo er am 19.09.2009 erschien.
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