Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreichs reaktionärste Regierung seit 1944 stößt auf Gegenwind
Europäischer und internationaler Widerspruch gegen Sarkozys Politik massiver Abschiebungen (von EU-Bürger/inne/n)

09/10

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Nicht alltäglich ist das Resultat einer Umfrage, das am Donnerstag, den 23. September 2010 publik wurde. 66 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen teilen demnach die Auffassung, dass sich die Positionen der Rechtsregierung „denen des (Anm.: neofaschistischen) Front National annähern“. Der Befragung durch das Institut BVA zufolge vertreten 34 % der Wähler/innen der Konservativen, aber 58 % unter denen der Neofaschisten und 88 % der Wählerinnen und Wähler von Linksparteien diese Auffassung. Unter dem Eindruck der diagnostizierten Annäherung zwischen rechts und rechtsextrem sind ferner inzwischen 42 Prozent der Ansicht, der Front National sei „eine politische Partei wie die anderen auch“ – eine Zahl, die gegenüber früheren Jahren stark anwuchs -, auch wenn 57 % nach wie vor diese „Normalisierungs“these ablehnen. (81 % treten zugleich gegen einen Regierungseintritt des Front National ein. In dieser massiven Ablehnung dürfte auch der Hauptgrund dafür liegen, warum Nicolas Sarkozy ein offenes Bündnis bislang ablehnt, anders als sein politischer Freund Silvio Berlusconi, der u.a. das ungeschminkte Rassistenpack von der Lega Nord in seinen Regierungshaufen hineinholte.) – Vgl.[1] 

Auch passiert es nicht alle Tage, dass die KP-nahe französische Zeitung ,L’Humanité’ und die ‚Financial Times Deutschland’ (FTD) einen Sachverhalt bis in den Wortlaut hinein identisch bewerten. Am vergangenen Freitag und Samstag (17. und 18. September) jedoch waren sie sich einig: „Beim Lügen auf frischer Tat ertappt“ worden sei Nicolas Sarkozy, befanden beide Blätter. „Wie ein kleiner Junge“ stehe der Präsident in dieser Situation nun da, fügte die FTD hinzu.

Der französische Präsident hatte zuvor die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als Kronzeugin für seine Politik zu gewinnen, oder zu vereinnahmen, versucht. Angesichts einer Unterredung am Rande eines Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs – am Donnerstag, den 16. September 10 in Brüssel – habe Merkel ihm  gegenüber versichert, sie wolle seine Politik in Sachen Räumung von Roma-Siedlungen und Abschiebungen nach Südosteuropa „in einigen Wochen“ nachahmen. Dies stimme überhaupt nicht, die beiden hätten vielmehr nie unter vier Augen über dieses Thema gesprochen, verlautbarte es nur eine Stunde später aus dem Munde des deutschen Regierungssprechers in Berlin. Aubenminister Guido Westerwelle sprach von einem möglichen „Missverständnis“. Sogar sein französischer Amtskollege, Sarkozys Untergebener Bernard Kouchner, lieb ihn im Stich: Er habe „keinerlei Kenntnis“ von einer Unterredung solchen Inhalts, verlautbarte dieser.  

Im kleinen Kreis, fügt die Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ von diesem Mittwoch (22. September) hinzu, hat Bundeskanzlerin Merkel sich ausgesprochen harsch über Sarkozys Persönlichkeit ausgelassen. 

Zustimmung (fast) nur bei den rassistischen Fanatikern von der ,Lega Nord’ 

Angesichts der Angriffe, denen Frankreichs einseitige Abschiebepolitik gegen EU-Bürger beim EU-Gipfel am Donnerstag vergangener Woche (16. September) ausgesetzt war, suchte Sarkozy Hände ringend nach Verbündeten. Solche fand er vorläufig nur bei Silvio Berlusconi und seinen rechtsextremen Koalitionspartnern von der italienischen Lega Nord. Aber auch bei Teilen der tschechischen Regierung, aus der in den letzten Wochen jedoch sehr widersprüchliche Äußerungen kamen: Premierminister Petr Necas verteidigte am Donnerstag, von Brüssel aus, das „Recht“ Frankreichs auf Abschiebungen von Roma – um „seine Gesetze durchzusetzen“ - im tschechischen Fernsehens. Hingegen hatte Außenminister Karel Schwarzenberg diese am 28. August in Prag als Verstoß gegen EU-Recht bewertet und energisch verurteilt. 

Kritik von der EU-Kommission 

Die massenhaften Ausweisungen aus Frankreich, deren Rhythmus sich seit Ende Juli 2010 stark beschleunigt hat und die auch jetzt bruchlos fortgesetzt werden, betreffen insbesondere Roma aus Bulgarien und Rumänien. Aber inzwischen hat sich herausgestellt, dass es – wohl versehentlich - auch andere bulgarische Staatsbürger traf. Die ersten dreizehn Flugzeuginsassen, die Anfang August 10 in Richtung Sofia geschickt wurden, waren jedenfalls keine Roma, sondern gehörten einer anderen Minderheit an: den bulgarischen Türken (oder „Pomaken“); vgl. http://www.lesinrocks.com/

Die Tatsache, dass es sich um Staatsangehörige von EU-Mitgliedsländern handelt, rief zu Anfang letzter Woche die EU-Kommission in Brüssel auf den Plan. In ihrem Namen kündigte die europäische Kommissarin für Justizwesen und Bürgerrechte, die luxemburgische Staatsbürgerin Viviane Reding, am Dienstag der vergangenen Woche (14. September) die Einleitung eines Verfahrens gegen Frankreich wegen Verletzung der EU-Verträge an. Wenn Frankreich seine Politik nicht korrigiert – und danach sieht es nicht aus -, wird die Kommission die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg bringen.  

Verurteilt dieser Frankreich, so droht dessen Regierung eine empfindliche Geldbube. Bei einer Zuspitzung des Konflikts könnten sogar Frankreichs Stimmrechte in EU-Gremien zeitweilig ausgesetzt werden. Seit Donnerstag Abend und den heftigen Schlagabtauschs auf dem Brüsseler Gipfel zeigt die Europäische Kommission sich jedoch bestrebt, den Streit eine Stufe tiefer zu hängen. 

Ursprünglich plante sie, ein Verfahren gegen eine Anordnung des französischen Innenministeriums vom 05. August 10 einzuleiten, weil diese explizit die Roma als Ziel von Räumungsmaßnahmen gegen illegal errichte Behausungen sowie von Ausreiseverfügungen benennt. Da dies als offene Diskriminierung aufgrund der „ethnischen Zugehörigkeit“ eingestuft wird – auch mehrere französische NGOs, unter ihnen die Liga für Menschenrechte (LDH), haben deswegen Strafanzeige gestellt -, nahm das Ministerium den Runderlass kurz nach dessen Bekanntwerden durch die Presse in Windeseile zurück. Am Montag, den 13. September setzte Innenminister Brice Hortefeux an seine Stelle eine andere Anordnung, welche die „ethnische“ Zugehörigkeit nicht mehr ausdrücklich erwähnt. „Sinn und Absicht unserer Politik stehen nicht in Frage, nur die Formulierung war problematisch“ erklärte Sarkozy – durch die Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ (vom 15. 09. 10) zitiert – jedoch in seinem Beraterkreis. Seit vorigem Donnerstag will die EU-Kommission jedoch Frankreich nicht länger wegen „Rassendiskriminierung“ verfolgen, sondern noch wegen „schlechter Umsetzung“ einer EU-Richtlinie von 2004 zur Freizügigkeit. Und ein solches Verfahren wird gegen zwanzig Staaten gleichzeitig eingeleitet. Frankreich gerät dadurch zumindest symbolisch ein wenig aus der Schusslinie. 

,Enough is enough!’ 

Zwei Tage zuvor hatte die EU-Kommissarin Viviane Reding sich auf einer Pressekonferenz noch sehr heftig geäußert. Als „eine Schande“ bezeichnete sie die französische Politik dort, und fügte aufgebracht hinzu: ,Enough is enough!’ Allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer „ethnischen Minderheit“ würden Menschen von französischem Boden ausgewiesen, erklärte Reding; und sie habe gedacht, eine solche Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie wieder erleben zu müssen. 

Nicolas Sarkozy forderte die EU-Kommissarin daraufhin am Mittwoch, den 15. September dazu auf, sie möge doch lieber bei sich zu Hause, „in Luxemburg“, nach einer Bleibe suchende „Roma aufnehmen“. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn bezeichnete daraufhin Sarkozys Replik als „böswillig“. 

Einen ähnlichen Vorschlag hatte am 25. August der rechtsextreme Politiker Bruno Gollnisch, Vizevorsitzender des Front National (FN), an den Papst gerichtet (vgl. http://www.lepoint.fr). Infolge seiner – kryptisch formulierten, aber dennoch deutlichen – Kritik an der französischen Abschiebepolitik forderte Gollnisch damals Benedikt den XVI. dazu auf, die Roma „bei sich im Vatikan aufzunehmen“. Im Umfeld seiner Partei, die viele Ultrakatholiken in ihren Reihen zählt, stieb es allerdings auf Kritik, dass der Anwärter auf den Parteivorsitz des FN ausgerechnet den Papst auf diese Weise angriff. Das argumentative Grundmuster – „Wer nichts gegen Einwanderer hat, möge gefälligst sein eigenes Haus dafür hergeben“ – ist unter Rechtsextremen jedoch altbekannt. 

Aufrichtige Empörung und falscher Nazi-Vergleich

Aus Viviane Redings Mund sprach echte, aufrichtige Empörung. Zwar sind auch EU-Politiker, ebenso wie nationale Berufspolitiker, zweifellos zu kalkulierendem Zynismus fähig und neigen in vielen Lagen dazu. Aber die Wut der Luxemburgerin war in diesem Falle wohl ungespielt. Denn die französische Politik schien ihr gegen Regeln zu verstoßen, die bei Protagonisten  der europäischen Integrationspolitik sicherlich als fundamental gelten und Bestandteil ihrer Grundüberzeugungen geworden sind. 

Die 1957 durch die Römischen Verträge eingerichtete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), später die Europäische Gemeinschaft und inzwischen die EU beruhen im Kern auf einem Bündel von Grundregeln. Zu ihnen zählt die Freizügigkeit für die Angehörigen von Mitgliedsländern – jedoch keineswegs für Einwanderer aus „Drittstaaten“, die Regelungen zur Abschiebung von außereuropäischen Unerwünschten werden derzeit auf EU-Ebene vereinheitlicht – sowie die Ablehnung von Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Ein Verstoß gegen diese Grundprinzipien muss einer Repräsentantin der EU geradezu als Häresie vorkommen. 

Die Gründe dafür liegen in der historischen Genese und im Charakter des europäischen Aufbauprojekts. Einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg entstand dieses zwar auch dezidiert als Schutz- und Trutzbündnis gegen Außenstehende, Dritte: gegen die Ausbreitung „des Kommunismus“ im Osten, aber auch, damit die seit 1945 geschwächten europäischen Mächte dem „Schock“ der Entkolonisierungwelle besser standhalten konnten. Das Versprechen auf Frieden, das stets als einer der Grundsätze der europäischen „Einigung“ gefeiert wurde, war insofern auch verlogen – weltpolitisch betrachtet. Jedoch gehört das Versprechen, zur Aussöhnung von Nationen zu führen, die lange Perioden hindurch miteinander verfeindet waren und gegeneinander Krieg führten, jedenfalls im Kreis der Mitgliedsländer zu den wichtigsten Grundsätzen. Der Glaube daran strahlte auch in die Gesellschaft hinein aus und prägte die Mentalität von ganzen Generationen mit. Auch für einige der Menschen, die innerhalb der EU-Institutionen Karriere achten, dürfte er eine Antriebsfeder bilden. Hinzu kommt für eine luxemburgische Staatsbürgerin sicherlich eine besonders starke Identifikation mit der europäischen Integration – ihr Herkunftsland, das zuletzt durch Nazideutschland besetzt worden war, könnte sich in einer Welt konkurrierender Nationalstaaten wohl kaum behaupten. 

Hinzu kommt, dass die frühere EWG und jetzige Europäische Union von Anfang an vor allem um einen gemeinsamen Markt herum konstruiert worden ist, und nicht etwa um politische Vorhaben. Der freie Waren- und Kapitalverkehr zuzüglich der freien Zirkulation der Arbeitskräfte sollten die europäische Integration gewährleisten, und nicht ein politisches Programm, um das grenzüberschreitend gestritten worden wäre. Um einen offenen Markt zwischen ehemals konkurrierenden Nationalstaaten – noch dazu mit erheblichem Wohlstandsgefälle, wie es schon 1957 etwa zwischen Westdeutschland und Süditalien bestand – funktionieren zu lassen, muss jedoch die Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ausgeschaltet oder zurückgedrängt werden. Dies gilt für Anbieter von Dienstleistungen ebenso wie für Lohnabhängige auf der Suche nach Arbeit. Sonst kann ein gemeinsamer Binnenmarkt nicht als funktionstüchtig gelten. 

Die seit Ende Juli 2010 mit lautem Getöse eingeläutete Offensive Nicolas Sarkozys gegenüber rumänischen und bulgarischen Staatsangehörigen kehrt diesen Prinzipien jedoch erkennbar den Rücken. Zumal die Welle von Ausweisungen und, durch polizeilichen Druck erzwungenen, „freiwilligen“ Ausreisen tatsächlich auf eine Logik der Kollektivbestrafung einer so genannten ethnischen Gruppe zurückzuführen ist. Am 18. Juli dieses Jahres hatten „Landfahrer“ (Gens du voyage), die französische Staatsbürger sind, in dem zentralfranzösischen Dorf Saint-Aignan eine Gendarmeriestation demoliert. Zuvor hatte ein Beamter einen 21jährigen aus ihrer Bevölkerungsgruppe erschossen. Angeblich aus Notwehr -  aber an diese These glaubt offenkundig auch die Justiz nicht, die Anfang September ankündigte, ein Strafverfahren gegen den Todesschützen einzuleiten. Aufgrund der Vorfälle von Saint-Aignan holte Nicolas Sarkozy wenige Tage später zum Rundumschlag gegen so genannte Zigeuner aus. Und mischte dabei von Anfang an zwei Bevölkerungsgruppen zusammen, die er für Kriminalität verantwortlich machte, die jedoch untereinander - mit Ausnahme einer mehrere Jahrhunderte zurückliegenden Abstammung, und teilweise kulturellen Elementen - nichts miteinander gemeinsam haben. Auf der einen Seite stehen die ,Gens du voyage’, eine Bevölkerungsgruppe, die seit dem 15. Jahrhundert in Frankreich lebt[2]. Auf der anderen die Roma, die seit nunmehr circa zwanzig Jahren aus Südosteuropa zuzuwandern begannen. Beide Gruppen wurden in einen Topf gesteckt, und auf einem spektakulär inszenierten Gipfeltreffen, das am 28. Juli im Elysée-Palast stattfand, wurde ein schärferes staatliches Vorgehen gegen beide angekündigt. 

Daraus resultiert die Wut von Viviane Reding – und anderen EU-Politiker/inne/n. Die Tatsache, dass sie in ihrer Erklärung auch auf den Zweiten Weltkrieg anspielte, ging jedoch in den Augen vieler ihrer Kollegen zu weit; während die französische Politik die Gelegenheit nutzte, sich als Opfer einer Verteufelung durch einen ungerechtfertigten Nazi-Vergleich aufzuspielen und sich bitter zu beklagen. Viviane Reding selbst nahm diesen Teil ihrer Äuberung am Mittwoch Abend (15. September) zurück, sofern er als Gleichsetzung der französischen Abschiebepraxis mit NS-Verbrechen verstanden werde, was sie nicht beabsichtige. Kommissionspräsident José Manuel Barroso seinerseits präzisierte, einen Nazi-Vergleich finde er falsch und ein solcher sei abzulehnen, ansonsten aber spreche Viviane Reding „für die gesamte Kommission“. Auch die deutsche Bundesregierung – für welche, aus historischen Gründen, die europäische Integration in besonderem Ausmaß zum Teil der Staatsraison wurde – unterstützte am Mittwoch ausdrücklich die EU-Kommission. Historische NS-Vergleiche seien nicht gerechtfertigt, aber in der Sache sei „keinerlei Diskriminierung gegenüber ethnischen Minderheiten“ rechtens, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert auf einer Pressekonferenz in Berlin. Selbst der französische EU-Kommissar Michel Banier – früher einmal Minister unter Jacques Chirac – schwenkte ungefähr auf diese Linie ein: Zwar betonte er zunächst seine Kritik am (angeblichen) Nazi-Vergleich, ging dann jedoch dazu über, die Legitimität einer Stellungnahme der Kommission zur französischen Abschiebepolitik zu unterstreichen. Und erklärte sich solidarisch mit dem Rest seiner Kollegen von der EU-Kommission. 

Der französische Minister für EU-Angelegenheiten, Pierre Lellouche, der Sarkozys UMP angehört, erklärte sich beleidigt. Er habe keine Lust, „sich wie ein kleiner Junge behandeln“ und durch die EU an den Ohren ziehen zu lassen. Frankreich sei „ein souveräner Staat“ und „ein grobes Land“, fügte er hinzu. In der Quintessenz bedeutete dies, es habe sich nicht von Brüssel in seine Angelegenheiten schauen zu lassen. Lellouche fügte hinzu, die Europäische Kommission habe nicht die Aufgabe – noch das Recht -, sich zum „Wächter der Einhaltung der EU-Verträge“ aufzuspielen. Allerdings ist genau diese Rolle der Kommission in den europäischen Vertragen schwarz auf weiß festgeschrieben. 

Brüllerei in Brüssel 

An diesem Punkt vollzog Präsident Sarkozy kurz darauf eine kleine Kehrtwende. Bei seinem Auftritt in Brüssel vermied er es, derart offen die Rolle der europäischen Institutionen zu attackieren oder in Frage zu stellen. Vielmehr erklärte er – wie am Gipfeltreffen teilnehmende Diplomaten hinterher der Presse erläuterten – sogar ausdrücklich, die Kommission sei im Recht, über die Einhaltung der Verträge zu wachen und diesbezüglich die Politik der Mitgliedsstaaten zu kontrollieren. Allerdings gebe es seitens Frankreichs keinerlei Regelverstoß, behauptete Sarkozy: Seit Ende Juli 2010 seien inzwischen 199 illegale Ansiedlungen mit 5.400 Insassen abgeräumt worden, davon beträfen jedoch vier Fünftel „französische Landfahrer“. Deswegen, weil Letztere also die Staatsbürgerschaft des Landes besitzen, gebe es auch „keinerlei Diskriminierung“. (Inzwischen hat allerdings die liberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ präzisiert, die Geräumten seien - im Gegenteil - „überwiegend Roma“, vgl. http://abonnes.lemonde.fr/ )   

Daraufhin ging Sarkozy im nächsten Moment zum Gegenangriff über, den er auf die Justizkommissarin Viviane Reding konzentrierte – obwohl er schon am Vorabend selbst erklärt hatte, der Elysée-Palast nehme „die Entschuldigung (Redings) zur Kenntnis“, nachdem selbige präzisiert hatte, keinen NS-Vergleich vornehmen zu wollen.  

Das Gipfeltreffen fand hinter verschlossenen Türen statt, doch Teilnehmer erzählten, Sarkozys Attacken und der darauf folgende Schlagabtausch mit Barroso seien drauben sehr deutlich zu hören gewesen. Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker bezeichnete ihr Aufeinandertreffen als ,mâle’ und ,viril’, zwei Adjektive, die beide (in unterschiedlicher Abstufung) „männlich“ bdeuten. Auf der anschliebenden Pressekonferenz erklärte Nicolas Sarkozy dann, Frankreich sei „beleidigt, verletzt, erniedrigt“ worden. Seine Pflicht als Staatschef sei es, „Frankreich zu verteidigen“. In seinem eigenen Land hatten allerdings unter anderem die Grünen und Teile der Sozialdemokratie offen die Kritik der EU-Kommission gegen Sarkozys Politik unterstützt. 

Nützlich oder schädlich für Sarkozys Popularitätskurve ? 

„Frankreich fordert Europa heraus“, überschrieb dazu die französische Gratistageszeitung ,Métro’ ihrer Titelseite. Ob dieser „Zusammenstoß“ zwischen dem Präsidenten und führenden EU-Politikern – sowie seine nachträgliche politische Inszenierung – Nicolas Sarkozy unter Popularitätsgesichtspunkten nutzt, ist nicht völlig ausgemacht. Zwar hatten in der Vergangenheit französische Politiker, wie Präsident Jacques Chirac und Premierminister Jean-Pierre Raffarin, inszenierte und begrenzte Konflikte mit Brüssel nutzen können, um innenpolitischen Nutzen daraus zu ziehen. Es ging dabei in den Jahren 2002, 2003, 2004 um eine Lockerung der Sparpolitik gemäb den Maastricht-Kriterien, eine Erlaubnis aus Brüssel zur Senkung der Mehrwertsteuer für Restaurantessen auf 5,5 Prozent oder die Rettung des französischen Konzerns Alstom. (Vgl. http://www.labournet.de) Aber nie war der Konflikt derart ernst wie der jüngste. Nie ging es dabei auch um so fundamentale „Werte“. Denn auch viele französische Bürger sehen etwa republikanische und universalistische Prinzipien durch die Abschiebepolitik sowie Ausbürgerungspläne der Rechtsregierung verletzt. Am ersten Samstag im September hatten über 150.000 Menschen in knapp 150 französischen Städten, davon rund 40.000 in Paris, dagegen demonstriert. Auch später gingen noch Menschen dagegen auf die Strabe – oder protestierten am 12. September 10 auf mehreren Gipfeln der Alpen und der Pyrenäen dagegen. (Vgl.  http://abonnes.lemonde.fr/ und http://www.liberation.fr oder ihr Kommuniqué unter: http://www.volopress.net/volo/spip.php?article524 )

Am vergangenen Freitag, den 17. September zunächst die konservative Tageszeitung ,Le Figaro’ eine Umfrage des Instituts Opinion Way, die ergeben haben will, dass 56 Prozent der Befragten „die Entscheidung der EU-Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einzuleiten“, ablehnten (vgl. http://www.lefigaro.fr/). Dies wurde als Unterstützung der französischen Regierung und ihrer Haltung interpretiert. Allerdings waren laut derselben Quelle 61 Prozent der sozialdemokratischen und 69 Prozent der grünen Wähler gegenteiliger Auffassung. OpinionWay ist jedoch reichlich umstritten. Das Meinungsforschungsinstitut gehört Patrick Buisson, der in den 80er Jahren Chefredakteur der rechtsextremen Wochenzeitung ,Minute’ war und Jahre lang zwischen Jean-Marie Le Pen und den Konservativen zu vermitteln versuchte.  Seit 2007 zählt er zu den Beratern von Nicolas Sarkozy. Die Umfragen des Instituts sind methodisch umstritten, und andere Studien zum Meinungsklima kommen oft zu gegenläufigen Ergebnissen – es kommt eben darauf an, wie man eine Frage stellt und in welchen Kontext man sie jeweils einbettet. (Vgl. zur Kritik an der vorliegenden Umfragen im Einzelnen, ferner ausführlich: http://www.marianne2.fr/)

Am Samstag, den 18. 09. 10 dann veröffentlichte die liberale Boulevardzeitung ,Le Parisien’ eine weitere Umfrage. Ihr zufolge finden 56 Prozent, dass es zu den Aufgaben der EU gehöre, sich zur französischen Abschiebepolitik zu äußern; und dass 54 Prozent „ihrer Kritik eine hohe Bedeutung beimessen“. (Vgl. http://www.lejdd.fr/  oder auch http://www.lepost.fr/ ) Dies wurde wiederum als Unterstützung für die Europäische Kommission gewertet. Am Wochenende wiederum eine Sonntagszeitung in Bordeaux ‚Sud Ouest Dimanche’) eine Befragung, wonach 71 Prozent der Franzosen die Auffassung vertreten, das Image ihres Landes habe sich in den letzten Wochen „negativ entwickelt“. 

Wie das Meinungsklima dazu auf Dauer ausfällt, ist derzeit noch offen. Sicherlich kann Nicolas Sarkozy versuchen, darauf zu bauen, dass es genügend begründete wie unbegründete Kritik und auch Ressentiments in der französischen Bevölkerung gegen die EU gibt, um zu versuchen, sich vor diesem Hintergrund erfolgreich zu profilieren. Ein Hauptgrund dafür, warum die EU beileibe nicht nur positiv betrachtet wird – und dass laut Zahlen von vergangener Woche inzwischen zwei Drittel der Franzosen den Euro negativ bewerten -, liegt in ihrer Wirtschaftspolitik: Bei der Privatisierung von öffentlichen Dienstleistung und sozialer Vorsorge koordinieren die nationalen Eliten ihre Vorgehensweise bevorzugt in Brüssel. Auch, weil die Politiker der Einzelstaaten dort gerne ihre daraus erwachsenden Legitimationsprobleme abladen – „Wir können nichts dagegen machen, die EU will es so.“ Die Kritik an den Inhalten dieser Klassenpolitik verschwimmt jedoch oft, obwohl nicht immer, mit Ressentiments gegen das supranationale „Gebilde“ und die grenzübergreifende Integration an und für sich.  

Die rechtsextreme Opposition, die daran systematisch anknüpft, nutzte die Attacken aus Brüssel gegen Sarkozys Romapolitik für Angriffe auf die supranationale Integration. Die Europäische Union sei „totalitär“, reagierte die FN-Politikerin Marine Le Pen bereits am Dienstag, den 14. September auf die Ankündigung aus Brüssel, eine Vertragsverletzung durch Frankreich zu untersuchen. (Vgl. http://www.lepoint.fr/) Und am Freitag, den 17. September warf die voraussichtliche künftige Parteichefin dann Präsident Sarkozy vor, auf die Anmabungen der „europäistischen Ayatollahs“ – „Europäismus“ ist eine sprachliche Neuschöpfung der extremen Rechten und ein negativer Begriff – reagiere er nur mit folgenlosen Verbalprotesten.  

Bis wohin könnte Sarkozy noch gehen ? 

Im Unterschied zur, offen „europafeindlichen“ oder jedenfalls auf die Souveränität der Nationalstaaten pochenden, extremen Rechten muss das regierende bürgerliche Lager sich auf grundlegende „Werte“ und Prinzipien der europäischen Integration verpflichtet fühlen. Ein Teil der französischen Rechten wäre jedoch, unter dem Druck des derzeit erneut stark im Aufwind befindlichen Front National, - je nach Opportunität - zu einem Bruch mit mancher solcher Grundsätze bereit.  

Vor nunmehr zwanzig Jahren, im April 1990, organisierte ein Teil der konservativen Rechten einen Kongress zum Thema Einwanderungspolitik. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr ) Der Ausrichter der Veranstaltung, ein aufstrebender bürgerlicher Jungpolitiker, sprach sich in diesem Zusammenhang explizit dafür aus, in Frankreich lebende – auch „legal“ und dauerhaft dort wohnende - Ausländer vom Zugang zu Sozialleistungen auszuschließen. Letztere sollten unter den Vorbehalt der Staatsangehörigkeit gestellt werden. Denselben Vorschlag hatte zuerst der Front National erfunden, bei dem dieses Prinzip als ‚préférence nationale’, ungefähr „Bevorzugung der Inländer“, bekannt und ein Kernbestandteil des Programms ist. Einen klareren Verstob gegen geltendes europäisches Recht kann man sich schwerlich vorstellen. Ein Teil der Konservativen war jedoch erkennbar bereit, sich dieser Forderung anzuschließen und so einen Schritt auf ihre Konkurrenten von der extremen Rechten zuzugehen. 

Der 35jährige aufstrebende Karrierist, der damals diesen Vorschlag unterbreitete, hieb Nicolas Sarkozy. Derselbe war es, der im Juni 1998, nachdem der frühere Premierminister Edouard Balladur die Einrichtung einer Kommission zum Thema „Bevorzugung der Inländer“ verlangt hatte, explizit erklärte: „Die ,préférence nationale’ darf nicht länger ein Tabu sein.“ In jenem Jahr war die bürgerliche Rechte allerdings in der Opposition. 

Im Rückblick wird erkennbar, wie weit  Nicolas Sarkozy grundsätzlich zu gehen bereit ist. Auch wenn er dabei Gefahr läuft, tragende Prinzipien sowohl der französischen Republik – die jedenfalls auf theoretischer Ebene dem Universalismus der Französischen Revolution verbunden bleibt – als auch der europäischen Integration mit Füßen zu treten. Als Präsident muss Sarkozy sicherlich stärkere realpolitische Rücksichten nehmen, als er dies seinerzeit als Jung- oder Oppositionspolitiker musste. Dennoch ist es augenscheinlich nur eine Frage der politischen Konjunktur, des Augenblicks, der Gelegenheit und des gerade herrschenden politischen Kräfteverhältnisses. 

Auch mit seinen relativ extremen Vorschlägen seit Ende Juli d.J. – von der Kollektivbestrafung der Roma bis zu den Ausbürgerungsplänen für straffällige Franzosen „ausländischer Herkunft“ – hat Sarkozy sein politisches Register noch nicht voll ausgeschöpft. Die Protagonisten der europäischen Politik wissen oder ahnen dies. Und deswegen wird man ihn wohl im Auge behalten.

ANMERKUNGEN

[2] Historisch zählen die Vorfahren dieser ,Gens du voyage’ zur selben Abstammungsgruppe wie die Sinti und Roma– oder jedenfalls ihr « harter Kern ». Doch im Laufe der letzten Jahrzehnte kamen zahlreiche Personen zu dieser (insgesamt 400.000 Menschen zählenden) Verwaltungskategorie der « Landfahrer » hinzu, die selbst gar nicht von so genannten Zigeunern abstammen. Das französische Recht sah seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts einen Sonderstatus für die so genannten « Landfahrer » vor, der es ihnen erlaubte, etwa von Jahrmarkt zu Jahrmarkt oder von Metallwaren-Handelsplatz zu Handelsplatz (wo sie eine Frühform von Recycling betrieben) zu ziehen. Aufgrund dieses rechtlichen Sonderstatus war es für viele Händler, die selbst eine « wandernde » Aktivität betrieben, vorteilhaft, sich ebenfalls als ,Gens du voyage’ registrieren zu lasen. Auch sie gar keine gemeinsame Abstammung mit ihnen teilten.

 

Editorische Anmerkungen

Der Autor stellte uns seinen Artikel für diese Ausgabe zur Verfügung.