Initiative für eine AG Fundamentalkritik kapitalistisch-technischer Verhältnisse

von Wolfgang Ratzel

 

09/11

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Wolfgang Ratzel schrieb uns per Mail: 

Berlin, den 2.9.2011

Liebe Redakteurinnen und Redakteure,   

das unten stehende ZEIT-Interview mit Slavoj Zizek verweist auf  einen grundlegenden Mangel: Es fehlt ein Ort (sowohl real als auch virtuell),  an dem Situationsanalysen, die das Weltsystem des  Kapitalismus fundamental kritisieren wollen,  VERBINDLICH-VERBINDEND bedacht werden können.  Deshalb verpuffen solche Analysen stets (fast) spurlos im Off des Alltäglichen. Angesichts  kollabierender Verhältnisse wird für mich dieser  Verbindlichkeits-Mangel unerträglich.

Unter verbindlich bedenken und diskutieren  verstehe ich das ernsthafte Interesse, eine Alternative zum Immer-so-weiter "in Form zu bringen". Es reicht einfach nicht mehr, im  Seminar oder Salon zu streiten, um danach nach  Hause zu gehen - nach dem Streit muss etwas Dauerhaftes beieinander bleiben und wachsen  können. 

Die politische Philosophie, die heute für ein Hinauskommen über kapitalistische Verhältnisse bedeutend sein könnte, zeigt sich aus meiner  Froschperspektive vor allem in den Werken von Giorgio Agamben, Hannah Arendt, Alain Badiou,  Walter Benjamin, Michel Foucault, Byung-Chul Han, Martin Heidegger, Slavoj Zizek und bestimmt noch  viele mehr. Aus dem 19. Jahrhundert winken Marx und Nietzsche herüber. 

Einige dieser Denkwege werden sich als  widersprüchlich und unvereinbar erweisen - alle taugen aber für produktiven Streit. Wichtig ist,  dass anschau- und vernehmbare Alternativen zum katastrophischen "Immer-so-weiter" hervorgebracht  werden. 

In welchem Horizont nun das Neue entsteht, als  Anderer Anfang im Sinne einer vom Seinsdenken (Heidegger) inspirierten Seinspolitik oder als  Politik der Wahrheit (Badiou) oder als kommender Kommunismus (Zizek) oder als kommende  Gemeinschaft (Agamben) oder sonstwie, möge offen bleiben. 

Wen es im Hinblick auf das nahende Wintersemester  2011/12 zu solch einer verbindlichen  Zusammenarbeit drängt, möge sich melden bei:  wolfgang.ratzel@t-online.de  

ciao, Wolfgang Ratzel

Anlage

DIE ZEIT vom 25.8.2011

"Der autoritäre Kapitalismus ist der Gewinner der Krise"

Der Philosoph Slavoj Žižek ist einer der wortgewaltigsten Kritiker des Kapitalismus. Im Interview erzählt er, warum er wenig von den Protesten in London und Madrid hält. 

ZEIT ONLINE: Herr Žižek, leben wir "in der Endzeit", wie der Titel Ihres letzten Buchs, dem bislang nur auf Englisch erschienenem Buch Living in the End Times, suggeriert?

 Slavoj Žižek: Ich enttäusche Sie jetzt wahrscheinlich: Ich bin kein linker Triumphalist, der eine perverse Lust aus Leid zieht. Wenn ich in meinem Buch von "Endzeit" spreche, geht es mir nicht um einzelne Katastrophen. Es geht mir um die Krise des globalen Kapitalismus aus der Perspektive einer Kritik der politischen Ökonomie. Auf verschiedenen Ebenen – Ökologie, Biogenetik, intellektuelles Eigentum und neuen Formen von Apartheid – steuern wir auf einen Nullpunkt des Kapitalismus zu. Die größte Utopie ist heute, dass wir dieses System mit ein paar kosmetischen Veränderungen unendlich lange aufrechterhalten können. 

ZEIT ONLINE: Worin besteht die augenblickliche Krise des Kapitalismus? 

Žižek: Da der Kapitalismus heute keinen äußeren Feind mehr hat, stößt er an seine inneren Grenzen. Dies geschieht vor allem im Hinblick auf die Frage der Ökologie und die des intellektuellen Eigentums. In beiden Bereichen wird das Privateigentum als universelles Prinzip infrage gestellt. In beiden Bereichen sind wir mit Gemeingütern konfrontiert, die sich nicht in diesen Kategorien denken lassen. Bei Luft und den Meeren zum Beispiel ist das offensichtlich, aber auch in Computernetzwerken finden sich ähnliche Phänomene. Dort handelt es sich fast um klassischen historischen Materialismus. Die Produktionsmittel haben sich gewandelt und erfordern neue gesellschaftliche Modelle. 

ZEIT ONLINE: Sind die Unruhen in London ein Teil der Suche nach neuen Modellen jenseits des Kapitalismus? 

Žižek: Nein, ganz bestimmt nicht. Ich teile da auch nicht die Bigotterie vieler Linker, die im selben Atemzug die Gewalt verdammen, in dem sie für Verständnis für diese Leute werben – etwa was soziale Ursachen anbelangt. Nein. Was man hier sieht, ist genau die post-ideologische Gesellschaft, wie die Neoliberalen sie so gerne wollten. Zygmunt Bauman war auf dem richtigen Weg, als er von der Randale unbrauchbarer Konsumenten sprach. Es handelt sich um enttäuschte Konsumenten, die einer perversen Form des Konsums, einem Karneval der Zerstörung, nachgehen. In viel schlechteren Situationen haben es Menschen geschafft, sich politisch zu organisieren, was hier vollkommen misslang. 

ZEIT ONLINE: Das gelang den "Empörten" in Spanien zum Beispiel besser. 

Žižek: Die "Empörten" sprechen etwas an, das interessant ist. Die Nachfrage des Kapitalismus nach hochausgebildeten Arbeitskräften hat dazu geführt, dass man eine Klasse überqualifizierter Arbeitsloser schuf, die nicht nur arbeitslos sind, sondern ganz und gar unanstellbar. Aber als ich ihr Manifest las, konnte ich darin keine konkreten Entwürfe für Alternativen finden. Minimallöhne sind etwa nur ein Versuch, den Kapitalismus zu retten, so wie Almosen, nur Forderungen nach Gerechtigkeit … – aber an wen sind diese Forderungen letztlich gerichtet? Obwohl "die Empörten" der gesamten politischen Klasse misstrauen, richten sie ihre Forderungen an den Staat! Diese Menschen rufen ausschließlich nach einem neuen Herrn. Lassen Sie mich ein grausames Gedankenexperiment machen: Würde sich ein ehrlicher, gemäßigter Faschist diesen Forderungen nicht anschließen? 

ZEIT ONLINE: Als bekennender Kommunist sollte Ihnen doch eine gewisse Form von Etatismus sympathisch sein. 

Žižek: Ich bin kein Kommunist in diesem Sinne, auch nicht was den real-existierenden Sozialismus anbelangt. Ich war selbst mit am Umsturz dieses Systems beteiligt und bin diesbezüglich nicht nostalgisch. Der Kommunismus ist für mich keine Antwort, sondern ein Problem – das immer noch ungelöste Problem, wie wir eine Organisationsform für die Gemeingüter, die Commons, finden können. Was die Lösung dieses Problems angeht, bin ich sehr bescheiden und auch pessimistisch. 

ZEIT ONLINE: Wie beurteilen Sie die politische Bewältigung der Euro-Krise? 

Žižek: Das Auseinanderbrechen der wirtschaftlichen und politischen Einheit Europas muss unter allen Umständen vermieden werden. Die Griechen sollten jetzt nicht Europa für ihre politischen Probleme verantwortlich machen. Sie haben jahrelang einer gefährlichen Mischung aus Klientelismus und Wohlfahrtstaat gefrönt, die ihre Grenzen erreicht hat. Aber das größte Problem ist Europa selbst. "Was will Europa?", lautet die Frage – um Freuds "Was will das Weib?" zu paraphrasieren. Die heutige Krise ist eine Krise des technokratischen Brüsseler Modells von Europa. Nur eine erneuerte Linke kann Europa retten. 

ZEIT ONLINE: Welche Rolle können Philosophen dabei spielen? 

Žižek: Philosophen bieten keine Lösungen an. Wir sind keine Spezialisten. Wie Deleuze einmal sagte – dem ich sonst sehr kritisch gegenüber stehe – können wir lediglich die Fragen auf eine neue Weise stellen, die über den Konsens hinausgeht. Viele angebliche Entscheidungsfragen, etwa die zwischen Neoliberalismus und Wohlfahrtstaat und die zwischen Multikulturalismus und geschlossenen Kulturräumen sind nicht so einfach wie sie vielfach behandelt werden. Es sind letztlich die falschen Fragen, die diese falschen Alternativen schaffen

ZEIT ONLINE: Inwiefern? 

Žižek: Nehmen Sie zum Beispiel die europäische Identität, wie sie die Rechtspopulisten heute fordern. Europa ist nicht nur Imperialismus und Kolonialismus, sondern auch Demokratie, Gleichheit und Emanzipation. Selbst im Christentum können sie viele emanzipatorische Ideen entdecken. Ist zum Beispiel der Heilige Geist nicht das erste Modell einer egalitären Gemeinschaft? In diesem Sinne bin ich auch für eine neue europäische Leitkultur. Die angeblichen Verteidiger Europas durch immigrantenfeindliche Politik sind heute die größte Gefahr für dieses europäische Erbe – sie, nicht die armen Muslime sind die wirklichen Barbaren innerhalb unserer Tore. 

ZEIT ONLINE: Sie haben selbst den Untergang des real-existierenden Sozialismus erlebt. Die Situation ist heute vor allem deshalb eine andere, weil es keinen ideologischen Gegner gibt, an dem sich die Opposition orientieren könnte. 

Žižek: Da haben Sie prinzipiell Recht. Man sollte aber nicht vergessen, dass das Resultat des Umbruchs der Neunziger nicht unbedingt das widerspiegelt, was die Oppositionellen damals wollten. "Solidarnos´c" zum Beispiel wollte nicht den Kapitalismus. Es ging um Forderungen nach mehr Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit. Wie so oft hat sich hier eine genuin revolutionäre Situation in ihr Gegenteil verwandelt. Ähnliches können Sie heute in Ägypten sehen. Meine Wette ist, dass eine Allianz zwischen denselben Militärs, die schon unter Mubarak die Macht hatten, und den Muslimbrüdern zustande kommt. Unter denen wird dann ein Kuhhandel stattfinden. Nach dem Motto: Wir lassen euch eure Privilegien, wenn ihr uns unsere Ideologie lasst. Sehr deprimierend ist das. 

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch In der Endzeit leben kritisieren Sie insbesondere Kants Zum ewigen Frieden als die Blaupause einer liberalen Ordnung zwischen Rechtsstaatlichkeit und Ökonomie. Weshalb das? 

Žižek: Wenn Kant diese neue Weltordnung des "Ewigen Friedens" ohne einen äußeren Feind konzipiert, dann heißt das nur, dass der Feind in ihr überall ist. Heute sehen wir die Auswirkungen davon in der Art und Weise, wie sich der Westen in den letzten Dekaden als Weltpolizei gebärdete, als ob es schon einen Weltstaat gäbe. Wie wir heute überall sehen können, ist die Kehrseite dieses "Ewigen Friedens" der permanente Krieg gegen diejenigen, die als eine Gefahr für den Frieden wahrgenommen werden. Der Krieg gegen den Terror ist die Wahrheit des ewigen Friedens. 

ZEIT ONLINE: War die Herabstufung der USA-Bonität nicht ein historischer Einschnitt, die diese Art des Unilateralismus beendete? 

Žižek: Man sollte das nicht überbewerten, aber ja. Wir sind in einer multipolaren Welt angekommen. Ironischerweise ist der Abstieg der USA als alleiniger Supermacht ein Resultat der Bush-Regierung. Auch hier ist das "Ende der Geschichte" in sein Gegenteil umgeschlagen: Das wirkliche Erfolgsmodell ist heute nicht mehr die westliche Demokratie, sondern Kapitalismus plus autoritäre Regierung. Ähnlich war es in England zur Zeit der Industrialisierung, das seine Dynamik eben daraus bezog, dass die Adeligen und damit die alten autoritären Machtstrukturen noch eine große Rolle spielten. Der jetzige Wandel zur Multipolarität ist also nicht nur zu begrüßen. China und Indien, die die deutlichsten Gewinner in dieser neuen multipolaren Konstellation sind, müssen heute selbst das Ziel anti-imperialistischer Kritik sein, etwa was Chinas Politik in Myanmar und Indiens Umgang mit der maoistischen Opposition anbelangt. 

ZEIT ONLINE: Es gibt also keinen notwendigen Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Menschenrechten wie ihn viele Ideengeschichtler nahelegen? 

Žižek: Nein, absolut nicht. Der autoritär geführte Kapitalismus ist der Gewinner der jetzigen Krise. Er ist heute die größte Gefahr für Demokratie und Menschenrechte. Es ist außerordentlich ironisch, dass heute, nach dem Triumph des Kapitalismus über den Kommunismus, die Kommunisten, die an der Macht blieben, die besten Manager des Kapitalismus sind. Dreißig Jahre nachdem Deng Xiaoping sagte, dass nur der Kapitalismus China retten könne, gebärden sich die politische Führer des Westens, als ob nur China den Kapitalismus retten könnte. Hegel hätte diese Umkehrungen geliebt!“
 

Editorische Hinweise

Text und Anlage erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.