Tote leben länger
Kirsten Heisigs Buch eine (leider) wirkungsmächtige Schmähschrift mit braunen Wurzeln"

von Karl Mueller

09/10

trend
onlinezeitung

„Indem man das Recht des Staates über das seiner
Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell gesetzt.“
(Adorno)

Als am 3.7.2010 bekannt wurde, dass die zuständige Richterin am Berliner Amtsgericht für Jugendstrafsachen in Nord-Neukölln, Kirsten Heisig, tot aufgefunden worden war, reagierte der Herder-Verlag blitzschnell und veröffentlichte am 26.7.2010  Heisigs Buch „Das Ende der Geduld – Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter“. Ursprünglich sollte das Buch am 13. September 2010 herauskommen.

Das war ein kluger Schachzug, denn das mysteriöse Ableben der „Richterin Gnadenlos“ gab zu allerlei Spekulationen Anlass. Rechte Kräfte überboten sich in Verschwörungstheorien. Auf diesem Resonanzboden wurde jeder diesbezügliche Pressebericht von der Bild-Zeitung (7.7.2010 „Das Vermächtnis der toten Richterin“)  über die Jungle World (5.8.2010, „Eine Studie“) bis zur Jungen Welt (23.8.2010 „Ein Plädoyer für ganzheitliche Lösungen“) zur Laudatio für Heisigs Buch. Zögerliche Kritik formulierte nur das Neue Deutschland: „Jugendrichterin Kirsten Heisig hat eine problematische »Streitschrift« hinterlassen.“ (21.7.2010)

Am 19.8.2010 meldete der Berliner Tagesspiegel, dass Heisigs Buch bereits in 11 Auflagen 200.000 Mal verkauft worden sei. Der Herder-Verlag teilte mit, dass demnächst eine türkische Übersetzung erscheinen werde. Letzteres verwundert kaum, denn Heisig macht sich in ihrem Buch gängige Pauschalurteile der „integrierten Westtürken“ über die „Bergtürken“, d.h. über aus Ostanatolien stammende MigrantInnen einfach zu eigen:

„Mir ist der Unterschied zwischen Zuwanderern aus Ostanatolien, das als bildungsfern gilt, und denjenigen aus der Westtürkei geläufig, da ich es in meiner „Vorortarbeit" in Neukölln sehr häufig mit gebildeten türkischstämmigen Mitbürgern aus der westlichen Region des Landes zu tun habe, während „meine" Angeklagten einen kurdischen, ostanatolischen oder angeblich palästinensischen Migrationshintergrund aufweisen. Die integrierten Westtürken haben überhaupt kein Verständnis dafür, dass der deutsche Staat  den Zuwanderern aus den östlichen Regionen nichts abverlangt. Sie sagen, viele dieser Menschen seien einfach strukturiert. Man müsse ihnen deutlich machen, was von ihnen erwartet wird.“ (S.85f)

Nun könnte jemand an dieser Stelle noch glauben, die Übernahme solcher dümmlichen Zuweisungen geschähe aus Naivität. Doch wer Heisigs Buch einigermaßen aufmerksam liest, muss sich schnell eines anderen belehren lassen.  Kirsten Heisig setzt mit ihren Buch auf das Ticket, dass seit dem 9.11. 2001 auch in der BRD ausgegeben wurde:  Die Diffamierung der arabisch-muslimischen Community.

Geschichten wie aus der Bildzeitung 

Kirsten Heisig teilt ihr Buch in zwei Teile. Dazwischen stellt sie ihre „Zwischenbilanz“. Im ersten Teil will sie als „Praktikerin“ (S.17) anhand von einzelnen Lebensläufen vermitteln, wie es zu Straftaten von Jugendlichen kommen kann. Dazu erzählt sie ihre Fälle in dem Tenor, wie sie tagtäglich in der Bildzeitung und vergleichbarer Boulevardpresse verlautbart werden. Entsprechend schlicht sind Heisigs Sprache und klischeehaft der Inhalt.

Hier eine kleine Blütenlese:  

  • Das ewige Hin und Her tut keinem der Kinder gut. Die schulische Entwicklung verläuft entsprechend.“ (S.13)
  • „Wenn die Eltern trinken, sind sie mit sich selbst beschäftigt, haben keine Kontrolle über das eigene Leben und sind nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. (S.17f)
  • „Viele Jugendlichen kombinieren andere Drogen beispielsweise mit Ecstasy, bevor sie abends ausgehen.“  (S.23)

Zwischendrin beschleicht sie dann schon mal „das Gefühl, nicht hinter die Kulissen blicken zu können.“ (S.21), was sie aber nicht davon abhält, Dönekes an Dönekes zu reihen, die an heimattreuen Stammtischen nationalgesinnten Menschen die Lufthoheit sichern helfen, Hetze gegen AntifaschistInnen mit eingeschlossen (siehe S. 71). 

Unseriöse Zahlenspiele 

Um den Wahrheitsgehalt ihrer „Sicht der Dinge“ (S.10) anzureichern, liefert Kirsten Heisig  Zahlenmaterial – allerdings nur aus einer (!) öffentlichen Quelle – der Berliner Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) vom Frühjahr 2009,  das sie dann zweckdienlich interpretiert. (S.27ff) Dafür bemüht sie irgendwelche Zahlen aus einer (!) nicht-öffentlichen Quelle der Jugendgerichtshilfe Neukölln. Was von Heisigs Zahlenspielen zu halten ist,  klingt beim Tagesspiegel, der ihr immer wohl gesonnen war, so: „Weil sie zuspitzt, um Gehör zu finden, besteht die Rezeption von Kirsten Heisigs Buch zu einem guten Teil in der Korrektur der von ihr benutzten Zahlen.“ ( Tsp. v. 31.7.2010) 

Das ist wahrlich milde ausgedrückt. Heisig spitzt nicht zu, sondern verfälscht gezielt durch Weglassungen. Zwei Beispiele als Beleg:   

Auf Seite 27 präsentiert sie die Zahl der Tatverdächtigen unter 21 Jahren aus dem Jahre 2008 der Berliner PKS 2009: 31.891. Sie kommentiert, dass es sich in „absoluten Zahlen“ um die „niedrigste Anzahl seit Einführung“ der Statistik handele. Weder erfahren die LeserInnen, seit wann die Statistik geführt wird, noch wie der Höchststand mal war. Nämlich im Jahre 2000 bei Einführung: 41.525. (PKS Berlin 2009, S.125) Solch eine Information würde nur stören. Im Übrigen ist dort zu lesen, dass der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtzahl der Berliner Tatverdächtigen 9 % beträgt. (ebd. S.124) 

Auf Seite 31 behauptet Heisig, dass es laut Staatsanwaltschaft  550 jugendliche Intensivtäter in Berlin gäbe. Diese Zahl nutzt sie zu einer Hochrechnung, nach der Tausende geschädigt wurden (S. 32).  Auf Seite 80 spricht sie dann von 215 Tätern in Neukölln. Um dieses Horrorbild aufrecht zu erhalten, unterschlägt sie, dass im Frühjahr 2010, also bei Fertigstellung ihres Buches in ihrem Zuständigkeitsbereich Neukölln und Kreuzberg 92 von 171 jugendlichen Intensivtätern einsitzen. Und das sei nur eine durchschnittliche Quote, sagt der zuständige Kommissariatsleiter Andreas Wolter der „Zeit“.  Der Rekord habe im Herbst 2009 bei 58 Prozent gelegen. (Die Zeit vom 8.2.2010) 

Wie wenig seriös Frau Heisig argumentiert, wird erst recht deutlich, wenn man die PKS genauer unter die Lupe nimmt, dann bleiben 2008 berlinweit nur noch 142 jugendliche Intensivtäter übrig (PKS 2009, S.149) , sodass auch die Zahlen des Kommissariatsleiters Andreas Wolter infrage gestellt werden müssen. Oder anders: Wer für politische Stimmungsmache Zahlen braucht, der stellt sich mithilfe der PKS einfach neue zusammen, indem der Kanon der  Straftaten erweitert wird und nun auch Sachbeschädigung und Widerstand bei der Festnahme dazugezählt werden. Womöglich werden demnächst auch noch Schwarzfahren und Schulschwänzen hinzugezählt, allein um der Tatsache propagandistisch entgegen zu treten, dass die die Jugendkriminalität weiterhin stark rückläufig ist. Dazu heißt es nämlich  in der BKA-Presserklärung vom 18.5.2010: 

„Besonders signifikant ist - wie schon in den Vorjahren - der erneute Rückgang bei den jugendlichen Tatverdächtigen im Alter von 14 bis 18 Jahren. Zurückgegangen sind in dieser Altersgruppe insbesondere die Anzahl der Tatverdächtigen bei der Gewaltkriminalität um fast 9 Prozent (2008: 43.574; 2009: 39.722) sowie bei der in der Gewaltkriminalität enthaltenen gefährlichen und schweren Körperverletzung um 9,4 Prozent (2008: 35.384; 2009: 32.072). Die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen bei Körperverletzungsdelikten ist um 7,2 % von 66.719 Fällen im Jahr 2008 auf 61.940 im Jahr 2009 zurückgegangen. Bei Sachbeschädigungsdelikten ist die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen um 10,1 % von 47.730 Delikten im Jahr 2008 auf 42.907 Delikte im Jahr 2009 gesunken.“  

Und weil solche Zahlen, zudem noch von einer relevanten bundesweiten empirischen Untersuchung (44.610 befragte Jugendliche) gestützt werden, sieht sich Frau Heisig im zweiten Teil ihres Buches dann noch einmal veranlasst, diese Untersuchung als nicht haltbar zu charakterisieren, um ihre eigenen Zahlen weiterhin valide erscheinen zu lassen. (S.134-145) 

Worin liegt nun der Nutzen von Heisigs unseriösen Zahlenspielen?  Zunächst erstmal darin, Legitimität für das Klagelied zu stiften, das Kirsten Heisig daraufhin anstimmt (S. 45-63), um zu zeigen, wie hart sie angeblich arbeiten muss (300 Einzelrichter- und 80 Schöffentermine im Jahre) und wie sehr es sie unter diesem Arbeitsdruck betroffen macht, dass die gerichtlich verfolgten Jugendlichen und deren Anwälte bei der Rechtsfindung nicht mittun wollen. „Die Geständnisbereitschaft der Angeklagten hat nach meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren deutlich abgenommen.“ (S. 59) Und: „Die Verteidigung der Angeklagten wird zu dem von machen Strafverteidigern auf konfliktträchtige Art geführt.“(ebd.) 

Kulturalistische Klischees und braune Argumente 

Der Hauptgrund für diese Zahlenklitterungen ist wohl eher bei Heisigs Anliegen zu suchen, den LeserInnen  „das Ende der Geduld“ des Staatsapparates in Gestalt des „Neuköllner Modells“ empirisch plausibel zu machen. Diese Empirie wird  mit der Konstruktion einer widerwärtigen arabischen Täterfigur bebildert. Dazu greift Heisig auf Güner Balcis Erzählung „Arabboy“ zurück (S. 72ff), um die dort geschilderten Lebensgewohnheiten, Sitten, Gebräuche sowie Straf- und Gewalttaten als Folie für ihr fiktives Täterbild von „Yilmaz, Hussein und Kaan“ zu missbrauchen. 

„Rashid drehte die Musik leiser, niemand sollte sie hören. Dann stieg er aus, klappte den Beifahrersitz nach vorn und machte sich daran, Devrim die Stretch-Röhrenjeans runterzuziehen. Sami hielt sie währenddessen im Würgegriff und mit jedem Befreiungsversuch, den Devrim unternahm, drückte er nur noch fester zu. Devrim bekam kaum noch Luft. Rashid zog ihr Hose und Unterhose aus und zückte sein Handy. Diesen Moment wollte er festhalten, für sich und für alle anderen, sozusagen ein Leckerbissen unter den Handyfilmen.“ (S.75) 

Dass kulturalistische Klischees en vogue sind, um die Ursachen der immer krasser werdenden Klassenverhältnisse in der BRD  zu verschleiern und um einen Diskurs zu befördern, in der Rasse als Kultur kodiert wird, um Sündenböcke für soziale Verwerfungen zu erfinden, ist die eine Sache, sich jedoch dieser Argumentation skrupellos zu bedienen, um Ängste zu schüren, ist bei Heisig reines Mittel zum Zweck:  Ausdehnung der „Neuköllner Modells“ auf ganz Berlin plus weitere Verschärfungen. Doch dazu weiter hinten. 

Zunächst einmal geht es Heisig jedoch darum, ihr kulturalistisches Konstrukt fertig zu basteln. Das geschieht in den Unterkapiteln „Einige ‚libanesische’ Großfamilien“ und „Wo gar nichts mehr geht“ (S.88ff). Laut Heisig leben die „Libanesen“ in Deutschland in zehn bis zwölf Clans, „die einige tausend Menschen umfassen.“(S.89) Ihren Mutmaßungen wird zunächst folgende Tatsachenbehauptung zur Einstimmung vorangestellt: 

„Es gibt zudem in Deutschland zugewanderte Menschen, die nie vorhatten, sich einzufügen, sondern schon immer in einer parallelen, in einigen Fällen rein kriminell ausgerichteten Struktur gelebt haben und aus meiner Sicht weitgehend beabsichtigen, damit fortzufahren.“ (S.88) 

Für die „Libanesen“ gilt desweiteren strafverschärfend: „Sie agieren sowohl im Innen- wie im Außenverhältnis kriminell.“ (S. 89) 

Nach Heisig leben die „Libanesischen Großfamilien“ nach einem bestimmten „System“(S.91), das folgendermaßen funktioniert: Die Familie, bestehend aus bis zu 19 Kindern, erschleicht sich mit dubiosen Papieren die Einwanderung, um hier von staatlicher Unterstützung zu leben. Um aufwendiger als deutsche Hartz-Vierer leben zu können, begehen Männer wie Frauen unzählige Straftaten. 

„Von Drogen- und Eigentumsdelikten über Beleidigung, Bedrohung, Raub, Erpressung, gefährliche Körperverletzung, Sexualstraftaten und Zuhälterei bis zum Mord ist alles vertreten. Die Kinder wachsen weitgehend unkontrolliert in diesen kriminellen Strukturen auf. Auch sie begehen deshalb oft von Kindesbeinen an Straftaten. Der Staat kommt an diese Familien nicht heran.“ (S.92) 

Mit nahezu kongruenter Argumentation, konstruierten die Nazis ihr Bild von den so genannten „Gemeinschaftsfremden“, deren Wertvorstellungen völlig andere seien als die der Deutschen. Weil sie von Hause aus kriminell sind, passen sie sich nicht an, sondern nutzen das deutsche Gemeinwesen nur aus.  In diesem Sinne heißt es in einem Beitrag aus dem Jahre von 1939  für die Diskussion über den Erlass eines „Bewahrungsgesetzes“ für „Gemeinschaftsfremde“: 

„Unsere Blickrichtung muß sich bewußt vom Einzelschicksal abkehren und auf die Gesamtheit hinwenden; nur was dem Volke als Ganzem nützt, ist richtig, und was ihm schadet, ist falsch. Und es ist ein schweres Unglück für das deutsche Volk, wenn viele Tausende von Asozialen und Antisozialen als Parasiten in ihm leben, täglich am Eigentum und an der Gesundheit ihrer Mitmenschen sich vergreifen, der Volksgemeinschaft riesige Kosten verursachen und hemmungslos eine minderwertige Nachkommenschaft in die Welt setzen.“ Heinz Gerecke. Zur Frage eines Bewahrungsgesetzes(1939). S. 151ff

Nach 1949 abgeschafft gab es in der BRD ab 1962 mithilfe des § 73 Bundessozialhilfegesetz ein Quasi-Bewahrungsgesetz, gegen dessen Einführung die KPD bis zu ihrem Verbot 1956 als einzige Partei vehement entgegengetreten war. Dieser Paragraf sah die Zwangsunterbringung vor: wenn 1. der „Gefährdete besonders willensschwach oder in seinem Triebleben besonders hemmungslos ist“, 2. der „Gefährdete verwahrlost oder der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzt ist“;  „3. die Hilfe nur in einer Anstalt, in einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung wirksam gewährt werden kann“. (siehe Mathias Willing, Das Bewahrungsgesetz 1918-1967, Tübingen 2003, S. 253ff)  

1967 erklärte das Bundesverfassungsgericht allerdings eine derartige Unterbringung für verfassungswidrig. (Willing, ebd.)  Kirsten Heisig gehört(e) jedoch nicht zu dem Teil des juristischen Personals, welches sich von solch höchstrichterlichen Entscheidungen beeinflussen lässt. Wenn sie könnte, d.h. wenn die Rechtslage eine andere wäre, würde Heisig – aus Sorge um den deutschen Staat - am liebsten abschieben: 

„Wenn der deutsche Staat diese Familien weiterhin im Land belässt und sie jahrzehntelang ohne jede Gegenleistung unterstützt, obwohl sie die Gesellschaft hemmungslos schädigen, blamiert er sich aufs Äußerste und lädt zur Nachahmung ein. Ich gebe auch zu bedenken, dass wir gegenwärtig das Heranwachsen von Kindern unter kriminogenen Entwicklungsbedingungen gestatten, obwohl es unsere Pflicht wäre, diese Kinder vor ihren Eltern und älteren Geschwistern zu schützen.“ (S. 95)

Nach knapp hundert inhaltarmen aber dafür mit Vorurteilen gesättigten Seiten formuliert Kirsten eine „Zwischenbilanz“ (S.100f), die angesichts dessen sogar noch dümmer ausfällt.  Sie enthält jedoch einen  interessanten Hinweis. Frau Heisig ist allen Ernstes der Meinung, dass rechtsradikale Jugendliche im Gegensatz zu den Arabboys, „durch schnelle, konsequente und teilweise harte Strafen“ zu erreichen wären. Folglich: „ Das Problem hält sich sowohl statistisch als auch aus praktischer Sicht in Grenzen.“ (S. 100)  Damit kündigt sie ihre im zweiten Teil formulierten Aussonderungs- und Abstrafungsvorschläge gegen arabisch-muslimische Kinder und Jugendliche mit einer bemerkenswerten Message an: Nazis sind lernfähig, sie sind schließlich Deutsche und keine Fremden. 

Rechtspopulistische Vorschläge

Im zweiten Teil werden, ohne sich in theoretische Unkosten zu stürzen, von Kirsten Heisig  zunächst einmal die staatlichen Wirkungsfelder Schule, Jugendamt und Polizei abgegrast.  

An der Schule (S.102-124) interessieren sie freilich kaum die Inhalte und Methoden des Lernens, sondern für sie ist Schule eine staatliche Ordnungsmacht, die in dieser Funktion nicht beschädigt werden darf, „denn sonst kommt der Staat als zahnloser Tiger daher“(S.108) Deswegen sind für Kisten Heisig die zentralen Themen zur Durchsetzung der Staatsraison – vor allem gegen die arabisch-muslimische Community - Maßnahmen gegen das Schwänzen wie Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen sowie die Verhängung von Bußgeldern und Erzwingungshaft, desweiteren Wachschutz vor und in den Schulen und eine berlinweite Schülerdatei. Dass für sie dabei das repressive Rotterdamer Modell Vorbild ist, daran lässt sie weiter hinten keinen Zweifel aufkommen: „Ich bin ein Fan von Rotterdams Umgang mit den bekannten Schwierigkeiten.“(S. 168) 

Am Jugendamt – hier beschränkt sie sich merkwürdigerweise nur auf Neukölln - hat  Heisig eigentlich  gar nichts auszusetzen, außer dass deren Personaldecke zu dünn wäre. (S.125-129)  Da der Jugendrichter berechtigt, ist über das Jugendgerichtsgesetz (JGG) hinaus richterliche Weisungen zu erfinden (F. Streng, Jugendstrafrecht, S.177), entsteht hier eine dauerhafte Schnittstelle zum Jugendamt, die von „freien Trägern“ im Auftrag des Jugendamts ausgestaltet wird.  Heisig bezieht sich hier beispielhaft auf die so genannten „Anti-Gewalt-Maßnahmen“ (146-154). Ihre Begeisterung hält sich aber in deutlichen Grenzen, denn es gäbe „eindeutig zu viele Einzelinitiativen“ (S.153), wodurch sie als Richterin überfordert sei. 

Für die „Berliner Polizei“ weint sie Krokodilstränen: Zwar sei die Personaldecke auch dünn, doch die Frustration „an der Basis“ sei  vor allem auf den „erschwerten Umgang mit den Tatverdächtigen“ (S. 131) zurückzuführen, und schlussfolgert in Law- und Order-Manier: 

„Die verbale Herabsetzung oder sonstige Entwürdigung eines Staatsbediensteten darf nicht hingenommen werden und muss dementsprechend grundsätzlich und nicht nur im Ausnahmefall geahndet werden. Meines Erachtens ist die Justiz hier auch in der Pflicht, durch spürbare Sanktionen gegenüber den Angeklagten deutliche Zeichen zu setzen. … Eine starke, selbstbewusste Polizei ist nicht zuletzt auch deshalb von Bedeutung, weil die Ablehnung staatlicher Einrichtungen und ihrer Repräsentanten ein allgemeines Phänomen ist und eine Reflexwirkung auf den Staat und seine Einrichtungen insgesamt entfaltet. (S.133f)

Bevor schlussendlich Kirsten Heisig „ihr“ Neuköllner Modell vorstellt und weitere Verschärfungen  propagiert (S. 177-195), platziert sie eine als „länderübergreifende Betrachtung“  betitelte persönliche Reiseberichterstattung über die Handhabung von Prävention und Strafe in Oslo, Glasgow, London und Rotterdam ( S.154-176) , die sie mit deutlichem Eigenlob abschließt: 

„Ein großer Vorteil Deutschlands gegenüber den anderen Ländern ist, dass wir über das Jugendgerichtsgesetz verfügen. Es bietet viele Möglichkeiten, auf Straftaten junger Menschen variabel zu reagieren. Auch die konsequente Verfolgung von Intensivtätern scheint mir in den anderen Ländern bislang wenig strukturiert zu sein. Allein die Kategorisierung der Straftäter fällt häufig schwer. Hier liegen die von mir besuchten Städte weit hinter uns.“ (S.176)

Das „Neuköllner Modell“

Endlich auf S. 177 kommt Kirsten Heisig auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen: Das „Neuköllner Modell“, dessen berlinweite Einführung Heisig noch im Juni 2010 erleben durfte.  Was ist das „Neuköllner Modell“? Heisig definiert es als „die geschicktere Nutzung der §§ 76ff des Jugendgerichtsgesetzes (JGG).“ (S.179). Diese Paragrafen regeln Voraussetzungen und Durchführung des vereinfachten Jugendverfahrens und dienen den „verfahrensökonomischen Interessen der Verwaltung und Justizbehörden“ (Ulrich Eisenberg, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, S.664). Im Gegensatz dazu behauptet Heisig, ihre Motive, die §§ 76 JGG „geschickter zu nutzen“, seien in erster Linie pädagogischer Natur.  

„Denkt man an seine eigenen Kinder, gelangt man zum einen auch bei mäßigem Fachwissen zu der Erkenntnis, dass ein Fernsehverbot drei Wochen nach dem verspäteten Nachhausekommen nichts mehr bringt. Das gilt im Prinzip auch für jugendliche Straftäter. Die Verfahrensdauer muss also verkürzt werden.“ (S. 177)

Die Verkürzung des §76er-Verfahrens soll dadurch möglich werden, dass als erstes ein entsprechend geschulter und mit „schriftlicher Handlungsanweisung“ (S.183) ausgestatteter Sachbearbeiter auf dem Polizeiabschnitt die zur Anzeige gelangte Straftat rechtlich prüft und nach eigenem Ermessen entscheidet, ob er einen bestimmten Staatsanwalt anruft, der speziell für §76er-Verfahren zuständig ist. Dem schlägt er die frist- und formlose Einleitung des Verfahrens vor. Übernimmt der Staatsanwalt die Ergebnisse des polizeilichen Vorcheckings, wendet er sich sofort an den ortszuständigen Jugendrichter und beantragt dort mündlich das §76er-Verfahren. (siehe S.181)

Sodann schaltet der Jugendrichter gemäß JGG unverzüglich die Jugendgerichtshilfe des Wohnbezirks der beschuldigten Jugendlichen ein. Dort gibt es nach diesem Modell einen(!) zuständigen Sozialarbeiter, der sich nur um die Bearbeitung §76er-Verfahren kümmert. (S.182)  Damit sind alle verfahrensnotwendigen Schritte für eine „Dreiviertelstunde Verhandlungsdauer“ (S.181) eingeleitet,

Interessanter Weise kommt der Jugendliche bei Heisigs Darstellung des „Neuköllner Modells“ nur als Objekt des §76er-Verfahrens aber nicht als Subjekt mit eigenen Rechten vor. Dies hat seinen guten Grund darin zu verschweigen, dass der beschuldigte Jugendliche gar nicht gezwungen werden kann, weder mit der Jugendgerichtshilfe zusammenzuarbeiten noch zu der §76er -Gerichtsverhandlung zu erscheinen, wo er nach Heisig „richterlich ermahnt und bis hin zum vierwöchigen Dauerarrest“ (S.181) bestraft werden wird. Im JGG-Kommentar heißt es dazu:

„Bleibt der Jugendliche dem Termin zur mündlichen Verhandlung ohne genügende Entschuldigung fern, so sind die freiheitsbeschränkenden Zwangsmittel des §230 Abs.2 StPo nicht anwendbar …. da die mündliche Verhandlung (nach §§76-78 – kamue) keine Hauptverhandlung im Sinne des §226 StPo darstellt …. Notfalls lässt sich in entsprechenden Fällen ein förmliches Verfahren – unter Einschluss der erwähnten Zwangsmittel (die Vorführung – kamue) durchführen, indem der Jugendstaatsanwalt seinen Antrag zurücknimmt und Anklage erhebt.“ (Ulrich Eisenberg, ebd. S. 668)

Es bedarf wohl keiner besonderen Phantasie sich auszumalen, dass dieser Sachverhalt den jugendlichen Beschuldigten weder von den vier am Verfahren beteiligten staatlichen Behörden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe und Jugendgericht) erläutert wird, noch von diesen Jugendlichen der obige Rechtskommentar gefunden und wenn, in seinen Rechtsfolgen verstanden wird.

Eine der möglichen Rechtsfolgen des Fernbleibens wäre in der Tat, dadurch die Einleitung eines form- und fristgemäßen Verfahrens mit einer Hauptverhandlung zu erzwingen. In dieser kann nicht wie im  §76er-Verfahren von bestimmten Rechtsgrundsätzen (z.B. Verzicht auf Zeugenhörung, da die Aussage bei der Polizei in der Prozessakte vorliegt) abgewichen werden.

„Von dem Zeitpunkt an, in dem die Sache sich im vereinfachten Jugendverfahren befindet, praktisch vor allem bei Durchführung der mündlichen Verhandlung, sind ggf.  Abweichungen von dem allgemeinen Jugendstrafverfahrensrecht zulässig. Sie finden ihre Grenzen in der Wahrheitsermittlungspflicht (§ 78 Abs. 3. S 1). Dabei liegt es im erheblichen Maße im pflichtgemäßen Ermessen des Jugendrichters, zu entscheiden, ob ein Absehen von einer förmlichen Verfahrensvorschrift zu Lasten der Wahrheitsermittlung gehen könnte.“  (Ulrich Eisenberg, ebd.)

Außerdem hat der Jugendliche ausreichend Zeit sich anwaltlich zu beraten, sich unterstützen sowie über die Akten- und Beweislage informieren zu lassen.

Was Heisig unter dem im Eisenberg-Kommentar angesprochenen „pflichtgemäßen Ermessen“ versteht, illustriert sie eindringlich mit folgender Fallschilderung, worin sie aus der mündlichen Verhandlung eine „Hauptverhandlung“ macht, die es im §76er-Verfahren  gar nicht gibt.

„Der Schüler beleidigt seinen Lehrer mit den Worten „Hurensohn, ich ficke die ganze Schule". Drei Wochen später treffen sich beide vor Gericht. Der Schüler hat noch nicht die Lehranstalt gewechselt, man begegnet einander täglich. In diesen Situationen hat bereits die Hauptverhandlung einen erzieherischen Effekt. Wenn sich in der Verhandlung abgesehen von der Straftat zeigt, dass der Jugendliche Unregelmäßigkeiten im Schulbesuch aufweist, verhänge ich oft eine Schulbesuchsweisung. Der Angeklagte, der zwar ohnehin der Schulpflicht unterliegt, aber diese geflissentlich ignoriert, wird damit zum Schulbesuch verurteilt. Das hat eine interessante Folgewirkung: Ich rufe die Klassenlehrer an und teile mit, dass Steven - so nennen wir ihn hier einmal - in der Schule zu erscheinen hat. Wenn er nicht da ist, will ich sofort informiert werden. Dann kann ich einen Anhörungstermin ansetzen und einen Beugearrest bis zu vier Wochen verhängen. (S.183)

Der Arrest und seine braunen Wurzeln

Die breite Akzeptanz, die das „Neuköllner Modell“ in den Amtsstuben des Berliner Senats erfahren hat,  dürfte weniger von der Sorge um die heranwachsende Generation bestimmt gewesen sein als von der Aussicht auf zukünftig ressourcen-  und kostensparende Behördenabläufe.  Dass mit diesem Modell der Polizeibeamte zum „Quasi-Richter vor Ort“ ermächtigt wird und freiheitsentziehende Maßnahmen wie der Arrest im Schnellverfahren auf dem Felde der Jugenddelinquenz Standard werden,  wird übrigens dem starken Staat nicht zum Nachteil gereichen. Letzteres und die von Heisig bereits vor Erscheinen ihres Buches gebetsmühlenartig erhobene Forderung nach umfassender Anwendung des Arrests sind Grund genug, der Frage nachzugehen, seit wann in der deutschen Rechtsprechung der Jugendarrest als Sanktionsmittel angewendet wird.

Das 1923 in Kraft getretene Jugendgerichtsgesetz fußte auf dem Grundverständnis, dass Erziehungsmaßregeln Vorrang gegenüber der Freiheitsstrafe haben müssen. Ein dazwischen geschalteter  Arrest als „Zuchtmittel“ war nicht enthalten. Nach 1933 wurde der Arrest  durch die Nazis zum Erziehungsmittel uminterpretiert, als Zuchtmittel gelabelt und schließlich 1940 auf dem Verordnungswege in das Jugendstrafrecht eingeführt, das 1943 in noch einmal verschärfend überarbeitet wurde. Insbesondere in Sachen Arrest kam nun der so genannte „Ungehorsamsarrest“ hinzu. Hauptpromoter des Jugendarrests war der berüchtigte Nazi-Verbrecher, Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler - ab 1942 Volksgerichtshofspräsident (siehe Petra Götte, Jugendstrafvollzug im III.Reich, 2003, S.43ff)

Als wesentlichen Grund für die Einführung des Arrests als Zuchtmittel durch die Nazis nennt Miriam Kretschmer die Durchsetzung der 1939 eingeführten Jugenddienstpflicht gegen sich verweigernde Jugendliche und Eindämmung der Arbeitsbummelei. Ganz allgemein diente der Arrest als Mittel zur Aufrechterhaltung der Disziplin im Krieg an der „Heimatfront“. (Miriam Kretschmer, Der Jugendarrest. Ursprünge, heutige Handhabung und Sinnhaftigkeit, 2001, S 2ff). Nach Kretschmer galt jedoch für die Nazis der Jugendarrest als ungeeignet für „hoffnungslose Kriminelle“  und „fremdvölkische Jugendliche“. Für die „Gutartigen“ war der Jugendarrest eine „kurze aber harte Erziehungsstrafe“ und für Freisler ein „Ordnungsruf mit abschreckender Schockwirkung.“ (ebd.)    

Übrigens ähnlich argumentiert auch Kirsten Heisig: „Die Verfahren, die wir auf diese Weise erledigen, sind allerdings nicht geeignet, auf Intensivtäter einzuwirken, da bei diesen bereits Jugendstrafen im Raum stehen. Aber ein Element zur Verhinderung von Intensivtäterkarrieren ist darin durchaus zu sehen.“ (S.185)

1953 wurde in der BRD das Jugendgerichtsgesetz in seiner faschistischen Fassung durch eine nach FDGO-Grundsätzen überarbeitete Fassung ersetzt. Unangetastet blieb im JGG  der Arrest als Straf- und Zuchtmittel zur Durchsetzung richterlicher Weisungen. Im JGG §11 und 15 ist zwar nur schlicht vom Jugendarrest die Rede, während in der kommentierenden Literatur begrifflich genau differenziert wird. Da gibt es den Beugearrest, dann ist mal vom Ungehorsamsarrest die Rede. Beliebte Formulierungen sind auch Zwangs-, Nichtbefolgungs- oder Beschlussarrest.  (Kretschmer S.6)

Tote leben länger

Im April 2010 veröffentlichte der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein e.V (RAV) in seinem Infobrief 103/2010 einen Artikel, der sich mit Kirsten Heisig gebetsmühlenartiger  Verbreitung von "Horrorszenarien über den Untergang des Abendlandes bzw. über die Abwehrschlacht der Deutschen gegen die unverschämten türkischen und/oder arabischen Jugendlichen in Berlin"  in Printmedien und im Fernsehen befasst. Resumierend heißt es darin schließlich:

"Die rechtspopulistischen, die Gesellschaft spaltenden, die sozialen und bildungspolitischen Benachteiligungen ausblendenden Äußerungen von Frau Heisig sollten nicht weiter bestaunt und schweigend hingenommen werden. Frau Heisig sollte sich überlegen, ob sie ihre Tätigkeit als neutrale und unabhängige Richterin weiter ausüben kann, wenn sie beständig die bundesdeutschen Wohnzimmer mit Horrormeldungen über zunehmende Jugendkriminalität und Gewalt gegenüber Deutschen überschwemmt und ihre vermeintlichen Erfahrungen zur allgemein gültigen Erkenntnis hochstilisiert"

So richtig es war, Heisigs Rücktritt vom Richteramt zu fordern, so zeigt gerade die posthum zunehmende Verbreitung ihrer reaktionären Positionen in den Medien, dass nicht Heisigs Umtriebigkeit das Problem war, sondern der reaktionäre gesellschaftliche Resonanzboden, der nur noch stärker als zuvor schwingt. Die Wirkungsmacht ihrer Schmähschrift  resultiert nicht aus sich heraus, sondern weil das herrschende politische Personal arm an Argumenten und Konzepten dankbar für jeden Kosten sparenden populistischen Vorschlag ist.

In diesem Zusammenhang sollte mensch sich auch nicht davon täuschen lassen, dass die Heisigsche Unterscheidung zwischen "türkischen Mitbürgern" und "arabischen Familien" (siehe z.B. S.122f)  irgendetwas mit einer Analyse von Verhältnissen zu tun hat. Ihr ging es in Neukölln schlicht um die Durchsetzung der Staatsraison gegen "Nichtdeutsche" - und  damit war sie Teil eines bedeutenden gesellschaftlichen Mechanismus: nämlich Aufrechterhaltung des notwendig falschen Bewusstseins, wie es aus dem Waren- und Geldfetisch der bürgerlichen Gesellschaft resultiert. Und zentrales Element dieses notwendig falschen Bewusstseins ist der Rassismus, dessen sie sich in ihrem Buch weidlich bedient.

Der Rassismus ist keine vorbürgerliche Ideologie, die als Tote irgendwie weiter lebt und in der bürgerlich kapitalistischen Kapitalismus nur zum Zwecke der Herrschaftsausübung adaptiert wurde, sondern die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft bringt den Rassismus aus innerer Logik selbst hervor. Dort wird nämlich nur als vollwertiges Mitglied betrachtet,  wer in der Lage ist, als Geld-Ware-Tauschender sein ökonomisches Vorhandensein anzuzeigen. Da die produktionsmittellosen  Massen nur den Gebrauchswert ihrer Ware Arbeitskraft gegen Geld tauschen können, verschafft ihnen dies lediglich vorübergehend "den realen Schein des Freien und Gleichen" (Schmitt-Egner). Denn die Chancen dieses Verkaufs sind ihrerseits freilich abhängig von der Fähigkeit des Kapitals, den angeeigneten Mehrwert zu akkumulieren, wodurch bekanntlich eine "Überbevölkerung entsteht:

"Die relative Übervölkerung existiert in allen möglichen Schattierungen. Jeder Arbeiter gehört ihr an während der Zeit, wo er halb oder gar nicht beschäftigt ist. Abgesehn von den großen, periodisch wiederkehrenden Formen, welche der Phasenwechsel des industriellen Zyklus ihr aufprägt, so daß sie bald akut in den Krisen erscheint, bald chronisch in den Zeiten flauen Geschäfts, besitzt sie fortwährend drei Formen: flüssige, latente und stockende.
In den Zentren der modernen Industrie - Fabriken, Manufakturen, Hütten und Bergwerken usw. - werden Arbeiter bald repelliert, bald in größerem Umfang wieder attrahiert, so daß im großen und ganzen die Zahl der Beschäftigten zunimmt, wenn auch in stets abnehmendem Verhältnis zur Produktionsleiter. Die Übervölkerung existiert hier in fließender Form."
MEW 23, S. 670.

Als Teil der "Überbevölkerung" kann die Ware Arbeitskraft nun nicht mehr in Erscheinung treten. Damit ist sie nach bürgerlich-kapitalistischer Logik "wertlos". Die sich der Logik mit kapitalistischen Arbeitsmaschine Identifizierenden, halten die mit der Verwertung der Ware Arbeitskraft einhergehenden Sekundärtugenden (Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnung, Unterwürfigkeit usw.) für zivilisatorische Highlights, woran es demgemäß den "Wertlosen" scheinbar mangelt.  Mit dem Mangel ist nun die Projektionsfläche für allerlei rassistische Zuschreibungen gegeben.

Rassistische Zuschreibungen, die à la Kirsten Heisig kulturalistisch und nicht wie die von Sarrazin biologistisch sind ("Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen"- Welt am Sonntag, 29.8.10), gelten im Alltag der BRD als anerkannte Deutungen gesellschaftlicher Probleme. Entsprechend begründete Vorschläge sind beliebt, weil sie das Denken nicht belasten.

Dialektisch-materialistische Erkenntnisse lehren dagegen, dass die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise die schlussendliche Wurzel allen Übels ist. Sie hat sich längst historisch überlebt, denn mit ihrer ökonomischen Grundlage lässt sich ein menschenwürdiges und vorurteilsfreies Zusammenleben nicht organisieren. Leider leben Tote länger, wenn nicht....

Editorische Anmerkung

Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter. Herder Verlag, Freiburg 2010. 208 Seiten, 14,95 Euro.