Texte  zur antikapitalistischen Organisations- und Programmdebatte

09-2012

trend
onlinezeitung

Es gibt einen Überblick über alle bei TREND 2011/12 veröffentlichten Texte zur Debatte über Organisation und Programm, angeregt durch die "Sozialistische Initiative Berlin" (vormals Berlin-Schöneberg)

Red. Vorbemerkung:  Im Marx-Forum sah sich unlängst Robert Schlosser erneut veranlasst zum Problem des "revolutionären Bruchs" Stellung zu nehmen. Wir dokumentieren diesen Text, weil der Genosse Schlosser darin ein wenig flexibler ( bzw. "dialektischer") als bisher versucht, das Verhältnis von Herrschaft, Gewalt und Aufhebung des Kapitalismus zu beschreiben. Anlass waren Gedanken des "Bochumers" Kim B. zur Diskussion über den "revolutionären Bruch" im NaO-Blog.

Ist die Anwendung von Waffengewalt ein geeignetes Mittel zur Erreichung emanzipativer Ziele?
von Robert Schlosser

Hallo Kim,
mir geht es beim Lesen deiner Überlegungen ähnlich wie Wal. Trotzdem ein paar Anmerkungen:

1. Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann bemühst du dich um eine Argumentation, die zeigen soll, dass der Einsatz bewaffneter Gewalt für die Verwirklichung sozialer Emanzipation kontraproduktiv sei. Daher lehnst du sie grundsätzlich ab.

Ob und in welchem Umfang bewaffnete Gewalt bei einer sozialen Revolution zum Einsatz kommt hängt jedoch entscheidend davon ab, wie sich die Klassenkämpfe entwickeln.

2. Für mich steht es außer Frage, dass die Bourgeoisie nicht freiwillig auf den Besitz der Produktionsmittel und ihre sonstigen Klassenprivilegien verzichten wird. Für die Verteidigung ihrer Interessen unterhält sie ja einen großen Repressionsapparat inkl. bewaffneter Formationen. Soweit erforderlich, wird dieser Repressionsapparat auch mehr oder weniger rücksichtlos - besonders gegen Massenbewegungen, die die Klassenprivilegien der Bourgeoisie in Frage stellen - eingesetzt. Das lehrt aus meiner Sicht alle historische Erfahrung.

3. Selbstverständlich kämpfen KommunistInnen für eine Gesellschaft ohne solche Repressionsapparate und bewaffnete Formationen. Von daher sind sie also grundsätzlich gegen die Anwendung von bewaffneter Gewalt. Diese Grundsatzposition garantiert jedoch keineswegs eine soziale Revolution ohne die Anwendung bewaffneter Gewalt. Es gibt überhaupt nur einen Weg, den wünschenswerten, friedlichen Gang der sozialen Revolution zu ermöglichen und der besteht darin, die Bourgeoisie zu entwaffnen, bzw. den Einsatz ihrer bewaffneten Formationen gegen die soziale Revolution zu verhindern. Wie das geschehen kann, das hängt ganz von den konkreten Umständen ab (haben wir es mit einer Armee mit allgemeiner „Wehrpflicht“ zu tun oder mit einer Berufsarmee usw.). Wurden die LohnarbeiterInnen von der Bourgeoisie „in den Waffenrock gesteckt“ (Krieg 1870/71 und Pariser Kommune, 1. Weltkrieg und die Revolutionen in Russland/Deutschland) und entwickelt sich unter den auf diese Weise bewaffneten LohnarbeiterInnen eine sozialrevolutionäre Bewegung, dann ist die Bourgeoisie faktisch des Repressionsapparates zur Durchsetzung ihrer Interessen beraubt. Das hat einen weitgehend friedlichen Gang der Revolutionen ermöglicht. Sobald es gelang wieder bewaffnete Formationen für die Reaktion aufzubauen und einsatzbereit zu machen, begann der blutige Bürgerkrieg.
Diese Lehren ziehe ich – kurz gesagt - aus der Geschichte. Daraus folgt, dass der wünschenswerte friedliche Gang der sozialen Revolution davon abhängt, ob es gelingt diese „Wiederbewaffnung“ der Bourgeoisie zu verhindern.

4. Wer sich heute unbedingt den Kopf zerbrechen will über „den revolutionären Bruch“, der sollte sich darüber Gedanken machen. Der sollte sich auch Gedanken darüber machen, wie verhindert werden kann, dass eine (heute übliche) Berufsarmee als Werkzeug zur Unterdrückung sozialer Revolution zum Einsatz kommt. Er müsste sich Gedanken machen über konkrete antimilitaristische politische Arbeit. usw.

Die WortführerInnen im NAO-Blog meinen aber, man könne eine möglichst friedliche soziale Revolution gerade dadurch ermöglichen, dass man sich auf die bewaffnete Auseinandersetzung vorbereitet. Wie das geschehen soll, das lassen sie offen, halten aber Lenin für einen klugen Ratgeber. Der hatte schon in seiner Schrift „2 Taktiken in der russischen Sozialdemokratie“ (Revolution 1905) heftig für die „Schaffung einer revolutionären Armee“ und für die „bewaffneten Aufstand“ agitiert. Was 1905 noch nicht gelang, das gelang in der Revolution 1917. Hat nun diese intensive Vorbereitung auf den bewaffneten Aufstand einen friedlichen Gang der Revolution ermöglicht? Der ungeheuer blutige und lange Bürgerkrieg in Russland deutet jedenfalls auf das Gegenteil hin. Die Behauptung, man ermögliche einen friedlichen Gang der sozialen Revolution am besten durch Vorbereitung auf den bewaffneten Aufstand ist nicht anderes, als ein taktisches Zugeständnis in der Diskussion; von Leuten, die nichts anderes möchten, als eben einen solchen bewaffneten Aufstand, weil sie der Meinung sind, dass allein der den Sieg der sozialen Revolution ermögliche. Das halten sie eben auf Grund der historischen Erfahrung für eine gesicherte Erkenntnis.

5. Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert voller Kriege und bewaffneter Revolution, meist antikolonialen Charakters. Soweit diese Revolutionen erfolgreich waren, haben sie neue Repressionsapparate inkl. bewaffneter Formationen geschaffen. Die bewaffneten Formationen der Revolution wurden zu Repressionsinstrumenten der neuen staatlichen Macht. Die bewaffneten Aufstände, Revolutionen, haben die Ziele sozialer Emanzipation in Schutt und Asche gelegt, zu Resultaten geführt, von denen sich der Kommunismus bis heute nicht erholt hat. Die FreundInnen des „revolutionären Bruchs“ (KO-Kriterium für „subjektive Revolutionäre“) sehen bis heute keinen Anlass dazu, darüber nachzudenken, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen den politisch-militärischen Formen dieser Revolutionen und ihren sozialen Resultaten. Für sie ist und bleibt ausschlaggebend, dass es gelang, die politische Macht zu ergreifen. Daran könne, ja müsse man anknüpfen … um hernach alles besser, anders zu machen … was immer das sei. Soweit innerhalb des „NAO-Prozesses“ versucht wurde, Kommunismus, Formen und Inhalte sozialer Emanzipation, neu zu diskutieren, geschah das wesentlich durch unsere Beiträge. Unser Ansatz wurde als reformistisch, gradualistisch, syndikalistisch usw. zurück gewiesen. Bei Indymedia las ich jetzt folgendes über „die Bochumer“:
„...während die Bochumer_innen eine workeristische Version des klassischen Freiraum- und Revolten-Gradualismus [4] vertreten: sie hängen der naiven Vorstellung einer Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise durch selbstverwaltete Betriebe an. Stück für Stück soll der Kapitalismus überwunden werden – und am Ende verschwinden die bürgerliche Staatsmacht und ihre Apparate fast von ganz alleine.“
(http://de.indymedia.org/2012/08/333851.shtml)

Das nenn ich mal wirklich eine gelungene Zusammenfassung und Charakterisierung „unseres“ Reformismus! Ich finde mich mit meiner Position darin sofort wieder! Danke! Man muss Blödsinn eben oft genug wiederholen, damit er sich ausbreitet und immer weiter „vertieft“ wird. Ich frag mich, ob Leute, die sowas schreiben, wirklich lesen können. „Naiv“ nenne ich solche „Charakterisierungen“ aber nicht! Sie geschehen mit voller Absicht und haben eine Tradition, mit der es zu brechen gilt! (Das wäre mal ein KO-Kriterium für „subjektive Revolutionäre“. ;-))

Und damit Schluss:

Grundsätzlich bin ich gegen bewaffnete Gewalt wie du. Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sollten KommunistInnen alles tun, um einen möglichst friedlichen Gang sozialer Revolution sicher zu stellen. Garantieren kann das niemand. Die möglichst gute Vorbereitung auf einen bewaffneten Aufstand bewirkt das Gegenteil, nämlich den Bürgerkrieg, dessen Verlauf und Ergebnisse mit großer Wahrscheinlichkeit der sozialen Emanzipation nicht förderlich sind. Zu den heute wirklich „brennenden Fragen“, wie es unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen und nach dem Desaster des „Kommunismus“, zu einer „Parteibildung des Proletariats“ kommen kann, gehört die „Gewaltfrage“ meiner Meinung nach jedoch nicht.

Viele Grüße
Robert

Editorische Hinweise

Der Text wurde gespiegelt von http://marx-forum.de, wo er am 20.8.12 veröffentlicht wurde.