Vor 40 Jahren: Wilder Streik bei Ford-Köln
Zur Vorgeschichte: Gewerkschaftliche Betriebspolitik bei Ford

von Volker Delp, Lothar Schmidt und Klaus Wohlfahrt

09-2013

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: In der letzten Ausgabe veröffentlichten wir die Betriebszeitung der KPD-Zelle bei Ford-Köln, worin über den Streik berichtet wurde, ergänzt durch die parteipolitische Einschätzung der maoistischen Kommunisten. Im "Kritischen Jahrbuch `74 - Gewerkschaften und Klassenkampf" gibt es eine Darstellung der innerbetrieblichen Vorgeschichte dieses wilden Streiks, die wir ergänzend zur Betriebszeitung virtuell reprinten. / red. trend

Keiner der spontanen betrieblichen Arbeitskämpfe 1973 nat soviel Aufsehen erregt wie der Streik in den Fordwerken Köln. In ihm zeigte sich eine tiefe Unzufriedenheit der Arbeiter mit ihrer gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Deshalb ist es notwendig zu untersuchen, inwieweit mit dem Aufbau gewerkschaftlicher Betriebsgremien bei Ford, der in einer speziellen Organisationskampagne in den Jahren 1960 bis 1966 von der IG Metall mit großer Intensität vorangetrieben wurde, bereits die Ursachen für die Entfremdung zwischen der IG Metall und der Belegschaft geschaffen wurden.

Ausgangslage und Vorbereitung der »Schwerpunktaktion Ford«

Die IG Metall stand seit Mitte der joer Jahre vor dem Problem, daß der Anteil der organisierten Arbeitnehmer in ihrem Bereich stark rückläufig war. Während 1952 im Metallbereich noch 56,2 Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert waren, betrug der Organisationsgrad 1963 nur noch 37,7 Prozent(1). Um diesen Prozeß abzustoppen, schlug die Abteilung Organisation beim Vorstand der IG Metall 1960 vor, mit Hilfe von Schwerpunktaktionen die Werbung neuer Gewerkschaftsmitglieder zu forcieren. Die Abteilung Organisation schätzte, daß man mit solchen Aktionen innerhalb kurzer Zeit etwa 600 ooo neue Mitglieder gewinnen könnte. Den Beweis für die Durchführbarkeit dieser Planungen sollte die »Schwerpunktaktion Ford« bringen. Für die Wahl der Ford-Werke zur Durchführung dieser Aktion, die exemplarischen Charakter haben sollte, lassen sich zwei Gründe angeben:

1. die Organisationsquote bei Ford lag mit 4,6 Prozent noch weit unter dem Bundesdurchschnitt der IG Metall.

2. die hohe Fluktuation der Belegschaft (1962 = 32,1 Prozent; 1963 = 34 Prozent des gesamten Personalbestandes) ließen die Ford-Werke für den Kölner Raum zu einer Schleuse werden, bei deren Durchgang Gewerkschafter ihre Mitgliedschaft verloren und später unorganisiert in anderen Betrieben weiterarbeiteten.

Die niedrige Organisationsquote bei Ford bedeutete so eine Schwächung der IG Metall in der gesamten Kölner Umgebung; umgekehrt konnte der Vorstand hoffen, daß ein hoch organisierter Fordbetrieb zu einer Kraftquelle für den ganzen Bezirk werden würde. Die konkreten Vorbereitungen für die Aktion begannen Ende 1960. Als deren verantwortlicher Leiter wurde Hans Matthöfer aus der Abteilung Bildungswesen beim Vorstand der IG Metall bestellt. Zum Ziel setzte man sich, einen Organisationsgrad von rund 80 Prozent zu erreichen.

Die Fordwerke, Tochtergesellschaft der amerikanischen Ford Motor Company, stellten sich zu Beginn der 6oer Jahre als ein expandierendes Unternehmen dar. Mit einem Anteil von 12,9 Prozent an der gesamten westdeutschen Automobilproduktion und 14,5 Prozent der PKW- und Kombi-Neuzulas-sungen sowie mit einem Anteil von 10,8 Prozent am Fahrzeugexport der Bundesrepublik war die Position des Unternehmens gegenüber Opel und Volkswagen am Markt sehr stark geworden. Die Belegschaft war von 1961 bis 1962 um 17 Prozent angewachsen; sie hatte sich innerhalb von fünf Jahren nahezu verdoppelt. Im Jahre 1962 beschäftigten die deutschen Fordwerke 21 200 Lohn- und 5600 Gehaltsempfänger; davon waren 6400 Ausländer, überwiegend türkische und italienische Arbeiter.

Da die Fordwerke kein Mitglied des Arbeitgeberverbandes der Metallindustriellen waren, hatten die von der IG Metall ausgehandelten Tarifverträge keine Gültigkeit für Ford. Die Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen wurden in Form von Betriebsvereinbarungen zwischen der Geschäftsleitung und dem Betriebsrat festgelegt. Der Betriebsrat als nichttariffä-hige Partei war an die Wohlverhaltensklausel des Betriebsverfassungsgesetzes gebunden und konnte seinen Forderungen nicht mit Hilfe von Kampfandrohung oder Streik Nachdruck verleihen. Dementsprechend waren die Lohn- und Arbeitsverhältnisse für die Belegschaft sehr ungünstig. Die Betriebsvereinbarungen standen nicht unter Tarif schütz; sie waren zum großen Teil rechtswidrig, denn in § 59 des damals gültigen Betriebsverfassungsgesetzes war festgelegt, daß Betriebsvereinbarungen über Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen nicht zulässig waren, soweit sie üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt waren. Zu Beginn der »Schwerpunktaktion Ford« gab die IG Metall beim Infas-Institut eine soziologische Untersuchung in Auftrag. Ihr Ergebnis läßt sich kurz wie folgt zusammenfassen:

  • Organisierte wie Unorganisierte schätzten die innerbetrieblichen Verhältnisse bezüglich Löhnen, Arbeitsbedingungen und Sozialwesen gleich schlecht ein.
  • Die Annahme, daß der Organisationsgrad bei Ford deshalb so gering sei, weil eine große Zufriedenheit mit den betrieblichen Verhältnissen bestehe, erwies sich als falsch.
  • Kritik wurde vor allem an dem übersteigerten Arbeitstempo geübt. Viele der befragten Arbeiter wiesen auf starke gesundheitliche Belastungen und auf das hohe Unfallrisiko hin. In der Tat galt die Arbeitsbelastung bei Ford als die höchste in der gesamten Automobilproduktion der BRD. Damit verband sich eine scharfe Kritik am Lohnsystem. Charakteristisch bei Ford war der Zeitlohn; dem Arbeiter wurde für eine bestimmte Zeiteinheit ein Lohnsatz gezahlt. Durch die von der Werksleitung diktierte Bandgeschwindigkeit, die für jeden Arbeiter verbindlich die Leistung vorschrieb, wurde der Belegschaft auch ohne den Anreiz der Akkordentlohnung eine äußerst hohe Leistung abverlangt.
  • Auffallend war das hohe Maß an Unzufriedenheit mit den unmittelbaren Vorgesetzten, insbesondere den Meistern. Diese Unzufriedenheit war verständlich, denn die Meister konnten das hohe Arbeitstempo durch ihren Einfluß auf die Entlohnung einzelner Arbeiter erzwingen. Sie verfügten bei Ford über einen festen Fonds, aus dem sie einzelnen Arbeitern zusätzlich zum Grundlohn Leistungszulagen in einer Gesamthöhe von 0,60 DM je Stunde zuerkennen konnten. Diese Zulagen konnten mit I4tägiger Kündigungsfrist zurückgenommen werden. Die Befragten gaben häufig an, daß die Meister ihre Macht, Lohnzuschläge eigenhändig festzulegen, zur Disziplinierung benutzten und daß es in diesem Zusammenhang oft zu Ungerechtigkeiten kam.
  • Interessant waren auch die Ergebnisse zu den Fragen über die Interessenvertretung. So hielten 40 Prozent der Befragten die Betriebshierarchie (unter diesem Begriff wurden zu-sammengefaßt: Meister, Vorarbeiter, Betriebsleiter, Werksleitung) für ihre beste Interessenvertretung, 36 Prozent nannten den Betriebsrat. Der Betriebsrat wurde nur als Unterhändler in Lohnfragen begriffen, in vielen Antworten der Befragten äußerte sich unverhohlenes Mißtrauen ihm gegenüber. So wurden ihm persönliche Ambitionen vorgeworfen; beklagt wurde, daß es außer auf Betriebsversammlungen keinen Kontakt gäbe, daß die Betriebsratsmitglieder im »weißen Hemd« und »im Hochhaus« herumliefen und keine Arbeit mehr kennen würden. Der Betriebsrat war im Bewußtsein der Belegschaft mehr und mehr zu einer anonymen Instanz geworden, der man reserviert und mit Skepsis begegnete.

Die Vertrauensleute wurden als Interessenvertreter kaum genannt (13 Prozent). Viele der Befragten glaubten Vertrauensleute gäbe es bei Ford gar nicht. Nur 11 % Prozent der befragten Arbeitnehmer nannten die Gewerkschaft. Zwar hielten 90 Prozent die Gewerkschaft für notwendig, die Begründungen der Organisierten und Unorganisierten differierten indessen stark. Nur ein knappes Viertel der Befragten, meist Organisierte, hielten die Gewerkschaften für eine offensive Kampforganisation. Die Nichtorganisierten schrieben den Gewerkschaften einen eher defensiven Charakter zu. Sie sollten helfen, das bereits Erreichte zu verteidigen. Nach den Ergebnissen dieser Befragung hatte etwa die Hälfte der bisher nicht organisierten Arbeiter keine prinzipiellen Einwände gegen einen Eintritt in die Gewerkschaft. 72 Prozent der Unorganisierten waren vor ihrem Arbeitsbeginn bei Ford bereits Mitglieder in einer Gewerkschaft gewesen. Auf die Frage, ob man eigentlich bei Ford schon einmal versucht habe, sie für die Gewerkschaft zu werben, gaben 60 Prozent an, daß sie überhaupt noch nicht angesprochen worden seien, und weitere 40 Prozent meinten, daß sie zwar beim Eintritt ins Werk daraufhin angesprochen wurden, weitere Nachfragen jedoch unterblieben wären.

Die IG Metall hatte die Schwerpunktaktion organisationstechnisch sehr gut vorbereitet. Davon zeugten:

1. detailliert angelegte Karteien:

a) eine alphabetische Kartei der Organisierten, geordnet nach Wohnort und Stadtteil,
b) eine in gleicher Weise erstellte Kartei der Unorganisierten,
c) eine Kartei der Organisierten, geordnet nach Betrieben und Abteilungen,
d) Betriebspläne, die über den Organisationsgrad in den einzelnen Abteilungen Auskunft gaben.

2. eine Zielgruppenbestimmung, in der nach folgender Reihenfolge differenziert wurde:

a) deutsche männliche Arbeiter,
b) Jugendliche,
c) türkische Arbeiter,
d) italienische Arbeiter,
e) griechische Arbeiter,
f) deutsche weibliche Arbeiter,
g) männliche technische Angestellte,
h) weibliche Angestellte,
i) männliche kaufmännische Angestellte.

3. eine Werbekampagne, die in gezielter Weise durch Zeitungsanzeigen, Handzettel, Veranstaltungen und persönliche Kontakte das Interesse der Belegschaft an der IG Metall fördern sollte. Speziell für die Schwerpunktaktion brachte die IG Metall eine eigene Zeitung, die »Tatsachen« heraus, die insbesondere die Betriebskonflikte bei Ford behandelte.

Ziele der Schwerpunktaktion

Die Schwerpunktaktion, deren äußerliches Ziel eine wesentliche Verbesserung des Organisationsgrades war, erhielt ihre besondere gewerkschaftspolitische Bedeutung dadurch, daß erstmals der praktische Versuch gestartet wurde, die betriebsnahe Tarifpolitik durchzusetzen. Die Konzeption der betriebsnahen Tarifpolitik wurde Anfang der 60er Jahre vor allem von Fritz Salm, seinerzeit zuständiges Vorstandsmitglied der IG Metall für das Tarifwesen, vertreten.(2) Kern dieser Tarifkonzeption waren Firmentarifverträge, die als Zusatzabkommen zu den Flächentarifverträgen ausgehandelt und in denen die konkreten betrieblichen Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen tarifvertraglich geregelt werden sollten. Salm schlug vor, eigene gewerkschaftliche Tarifkommissionen in den Betrieben zu bilden, die das Zusatzauskommen aushandeln sollten. Wichtig war dabei, daß diese Tarifkommissionen nicht an die Wohlverhaltensklausel des Betriebsverfassungsgesetzes gebunden waren, sondern ihre Forderungen mit gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen abstützen konnten. Die betriebsnahe Tarifpolitik lief darauf hinaus, die Betriebsvereinba-rungspolitik der Betriebsräte durch eine gewerkschaftliche Tarifstrategie zu ersetzen. Salm und eine Reihe von Funktionären des Führungsapparates der IG Metall erhofften sich von einer erfolgreichen Fordaktion einen tarifpolitischen Durchbruch, der die gesamte Tarifpolitik der IG Metall, die sehr zentralistisch ausgerichtet war, verändern würde. Sie begriffen die Schwerpunktaktion Ford als einen Vorstoß in Richtung einer basisnahen Orientierung gewerkschaftlicher Tarifpolitik. Eng verbunden mit ihrem Konzept war der Ausbau von Vertrauensleutekörpern, für deren Mitglieder Basisnähe und Abhängigkeit von den vertretenen Mitgliedern keine leeren Worte, sondern Verpflichtung sein sollten. Salm versprach sich davon auch eine Demokratisierung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik. Da die betriebsnahe Tarifpolitik nicht nur den Verhandlungsspielraum der Betriebsräte erheblich einschränken, sondern auch tarifpolitische Entscheidungen von der Gewerkschaftsführung auf gewerkschaftliche Basisgremien verlagern würde, mußte mit dem Widerstand von Betriebsräten und der Vorstandsmehrheit gerechnet werden. Diese akzeptierte die betriebsnahe Tarifpolitik allenfalls als ein geeignetes Mittel der Mitgliederwerbung, bekämpften jedoch die damit beabsichtigte Verlagerung von Entscheidungskompetenzen.

Die Fordwerke mußten den Initiatoren als ein geeignetes Experimentierfeld erscheinen, da unter der Belegschaft die Unzufriedenheit mit den betrieblichen Verhältnissen sehr groß war und keinerlei tarifrechtlich verbindlichen Regelungen bestanden. Zu Beginn der Ford-Aktion wurde in den »Tatsachen« die Notwendigkeit einer betriebsnahen Tarifpolitik begründet. Olaf Radke von der Vorstandsverwaltung der IG Metall schrieb: »Eine Gewerkschaftspolitik, die das Streben des arbeitenden Menschen nach Sicherheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Würde durch eine betriebsnahe Tarifpolitik aktiviert und sinnvoll und wirksam befriedigt, würde zu einer gewaltigen Kraftquelle unserer Organisation. Tausende müßten Mitglieder betrieblicher Tarifkommissionen werden.«(3) Auch Otto Brenner schloß sich in den »Tatsachen« der Forderung nach einem Firmentarifvertrag voll an: »Die Arbeitgeber versuchen, zu einer möglichst zentralisierten Tarifpolitik, mit großräumigen Abkommen zu gelangen. Auf diese Weise würde sich das betriebliche Geschehen immer weiter von den Tarifverträgen entfernen. Wir sind im Gegenteil bemüht, durch Zusatzverträge zu den regionalen Abkommen oder gegebenenfalls auch durch Werksverträge einen möglichst großen Teil der betrieblichen Wirklichkeit tarifvertraglich abzusichern.« (4)

Konflikt mit dem Betriebsrat

Zu Beginn der Schwerpunktaktion Ford hatte sich die IG Metall zunächst mit dem amtierenden Betriebsrat auseinanderzusetzen. Er bestand aus 35 Mitgliedern, von denen alle 28 Arbeitervertreter Mitglied der IG Metall waren, von den sieben Angestelltenvertretern waren drei in der IG Metall organisiert. Die stärkste Gruppe innerhalb des Betriebsrates bildete sich um den Betriebsratsvorsitzenden Görres, der wie einige andere noch Mitglied in der alten KPD gewesen war. Die Position von Görres, der sich gewerkschaftspolitisch nicht sehr engagiert hatte, hing von dem bei Ford aufgebauten System der Betriebsvereinbarungen ab; dadurch sicherte er sich der IG Metall gegenüber eine relativ unabhängige Stellung. Görres war an der Schwerpunktaktion nicht interessiert, von der er wissen mußte, daß sie Folgen für die personelle Zusammensetzung des Betriebsrates haben mußte. Er und der dominierende Teil des Betriebsrates weigerten sich, die Ford-Aktion aktiv zu unterstützen. Die Durchführung der Aktion erforderte die Ablösung des alten Betriebsrates durch neue Funktionäre, die Inhalte und Methoden der Aktion voll billigten und bereit waren, sie in der betrieblichen Praxis umzusetzen. Der entscheidende Konflikt zwischen Betriebsrat und IG Metall entwickelte sich 1962. Bei den Vorbereitungen zur Betriebsratswahl 1963 war eine zweite IG-Metall-Liste eingereicht worden. Dadurch geriet die Betriebsgruppe christlich-sozialer Gewerkschafter, die in der IG Metall organisiert und auf der ersten Liste plaziert war, in eine aussichtslose Position, so daß sie sich entschloß, eine dritte Liste einzureichen. Der Betriebsratsvorsitzende Görres erhielt einen vertraulichen Hinweis, daß das freigestellte Betriebsratsmitglied Günther Tolusch, der in der IG Metall als Vertreter einer progressiven Tarifpolitik bekannt war und zum linken Flügel gezählt wurde, und der damalige Vorsitzende der Vertrauensleute Ernst Lück die zweite Liste inszeniert hätten. Daraufhin strengte Görres ein Ausschlußverfahren an. Tolusch und Lück waren in der Lage, das Verfahren abzuwenden, nicht zuletzt mit dem Hinweis auf ihre aktive Mitarbeit bei der gerade anlaufenden Schwerpunktaktion. In ihren Stellungnahmen deuteten sie an, daß das Ausschlußverfahren gegen sie wohl ein Schlag des Betriebsratsvorsitzenden gegen die Aktion selbst sein könne. Dadurch geriet Görres selbst ins Kreuzfeuer der Kritik und verzichtete bei der Betriebsratswahl 1963 auf eine Kandidatur. Neuer Betriebsratsvorsitzender wurde Günther Tolusch.

Das Scheitern der betriebsnahen Tarifpolitik

Am 25. März 1963 wurde der Betriebsrat mit der Bildung einer Tarifkommission zur Erarbeitung eines Verhandlungsvorschlages für einen Haustarif beauftragt. Der Vorstand der IG Metall billigte diesen Vorschlag und forderte die Geschäftsleitung der Fordwerke auf, mit dieser Tarifkommission Verhandlungen aufzunehmen. Anfang Mai 1963 lag der erste von der Tarifkommission erarbeitete Verhandlungsentwurf vor. Darin — wie auch in späteren Forderungen — wurde die Tarifierung der Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen bei Ford gefordert. Inhaltlich wurde eine Anhebung der Löhne, eine Erhöhung von Urlaubszeit und -geld gefordert; außerdem enthielten die Vertragsentwürfe der Tarifkommission detaillierte Vorschläge zur Regelung der Arbeitsbedingungen:

1. Bandbesetzung und Arbeitstempo

a) Die Arbeitszuteilung für den einzelnen Arbeitsplatz am Band wird mit dem Betriebsrat vereinbart.
b) Die Besetzung der Bänder mit Arbeitern kann nur nach Vereinbarung mit dem Betriebsrat festgelegt werden, damit die Dauerbelastung das Zumutbare nicht übersteigt.
c) Die Veränderung der Taktzeiten und der Bandgeschwindigkeit kann nur nach Vereinbarung mit dem Betriebsrat erfolgen.
d) Die Bandgeschwindigkeit soll durch Geschwindigkeitsschreiber aufgezeichnet werden.

2. Springerregelung
Die Aufgabe eines Springers besteht darin, taktgebundene Arbeiter zu ersetzen, wenn sie für kurze Zeit abwesend sind. Der Einsatz von Springern sichert die Erholungszeiten und gewährt einen gewissen arbeitsorganisatorischen Ausgleich bei kleineren Produktionsstörungen.

3. Typenfolge
Um die Bandarbeit einigermaßen erträglich zu machen, ist es auch notwendig, die Reihenfolge der Wagentypen (2-türig, 4türig, Mehrfarbenlackierung usw.) auf dem Fließband festzulegen. Weicht die Typenfolge von dieser Festlegung ab, so ist die Mehrbelastung durch zusätzliche Besetzung oder geringere Geschwindigkeit des Bandes auszugleichen.

Da die betriebsnahe Tarifpolitik nun für die Geschäftsleitung zu einer konkreten Gefahr wurde, trat Ford am 7. Mai 1963 in den zuständigen Arbeitgeberverband von Nordrhein-West-falen ein. Die Geschäftsleitung erklärte daraufhin, daß die mit dem Arbeitgeberverband abgeschlossenen Tarifverträge nun auch für Ford Gültigkeit besitzen. Betriebsrat und Bezirksleitung der IG Metall dagegen verneinten die Tarifgebundenheit der Fordwerke und forderten die Geschäftsleitung erneut auf, auf der Grundlage des von ihrer Tarifkommission erarbeiteten Entwurfs in Verhandlungen einzutreten. Nach mehrmaliger Ablehnung der Verhandlungstermine durch die Geschäftsleitung erklärte die IG Metall am 15. 5. 64 die Verhandlungen für gescheitert und kündigte eine Urabstimmung für den 22. 6. 64 an. Gegen die angesetzte Urabstimmung erhob die Geschäftsleitung Einspruch und erwirkte drei Tage vor dem geplanten Termin eine einstweilige Verfügung beim Arbeitsgericht Köln. Darin wurde bestätigt, daß die IG Metall aufgrund der Zugehörigkeit der Ford-Werke zum Arbeitgeberverband an die in Nordrhein-Westfalen noch geltende Friedenspflicht gebunden sei. Nachdem die Verfügung auch vom Landesarbeitsgericht in Düsseldorf bestätigt wurde, stand fest, daß sich ein Firmentarifvertrag juristisch nicht mehr durchsetzen ließ. Am Tag nach der gerichtlichen Entscheidung trafen sich der Vorstand der IG Metall unter dem Vorsitz von Otto Brenner und der Gesamtverband Metallindustrieller Arbeitgeberverbände auf Schloß Reinhartshausen bei Erbach zur Bereinigung des Streitfalles. Das Ergebnis dieser Gespräche waren die »Erbacher Empfehlungen«, die Grundlage weiterer Verhandlungen sein sollten. In der Tendenz rücken die »Empfehlungen« von der betriebsnahen Tarifpolitik ab und gehen dahin, die spezifischen Probleme der Fordwerke durch Ergänzungsvereinbarungen im Rahmen des gültigen Tarifvertrages zu regeln. Anfang August 64 nahm die Bezirksleitung der IG Metall in Köln zwar Verhandlungen über den Abschluß einer Ergänzungsvereinbarung mit dem Arbeitgeberverband auf. Der damalige Bezirksleiter der IG Metall in Köln, Niedermayer, lehnte es aber ab, die von der betrieblichen Tarifkommission erarbeiteten Vorschläge als Verhandlungsgrundlage zu übernehmen und berief sich gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden Günther Tolusch darauf, daß er mit Zustimmung des Vorstands handelte. Tolusch erhielt wenig später einen Anruf aus Frankfurt, in dem ihm bestätigt wurde, daß der Bezirksvorstand in Übereinstimmung und Absprache mit dem IG-Metall-Vorstand gehandelt hätte.

Der angestrebte Firmentarifvertrag hatte für den Vorstand durchaus zwei Seiten. Einerseits hatte sich die Propagierung der betriebsnahen Tarifpolitik als äußerst werbewirksam erwiesen, die Zahl der Organisierten hatte sich von 958 im Jahre 1961 auf 5461 im 4. Quartal'1963 erhöht und machte damit 20 Prozent der Gesamtbelegschaft aus. Zudem zeigten die gestiegenen Mitgliederzahlen aus den umliegenden Betrieben, daß die Fordaktion die IG Metall im gesamten Bezirk stärkte. Andererseits mußte der Vorstand ernsthaft eine Beschneidung seiner Machtposition befürchten, wenn sich bei Ford exemplarisch die Möglichkeit zur Durchsetzung von Firmentarifverträgen, an deren Gestaltung betriebliche Tarifkommissionen maßgeblich beteiligt wären, eröffnen sollte. So verstand es der Vorstand, die Forderung nach einem Haustarif zwar für die Mitgliederwerbung zu nutzen, seine Durchsetzung aber zugleich zu verhindern. Entgegen den Intentionen der Gruppe um Salm führte die Fordaktion nicht zu einer Veränderung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, vielmehr wurde die betriebsnahe Tarifpolitik zu einem Vehikel der Mitgliederwerbung degradiert. Dies läßt sich insbesondere an der Politik der IG Metall in der Frage des beabsichtigten Streiks bei Ford nachweisen.

Nachdem eine Umfrage im Werk ergeben hatte, daß 90 Prozent der Belegschaft bereit waren, für die Durchsetzung eines Haustarifvertrags zu streiken, benutzte man diese Bereitschaft dazu, die Möglichkeit eines Streiks als gegeben zu bejahen und auf die materiellen Folgen für die Unorganisierten im Streikfalle hinzuweisen. Wahrscheinlich kam der Vorstandsmehrheit die juristische Lage entgegen. Nicht erst die Verfügungen zum geplanten Streik bei Ford hatten diese Rechtslage geschaffen, sondern das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes von 1958. Damals hatte das BAG entschieden, daß die Urabstimmung als Kampfmaßnahme anzusehen ist und damit rechtswidrig ist, wenn aufgrund eines geltenden Tarifvertrages noch Friedenspflicht besteht. Schon als die IG Metall zur Urabstimmung bei Ford aufrief, war klar, daß nach herrschender Rechtslehre, die die IG Metall zwar nicht akzeptierte, aber respektierte, ein Bruch der Friedenspflicht vorlag. Wenn die Vorstandsmehrheit die betriebsnahe Tarifpolitik lediglich als Werbemittel einsetze, ihre weitergehenden Intentionen aber scheitern lassen wollte, war es richtig, sich ausdrücklich für Streikmaßnahmen auszusprechen, weil sie wußte, daß ein Streik juristisch nicht möglich war. Die Verantwortung für das Scheitern der eingeleiteten Kampfmaßnahmen wurde an die Justiz abgegeben. Die »Erbacher Empfehlungen« hatten nur die Funktion, diesen Rückzug zu verschleiern, denn das Zusammenspiel zwischen dem Vorstand der IG Metall und dem Bezirksleiter Niedermeyer ließ eindeutig darauf schließen, daß der Vorstandsmehrheit an einem Haustarif nicht gelegen war. Daß Niedermeyer den Verhandlungsentwurf der betrieblichen Tarifkommission auf Anweisung des Vorstands ablehnte, blieb intern. Indem es der Vorstand zuließ, daß der Bezirksleiter ohne eigenes Konzept in die Verhandlungen über den Haustarifvertrag mit der Geschäftsleitung eintrat, provozierte er bewußt ein Ergebnis, das schlechtere Bedingungen fixierte, als sie im Zusatzabkommmen zum Flächentarifvertrag bereits bestanden, um dann auf dieses Abkommen als die bessere Alternative hinweisen zu können.

Aufbau und Schulung der Vertrauensleute

Auch der Aufbau und die Schulung des Vertrauensleutekörpers zeigt den instrumentalistischen Charakter, den die Fordaktion annahm. Die Fordwerke wurden in vier Arbeitsbereiche untergliedert. Drei dieser Bereiche waren geografisch festgelegte Betriebsgebiete, der vierte Bereich bezog sich auf die Jugendarbeit; jeder Bereich umfaßte etwa 5000 Beschäftigte. Nach dem Plan zum Aufbau eines Vertrauensleutekörpers sollte für jeden Bereich ein Bereichsbetriebsrat zuständig sein. Ihm zur Seite standen sieben Vertrauensleutevorstände, weitere 35 Beauftragte und als unterste Funktionäre 175 Vertrauensleute. Die hierarchische Struktur des Vertrauensleutekörpers ermöglichte Kontrolle und Einflußnahme von oben. Der Vertrauensleutekörper wurde nicht als homogenes, eigenständiges Gewerkschaftsorgan aufgebaut, sondern als Folge der hierarchischen Struktur aufgesplittert und als Gehilfe und Zuträger des Betriebsrates degradiert. Dem Vertrauensmann wollte man »das Gefühl der Anerkennung dadurch geben, daß man ihm gleichsam ein Monopol auf die Teilnahme an gewerkschaftlichen Bildungsveranstaltungen einräumte«. Besonders die Schulung der Vertrauensleute wurde von Anfang an durch den Wunsch des Vorstands nach einer möglichst schnellen Mitgliedersteigerung bestimmt. Ihr Schwerpunkt lag bei Beginn der Aktion zunächst auf Themen wie: »Methoden der Kassierung«, »Technik der Mitgliederwerbung« und »Vorbereitung von Hausbesuchen«. Dabei fanden die Schulungen für eine Schicht nur jeweils alle 14. Tage mit der Dauer von etwa einer Stunde statt. Sie waren in die Bereichsversammlungen des Vertrauensleutekörpers eingebaut, der für den Bereich zuständige Betriebsrat war stets anwesend. Die Versammlungen hatten einen sehr verfestigten Ablauf, der meist darin bestand, daß der Bereichsbetriebsrat über gewerkschaftliche Tätigkeiten (weniger über gewerkschaftliche Probleme) informierte. Nach der Selbstdarstellung des Betriebsrates durften die Vertrauensleute ihre Probleme vortragen. Der Struktur des Vertrauensleutekörpers entsprechend betrachteten sie die Betriebsräte als Vorgesetzte, an die man sich hilfesuchend wendet und bei denen man auf Beistand hofft. Das Verhalten der Vertrauensleute gegenüber den Betriebsräten war in den Schulungen dementsprechend passiv. Die Instrumentalisierung der Vertrauensleute als Mitgliederwerber und Kassierer ging zu Beginn der Aktion so weit, daß selbst die herkömmlichen Inhalte von Vertrauensleuteschulungen völlig vernachlässigt wurden. Zwar bestand, wie sich aus der eingangs erwähnten Infas-Studie entnehmen läßt, ein starkes Bedürfnis nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der IG Metall, es setzten sich aber auch hier mit den Betriebsräten jene Kräfte durch, die eine solche Diskussion für gefährlich hielten und es verstanden, die Schulungen davon frei zu halten. Indem die Vertrauensleute nur über eine Anpassung an die Politik des Betriebsrates sich die Chancen für einen Aufstieg innerhalb der Gewerkschaft erhalten konnten, verselbständigte sich der Betriebsrat zu einem unkontrollierbaren Organ.

Von ihrer Stärke und ihrem Erfolg in der Mitgliederwerbung hing die Stellung des Bereichsleiters innerhalb des Betriebsrats ab, verringerten oder vergrößerten sich die Chancen seiner Wiederwahl. So wurde es für die Betriebsräte notwendig, neben den Schulungen noch andere Mittel zu finden, um die Vertrauensleute in ihrer funktionalisierten Form festzuhalten. So geschah es bei Ford, daß besonders betriebsratstreue Vertrauensleute mit Hilfe der Obermeister von der Arbeit freigestellt wurden. Die vielfältigen Möglichkeiten, die Vertrauensleute zu leichteren Arbeiten abzustellen, dienten der Korrumpierung. Stellte sich ein Vertrauensmann, der solche Vergünstigungen genoß, gegen den Betriebsrat, so mußte er wissen, daß sich seine Situation sehr schnell verschlechtern konnte.

Besonders ausgeprägt war bei Ford auch die Einflußnahme des Betriebsrats auf die Jugendbildung. Mit vielfältigen Mitteln versuchte er, die Teilnahme an den gewerkschaftlichen Bildungsveranstaltungen so niedrig wie möglich zu halten. Aus diesen Veranstaltungen sollten sich nur die gewerkschaftlichen Jugendvertreter und deren Stellvertreter rekrutieren. Mit den Worten des zuständigen Betriebsrats hieß das, daß nur Jugendliche an Bildungsveranstaltungen teilnehmen sollten, »deren betrieblicher Einsatz weitergehende Schulungen sinnvoll macht«.

Studentische Teamer, die sich dagegen wehrten, daß Bildungsarbeit bei Ford vor allem als Funktionärsausbildung verstanden wurde, wurden entlassen. Dabei wurde der Betriebsrat meist noch von den Jugendvertretern selbst unterstützt, denn einige von ihnen wurden nach dem Abschluß ihrer Lehre freigestellt und erhielten einen erheblich höheren Lohn als ihre gleichaltrigen Kollegen. Dies genügte, um die Jugendvertretung durchgängig zum Stillhalten zu zwingen. Im Bereich der Jugendbildung bei Ford ist so deutlich zu erkennen, daß Teilnehmer an Schulungen, in denen es für kurze Zeit gelang, Themen einzubringen, die die gewerkschaftliche Betriebspraxis kritisch hinterfragten, sich durch ein System materieller Vergünstigungen gebunden fühlten. In der Abwägung zwischen dem in den Schulungen formulierten Anspruch, die Kollegen wirksamer zu vertreten, und der Angst, die vom Betriebsrat gewährten Vergünstigungen zu verlieren, lernten die Kollegen vor allem, mit dem Betriebsrat zu taktieren. Die bestehende Struktur des Vertrauensleutekörpers sicherte, daß als Schulungsergebnis auch die Technik der Anpassung an die betrieblichen Machtstrukturen beherrscht wurde. Dieses Vertrauensleutesystem erwies sich im Sinne der Betriebsräte als äußerst stabil. Die bewährte Bereichseinteilung wurde beibehalten und das durch die Ford-Aktion geprägte Gesicht des Betriebsrats hat sich bis heute kaum verändert. Erwähnenswert ist, daß Tolusch im Jahre 1972 als 1. Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Köln der IG Metall in den hauptamtlichen Führungsapparat überwechselte. Tolusch, der bis heute ein Vertreter der betriebsnahen Tarifpolitik geblieben ist und auf dieser Grundlage auch in sein Amt als Bevollmächtigter gewählt wurde, kritisiert heute die gewerkschaftliche Organisationsstruktur bei Ford, verweist aber auf den Zwang, unter den damaligen ungünstigen Verhältnissen den Organisationsgrad möglichst schnell zu erhöhen; das hat den von oben organisierten hierarchischen Aufbau des Vertrauensleutekörpers notwendig gemacht und derart verfestigt, daß die notwendige Demokratisierung später nicht mehr möglich war. Tolusch-Nachfolger im Amt des Betriebsrates wurde Ernst Lück, der auch heute noch die Organisationsstruktur der gewerkschaftlichen Betriebsgremien uneingeschränkt verteidigt.

Zum Streik 1973

In den letzten Jahren ist der Anteil der türkischen Arbeiter an der Belegschaft kontinuierlich gestiegen. Mit den Problemen der türkischen Arbeiter haben sich Betriebsrat und Vertrauensleutekörper nie ernsthaft beschäftigt. Das erschien dem Betriebsrat wohl überflüssig, denn die Türken unterschrieben bei ihrer Einstellung meist ohne ihr Wissen mit ihren anderen Arbeitspapieren auch die Beitrittserklärung für die IG Metall. Auf diese Weise konnte der Organisationsgrad der Türken auf über 90 Prozent gesteigert werden. Zwar gibt es heute auch türkische Vertrauensleute, aber sie haben keine Chance, sich in dem von deutschen Betriebsräten beherrschten Vertrauensleutekörper durchzusetzen. Hier geht es den Betriebsräten offensichtlich darum, die Betriebsratsposten für Deutsche freizuhalten, denn im Fall einer anteiligen Besetzung des Betriebsrats durch türkische Arbeiter würden zwischen 12 und 15 deutsche Betriebsratsmitglieder ihren Platz verlieren. Die Türken waren lange Zeit der geduldige Dukatenesel der IG Metall gewesen; sie hatten keine Vertretung in der Organisation, die ihre Interessen artikulieren konnte, und der Betriebsrat zeigte sich auch nicht bereit, wirksam für sie einzutreten. Wie explosiv die Lage unter den Türken war, zeigte sich schon in der Tarifrunde von 1970, als sie einen von der IG Metall organisierten Warnstreik übernahmen und ihn gegen deren Willen auf einen ganzen Tag ausdehnten. 1972 kandidierte ein türkischer Kollege auf einer eigenen Liste und erhielt 5667 Stimmen. Die gesamte IG Metall-Liste vereinigte 9980 Stimmen. Anzeichen für den sich anbahnenden Konflikt gab es also zur Genüge. Auslösend für den Streik 1973 war, daß etwa 300 Türken wegen ihrer verspäteten Rückkehr aus ihrem Heimatland fristlos entlassen wurden. Da die Produktion nicht gedrosselt werden sollte, nahm die Geschäftsleitung Umbesetzungen vor, die zu einer erheblichen Mehrbelastung an den Bändern führte. Da die Bänder bis zu 90 Prozent mit Türken besetzt sind, traf diese Maßnahme die ohnehin schon unterprivilegierten Kollegen verstärkt. Zum anderen konnten die im Tarifvertrag ausgehandelten Lohnerhöhungen von 8,5 Prozent die Preissteigerungen nicht auffangen. So kam es auch bei Ford zu Forderungen nach Teuerungszulagen. Auf einer Betriebsversammlung eine Woche vor Streikbeginn wurde von einer großen Mehrheit 60 Pfennig die Stunde mehr verlangt. Auf eine detaillierte Darstellung des Streiks, der im Hauptwerk Köln-Niehl vom 24. 8. bis zum 29. 8. 73 andauerte, kommt es hier nicht an.(5) Wichtig ist allerdings das Verhältnis von Belegschaft und betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Bezeichnend dafür ist, daß vor allem die türkischen Kollegen den Betriebsrat überhaupt nicht mehr als Interessenvertretung begreifen konnten, sondern gleich zu Beginn des Streiks im Hauptwerk darauf bestanden, eine nur ihnen gegenüber verantwortliche Streikleitung zu wählen. Der Betriebsrat versuchte hier zu reagieren, indem er die Forderungen der Streikenden aufnahm, sie sogar noch erweiterte, auf der anderen Seite jedoch die Streikleitung mit allen Mitteln kriminalisierte. Mit dieser Taktik und der juristischen Argumentation, daß Aktionen, die über den Rahmen einer »spontanen Arbeitsniederlegung« hinausgehen, rechtswidrig seien, konnte er einen großen Teil der Deutschen verunsichern. Das war vor allem deshalb der Fall, weil der auf den Betriebsrat fixierte Vertrauensleutekörper während des Streiks zu keiner eigenständigen Reaktion fähig war. Das Durchhaltevermögen der türkischen Kollegen hatte vor allem zwei Ursachen. Zum einen war ihre materielle Lage im Betrieb sehr schlecht, in der Endmontage etwa waren sie in den niedrigsten Lohngruppen eingestuft und den härtesten Arbeitsbedingungen ausgesetzt, so daß der Streik für sie fast eine existentielle Notwendigkeit war. Zum anderen personalisierte sich in Baha Targün ihr neu gewonnenes Selbstbewußtsein gegenüber dem Betriebsrat. Hier war zum erstenmal ein Kollege, der ihre spezifischen Probleme aus eigenem Erleben kannte, auf türkisch zu ihnen sprechen konnte und gleichzeitig in der Lage war, ihre Forderungen Betriebsrat und Geschäftsleitung gegenüber zu vertreten. Für den Betriebsrat ist bezeichnend, daß er nach dem erfolglosen Versuch, den Streik abzuwiegeln, zusammen mit der Geschäftsleitung an der gewaltsamen Zerschlagung des Streiks arbeitete. Der Betriebsratsvorsitzende Lück selbst marschierte an der Spitze der sogenannten Gegendemonstration, die die Gewalttätigkeiten auslöste.

Verlauf und Ende des spontanen Streiks bei Ford 1973 stehen in einem engen Verhältnis zu dem Scheitern der betriebsnahen Tarifpolitik in der Schwerpunktaktion Ford. Dabei fällt weniger das Verhalten des Betriebsrates aus dem allgemein üblichen Rahmen als vielmehr die Unfähigkeit der Vertrauensleute. Daß der gesamte Vertrauensleutekörper während des spontanen Streiks nicht einmal tagte, hebt sich vom Verhalten der Vertrauensleute in anderen Streikbetrieben ab. Nach Aussagen von Kollegen begrüßte eine Anzahl von Vertrauensleuten heimlich den spontanen Streik, ihre starke Abhängigkeit vom Betriebsrat hinderte sie aber daran, sich aktiv zu beteiligen. Das »neutrale Verhalten« der Vertrauensleute, ein Ergebnis ihrer Instrumentalisierung, war die wichtigste Ursache für den Rückzug der deutschen Kollegen aus dem Streik und damit für dessen Zerschlagung selbst. Die Ohnmacht und Enttäuschung der türkischen Arbeiter zeigte sich in einer Austrittswelle aus der IG Metall. Auch bei einer Vielzahl deutscher Kollegen ist das Vertrauen in Betriebsrat und Gewerkschaft zerbrochen. Der »Streik der Türken« brachte vor allem für die deutschen Kollegen Vorteile, während die spezifischen Probleme der ausländischen Arbeiter ungelöst blieben. Im Anschluß an den Streik kam es zu einer heftigen innergewerkschaftlichen Auseinandersetzung in Köln, die einstweilen mit der Entlassung von Tolusch aus dem Amt als i. Bevollmächtigter endete. Tolusch, dem die Ursachen des Streiks klar waren und der vermittelnd einzugreifen versuchte, wurde Zusammenarbeit mit »Linksextremen« und »Rädelsführern« vorgeworfen. Seinen größten Feind hatte Tolusch im Betriebsrat der Fordwerke, unterstützt wurde er dagegen von Kollegen aus anderen Betrieben, die ihm auch in einer Delegiertenversammlung das Vertrauen aussprachen. Mit der Entlassung von Tolusch durch den Vorstand der IG Metall steht diese Auseinandersetzung allerdings erst am Anfang. Die tieferliegenden Gründe werden dadurch nicht gelöst.

Anmerkungen

1)  Vgl. M. Osterland u. a., Materialien zur Lebens- und Arbeitssituation der Industriearbeiter in der BRD, Frankfurt 1973, S.

2) Vgl. den Beitrag von O. Jacobi in diesem Band.

3) Zitiert aus »Tatsachen«; dieses Publikationsorgan, herausgegeben von der Ortsverwaltung Köln der IG Metall im Rahmen der Schwerpunktaktion, erschien zunächst unregelmäßig, dann vierzehntägig.

4) Zitiert aus »Tatsachen«.

5) Ausführliche Darstellungen des Streiks bei Ford finden sich in: Der Streik bei Ford, in: Sonderdruck der Zeitschrift »Was tun«, herausgegeben von der GIM. Streik bei Ford-Köln, herausgegeben von der Betriebszelle Ford der Gruppe Arbeiterkampf, Köln 1973.

Editorische Hinweise

Wir entnahmen den Text aus: "Kritisches Jahrbuch `74 - Gewerkschaften und Klassenkampf", Ffm 1974, S. 161-175, OCR-Scan red. trend.