Ronald M. Schernikau
Die Tage in L
Rezensiert von Martin Brandt

09-2012

trend
onlinezeitung

Ronald M. Schernikau porträtiert die DDR kurz vor dem Fall der Mauer und dem Kollaps der sozialistischen Blockstaaten und erinnert an ihr Versprechen einer besseren aller bisherigen Welten.

„uwe ist zupackend, spröde, hat lachfalten um die augen, ist immer optimistisch, die größte scheiße kann passieren uwe sagt: das kriegen wir hin. uwes verbalisierungsgrad ist nicht der höchste, das macht er locker mit seiner neugier wett. uwe erschrickt, wenn man seine augen küßt, uwe hat keine ahnung, daß er schön ist. das mindert seine schönheit nur um ein weniges. uwe ist die ddr.“ (S. 200)

Das war die DDR, zumindest diejenige Schernikaus, der sich, bevor sie ihren Bankrott erklärte, als einer der Letzten hat in sie einbürgern lassen. Bereits drei Jahre zuvor durfte er dank des deutsch-deutschen Kulturabkommens als Westdeutscher ein Studium am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher beginnen, für dessen Abschluss er einen Teil des Buches als Arbeit anfertigte. Die „tage in l.“ sind jene in Leipzig verbrachten, die aus dem biografischen Kuriosum des Autors schöpfen, in Ostdeutschland geboren, westdeutsch sozialisiert und schließlich in die DDR zurückgekehrt zu sein, um einen „kundschafterroman“ (S. 10) über diese seine DDR und ihre Beziehung zur Bonner Republik schreiben zu können.

Er stand dabei vor dem nicht unwesentlichen Problem, in Zeiten der späten Blockkonfrontation und angesichts aller offen zu Tage getretenen realsozialistischen Zumutungen und Widersprüche, die Notwendigkeit einer kommunistischen Gesellschaft gegen seine inneren und äußeren Kritiker_innen zu verteidigen. Wie „ein schwimmer im becken, der mitten im wettbewerb um die weltmeisterschaft seine mitschwimmer davon zu überzeugen sucht, das wasser sei naß“ (S. 29), dokumentiert Schernikau aufmerksam die verschiedenen Charakterzüge der sowohl unter kapitalistischen als auch sozialistischen Bedingungen zugerichteten Menschen.

Unerbittlich, aber nie moralisierend, legt er dabei das zwischenmenschlich und vor allem zwischenstaatlich Nichtausgesprochene frei, das sich im Verhalten und Denken der Menschen ausdrückt, und bindet es zurück an die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, statt es dem individuellen Versagen zuzurechnen. Schernikau lässt „den“ Westen und „den“ Osten gleichsam als die zwei Nachbarn auftreten, die sie sind, und verhilft ihnen jeweils zu einer Kontur, die in der kleinteiligen Alltagsauseinandersetzung unterzugehen droht.

„der westen hat gelernt zu ignorieren, zu allererst sich selbst. etwas gefällt mir nicht? ignorieren wirs! etwas ist bedrohlich? etwas wird kommen auch ohne mich? vergessen wir die angelegenheit. – die ddr, wenn irgendwo irgendwas nicht stimmt, merkt sie es noch. das ist der sozialismus.“ (S. 47)

Das Stilmittel der Vermenschlichung wird auf den Organismus der politischen Systeme selbst angewendet und die Leid verursachende kapitalistische Struktur in den Mittelpunkt gerückt, der man als Leser_in mit Schernikau nicht anders als widersprechen kann. So hinterfragen die Schernikauschen Aphorismen und Beobachtungen die Selbstverständlichkeit des Kapitalismus, seine eigenen Ausgangs- und Existenzbedingungen – als da wären die Ausbeutung der Natur als Rohstofflieferantin und des Menschen als Arbeitskraftbehälter – zu verschleiern und sich als alternativlos zu setzen. Indem er Alltagsrede aus ihren sozialen Kontexten herausschneidet, sie komprimiert und in einen größeren Text- und Sinnzusammenhang montiert, ringt er einer auf dem ersten Schein zufälligen Alltagsbanalität objektiven Wert ab und expliziert an ihr, wohin gewisse Haltungen, konsequent zu Ende gedacht, führen:

„in der brigitte stand einmal die schöne bemerkung, über das ozonloch seien sich die wissenschaftler noch uneinig. das ist der pluralismus! irgendeiner findet sich immer, der das gegenteil von irgendwem anders sagt, und damit ist es dann auch erledigt. – zwar hat nichts einen inhalt, aber es ist alles machbar. du bist an allem selber schuld“ (S. 33)

Ohne Zweifel ist für Schernikau die DDR die Alternative, deren Vorteil sich nicht zuletzt aus dem Vergleich mit dem kapitalistischen Nachbarn ergibt. Ihr huldigt er, sie überhöht und verklärt er je nach Anlass zu Zwecken des aufrichtigen Lobs oder der schlichten Provokation. Weil er, wie er 1990 auf dem Kongress der Schriftsteller der DDR verlautbarte, die Dummheit der Kommunisten für kein Argument gegen den Kommunismus hält, erträgt er ihre ökonomischen Schwächen und Mängel, die er für abschaffbare hält. Diese politische Haltung, die der marxistischen Einsicht trotzt, dass die DDR den Antagonismus von Kapital und Arbeit lediglich modifizierte und nicht aus der Welt schaffte, entspringt einer zutiefst persönlichen, mithin ästhetischen Entscheidung, sozusagen einer Ästhetik des Lobs. Im Gegensatz zu dem zehnjährigen Flaubert, der, auf dem Sofa seiner Tante sitzend,

„die tante ankuckt und denkt: meine güte ist die dumm, das muß ich sofort aufschreiben“, war Schernikaus Anliegen seit jeher, „das gelungene, wenn es denn einmal irgendwo aufschien, es nicht zu verlieren“ (S. 15).

Wenn es Aufgabe der Literatur ist, Leser_innen eine mögliche Haltung zur Welt anzubieten, dann vermitteln „die tage in l.“ heutzutage eine unerschütterliche Zuversicht, die sie aus der alten Erkenntnis ziehen, dass die Verhältnisse, in denen die Menschen zu leben haben, seit jeher von ihnen selbst hergestellt werden und somit veränderbar sind. Im Volk und Kapital wiederversöhnenden Einheitstaumel schillerte Schernikaus Optimismus leider zu grell, als dass er gesehen worden wäre.

Ronald M. Schernikau
Die Tage in L.
Darüber, dass die DDR und die BRD sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer Literatur

konkret literatur verlag

216 Seiten, broschiert
EUR 15.00     SFr 30.00
ISBN 978-3-89458-206-7

Editorische Hinweise

Wir spiegelten die Rezension von der Seite www.kritisch-lesen.de