Der Widerspruch von Einheit und Mannigfaltigkeit der Welt hat
in der Geschichte der Philosophie in der
Auseinandersetzung zwischen den
philosophischen Grundrichtungen eine bedeutende Rolle gespielt.
Einige materialistische Philosophien der Antike führten die
Mannigfaltigkeit der Welt auf einen einheitlichen, qualitativ
bestimmten Urstoff zurück, wie Thales auf
das Wasser und Anaximenes die Luft.
Anaximander dagegen hielt den Urstoff,
der allen Erscheinungen zugrunde liege, für qualitätslos. Der
Eleate parmenides versuchte, den Widerspruch zwischen der
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und ihrer einheitlichen
Grundlage auf radikale Weise zu lösen, indem er das eine,
unteilbare, ewige und unveränderliche materielle Sein für die
wahre Substanz und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu
bloßem Sinnenschein
erklärte.
Demokrit führte die Mannigfaltigkeit
der Dinge und Erscheinungen auf die qualitätslosen Atome zurück,
deren Vereinigung und Trennung die verschiedenen Gegenstände
entstehen und vergehen lassen. Im Gegensatz zu den
materialistischen Philosophen, die darum rangen, das
dialektische Wechselverhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit
in der materiellen Welt zu verstehen, suchten die Idealisten die
Einheit der Welt in der Regel in geistigen Wesenheiten oder im
menschlichen Bewußtsein. Für Platon sind
die Ideen das wahre einheitliche Sein, und die mannigfaltigen
Erscheinungen der materiellen Welt sind nur vergängliche
Nachbildungen der Ideen. Nach kants Auffassung wird die
Mannigfaltigkeit der Anschauung durch die Verstandestätigkeit
mittels der Kategorien zur Einheit der Apperzeption gebracht.
Die Einheit der Welt der Erscheinungen ist mithin ein Produkt
unseres Verstandes.
Der mechanische Materialismus des 18. Jahrhundert
versuchte, die ganze Mannigfaltigkeit der
materiellen Welt auf stoffliche Körper und die mechanische
Bewegungsform der Materie zurückzuführen. Die Geschichte der
Wissenschaften, insbesondere die revolutionierenden
Entdeckungen der modernen Naturwissenschaft über die Struktur
der Materie, haben zu der Erkenntnis geführt, daß es unmöglich
ist, die Mannigfaltigkeit der Welt auf eine letzte einheitliche
Grundlage, sei es eine qualitätslose Substanz, eine qualitativ
bestimmte Urmaterie oder «letzte» Elementarteilchen,
zurückzuführen.
Die Materie ist ihrem Wesen nach eine Einheit des
Mannigfaltigen, d. h., sie existiert immer in unendlich vielen
qualitativ unterschiedenen Formen, die in einem
entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang stehen und deren
Einheit in ihrer Materialität besteht.
Editorische Anmerkung
Der Text wurde entnommen aus:
Buhr,
Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 670
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