Trotzkis Marxismus

von
Nicolas Krasso

09-2013

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Viele Jahre hindurch war Trotzki ein für Marxisten unmögliches Sujet. Der Kampf innerhalb der bolschewistischen Partei in den 20er Jahren führte zu einer derart heftigen Polarisierung des Trotzki-Bildes in der internationalen Arbeiterbewegung, daß jede rationale Diskussion seiner Person und seiner Werke aussetzte. Der Bannfluch, den Stalin über ihn aussprach, machte seinen Namen für Millionen Kämpfer in der ganzen Welt zum Symbol des Verrats. Jenseits der Scheidelinie hob eine überzeugte und isolierte Minderheit seine Erinnerung in den Himmel, in dem Glauben, sein Denken sei der „Leninismus unserer Zeit". Die normale Diskussion um Trotzki ist noch heute, 30 Jahre nach seinem Tod und ein Jahrzehnt nach dem Tod Stalins, in der kommunistischen Bewegung tabuisiert. Magische Verhaltensweisen ihm gegenüber dauern fort — ein auffälliger Anachronismus in der heutigen Welt. Die eine Ausnahme von dieser Regel ist natürlich die dreibändige Biographie von Isaac Deutscher, selbst nur Teil seines umfassenderen Werkes. Aber gerade die Größe von Deutschers Leistung scheint paradoxerweise andere von einer marxistischen Auseinandersetzung über Trotzkis wahre historische Bedeutung abgeschreckt zu haben. Es ist sicher kein Zufall, daß wir noch keine marxistische Kritik zu Deutschers Werk besitzen, welche sich in der Qualität nur annähernd mit diesem messen ließe. Deutschers Werk ist den heute üblichen Einstellungen soweit voraus, daß es bisher nicht richtig aufgenommen und folglich auch nie in Frage gestellt wurde. Seine Implikationen werden freilich nur durch eine fortschreitende Diskussion verschiedener Aspekte der sowjeti schen. Geschichte aufgedeckt werden — auch wenn diese Diskussion abweichende Meinungen hervorbringt. Dieser Aufsatz will dazu beitragen, sich einem dieser Probleme zu nähern: Wie sollen wir Trotzki als Marxisten beurteilen? Das heißt Trotzki mit Lenin (eher als mit Stalin) vergleichen und das Augenmerk auf die spezifische Einheit seiner theoretischen Schriften und seiner politischen Praxis richten. Von dieser Fragestellung aus gliedert sich Trotzkis Leben in vier deutlich abgrenzbare Perioden: 1879—1917; 1917—1921; 1921—1929 und 1929—1940. Die Hauptthese dieses Aufsatzes lautet: Alle vier Phasen werden am ehesten verständlich im Rahmen eines einzigen Problems und seiner latenten theoretischen Hintergründe — nämlich Trotzkis Verhältnis zur Partei als der revolutionären Organisation des Proletariats. Dieser Brennpunkt — so wird argumentiert werden — beleuchtet alle Grundzüge von Trotzkis politischem Denken und erklärt zugleich die Wechselfälle seiner politischen Laufbahn.

1879—1917: Von „Lenins Keule" zum Gründungsmitglied der Menschewiki

Bis zur Oktoberrevolution war Trotzki nie diszipliniertes Mitglied irgendeiner Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Rußlands, weder Bolschewik noch Menschewik. Diese Tatsache mag teilweise aus den politischen Differenzen zu erklären sein, die Trotzki bei verschiedenen Anlässen mit den Bolschewik! und den Menschewiki hatte. Sie weist jedoch zweifellos auch auf eine tiefergehende theoretische Vorentscheidung hin, die für Trotzkis Handeln in dieser Phase bestimmend war. Eine seiner frühesten überlieferten Schriften war, nach Deutscher, ein in Sibirien geschriebener Aufsatz zur Frage der Parteiorganisation. Hier setzte sich Trotzki für eine rigorose disziplinarische Kontrolle der revolutionären Bewegung durch ein starkes Zentralkomitee ein: „Das Zentralkomitee wird seine Beziehungen mit (der undisziplinierten Organisation) abbrechen und damit jene Organisation von der gesamten Weltrevolution isolieren."(1) Dieser Ansicht entsprach es durchaus, daß Trotzki, nach seiner Flucht aus Rußland im Jahre 1902, anläßlich der Auseinandersetzung zwischen Iskra und den Ökonomisten auf dem III. Parteitag der SDAPR 1903 in Brüssel für ein eisernes Diszipli-narsystem eintrat. Das Parteistatut sollte seiner Meinung nach das „organisierte Mißtrauen der Führung" gegen die Mitglieder ausdrücken, ein Mißtrauen, das sich in der wachsenden, hierarchischen Kontrolle über die Partei kundtut. Der Sinn dieser Formulierung ist merklich verschieden von allem, was in „Was Tun?" zu finden ist. Der Trotzki dieser Phase — wieder zurück aus dem sibirischen Exil und ein Neuling in der nationalen revolutionären Bewegung — war als „Lenins Keule" bekannt; aber ein Vergleich der Schriften beider Männer aus dieser Zeit zeigt, wie wir sehen werden, ganz klar, daß Trotzkis „Proto-Bolschewik"-Phase bloß die äußerlichen und formalen Aspekte der leninschen Theorie der Parteiorganisation reproduzierte — ohne deren soziologischen Inhalt. Was dabei notwendigerweise herauskam, war eine Karikatur von Lenins Theorie, eine militarisierte Befehlshierarchie, die der leninschen Konzeption völlig fremd gewesen war. Da Trotzkis Vorstellungen nicht auf einer organischen Theorie der revolutionären Partei aufgebaut sind, überrascht es denn auch nicht, daß er noch auf demselben Parteitag plötzlich zum anderen Extrem überwechselte, wobei er schließlich Lenin als „Partei-Desorganisator" denunzierte und ihm vorwarf, hinter einem Plan zu stehen, der die SDAPR von einer Organisation der russischen Arbeiterklasse in eine Verschwörerbande verwandeln würde. So wurde aus „Lenins Keule" Ende 1903 ein Gründungsmitglied der Menschewiki. Im April 1904 veröffentlichte Trotzki in Genf „Unsere politischen Aufgaben", einen Aufsatz, den er dem Menschewik Axelrod widmete. In diesem Aufsatz verwarf er die ganze leninsche Theorie der revolutionären Partei und verneinte ausdrücklich Lenins grundlegende These, daß die Theorie des Sozialismus an die Arbeiterklasse von außen herangetragen werden müsse — von einer Partei, die auch die revolutionäre Intelligenz umfaßt. Trotzki verwarf diese Theorie als „Substitutionalismus" und malte ihre Folgen in den düstersten Farben aus: „Lenins Methoden führen zu folgenden Ergebnissen: zuerst tritt die Parteiorganisation (das Wahlkomitee) an die Stelle der ganzen Partei; dann nimmt das Zentralkomitee die Stelle der Organisation ein und schließlich ersetzt ein einziger ,Diktator' das Zentralkomitee..." Er ging so weit, Lenins „bösartiges und moralisch abstoßendes Mißtrauen"(2) anzuprangern.

Partei und Klasse

Sein eigenes Modell einer Sozialdemokratischen Partei entlehnte er der deutschen Partei, was bedeutete, daß die Partei neben der Arbeiterklasse bestehen sollte. Hier erhebt sich aus marxistischer Sicht sofort der Einwand, daß die wahren Probleme einer revolutionären Theorie und das Verhältnis zwischen Partei und Klasse nicht mit Begriffen wie „Substitution" und dem inbegriffenen Gegensatz „Identität" wissenschaftlich gelöst werden können. Partei und Klasse beziehen sich auf verschiedene Ebenen der Gesellschaftsstruktur, ihr Verhältnis ist immer eines der Artikulation. Zwischen ihnen ist Austausch („Substitution") genausowenig möglich wie Identität — sie sind notwendigerweise verschiedene Instanzen eines gegliederten gesellschaftlichen Ganzen, weder vergleichbare noch gleichbedeutende Ausdrücke einer bestimmten Ebene. Die spekulativen Begriffe „Substitution" und „Identität" verhindern von vornherein jedes genaue Verständnis der spezifischen Natur der Praxis gegenüber der revolutionären Partei in und zu der Arbeiterklasse, so wie es von Lenin theoretisch bestimmt worden war. Ihre Verwendung läuft hinaus auf den grundlegenden Fehler, die unvermeidlich autonome Rolle politischer Institutionen im allgemeinen und der revolutionären Partei im besonderen zu begreifen als autonom gegenüber den Massenkräften in einem gesellschaftlichen Ganzen, das letztenendes natürlich durch die Ökonomie determiniert ist.

Diese Unfähigkeit, die Spezifik politischer Organisationen und die Rolle der revolutionären Partei zu begreifen — d. h. das Fehlen einer Theorie der Partei —, erklärt die plötzlichen und willkürlichen Schwankungen, denen Trotzkis Einstellung zur Partei in diesen Jahren unterworfen war. Ihre Bedeutung war bloß psychologisch, Ausdruck eines ambivalenten Schwankens zwischen „autoritären" und „anti-autoritären" Haltungen, was sich auch später wiederholen sollte — von der Frage der Haltung Trotzkis zum Kriegskommunismus bis hin zu seiner Rolle als Gegner der „Bürokratie". Die abstrakte Gegenüberstellung solcher Haltungen weist an sich schon auf eine vormarxistische Problemstellung hin. Sie haben keinen eigenen theoretischen Stellenwert, sie zeigen nur, von dieser Unfähigkeit abgesehen, auf einen Leerraum in Trotzkis Denken. Diese Unfähigkeit war jedoch verbunden mit einem ungewöhnlich intensiven und unmittelbaren Verständnis der gesellschaftlichen Massenkräfte selbst. Ende 1904 trat Trotzki aus der Menschewik-Fraktion aus und ging ein geistiges Bündnis mit Parvus ein, einem russischen Emigranten in der deutschen SPD. Damit wurde die außerordentliche Unbeständigkeit seiner Bindungen zu politischen Gruppierungen rasch bestätigt. Doch war es gerade diese wenig verankerte Position, die paradoxerweise seinen blitzartigen Aufstieg während der Revolution von 1905 ermöglichte — einem spontanen Durchbrach, bei dem es keiner revolutionären Organisation gelingen konnte, rechtzeitig und effektiv die Bewegung in die Hand zu bekommen, bevor sie zerbröckelte und ihre Stärke verlor. Die Revolution überraschte Bolschewiki und Menschewiki gleichermaßen, und ihre Führer kamen mit einiger Verzögerung in Rußland an. Trotzki, der von Anfang an in Petersburg war, stellte sich viel schneller auf die Massenerhebung vom Oktober ein — die ja von keiner politisch führenden Partei beeinflußt war. Er übernahm bald die Führung des Petersburger Sowjet.

Deutscher beobachtete richtig, daß Trotzki gerade mit diesem Erfolg „die Unreife der Bewegung verkörperte". Es war eben diese Unreife, die fünf Monate später die rasche und vollständige Niederlage der Revolution herbeiführte — die Grablegung der Spontaneität in der Geschichte der Bewegung der russischen Arbeiterklasse.

„Ergebnisse und Perspektiven"

Aber diese Erfahrung kristallisierte sich zur ersten und wichtigsten Schrift Trotzkis: „Ergebnisse und Perspektiven", 1909 im Gefängnis geschrieben. Dieses Werk enthält bereits alle Elemente der 1928 in der polemischen Schrift „Die Permanente Revolution" niedergelegten Ansichten — aber es ist noch mehr als das. Es ist ohne Frage eine brilliante Vorformulierung der wichtigsten Klassenmerkmale der Oktoberrevolution von 1917. „Es ist möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land... Unserer Ansicht nach wird die russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann . . . bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten ... Das Proletariat, das sich an der Macht befindet, wird vor die Bauernschaft als die sie befreiende Klasse treten."(3)

Permanente Revolution

Trotzki sagte richtig voraus, daß die Atomisierung der Bauernschaft und die Schwäche der Bourgeoisie in Rußland es dem Proletariat ermöglichen würden, noch als Minderheit die Macht zu ergreifen. Einmal an die Macht gelangt, müßte das Proletariat um jeden Preis die Unterstützung der Bauernschaft gewinnen und wäre so gezwungen, „bürgerliche" Maßnahmen sofort in „sozialistische" zu überführen. Diesen Prozeß nannte er „permanente Revolution" — eine unpassende Bezeichnung, welche den Mangel wissenschaftlicher Präzision sogar seiner tiefsten Gedanken erkennen läßt. Durch die Heraufbeschwörung einer Vorstellung unaufhörlicher Umwälzungen überall und zu allen Zeiten — einer metaphysischen Feier des Aufstandes — begünstigte diese Formulierung Verdrehungen in der Polemik sowohl der Anhänger als auch der Gegner Trotzkis. In Trotzkis eigenem Denken zog die Formel, mit ihrem romantisch-idealistischen Gepräge, schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens unweigerlich bedenkliche Fehler nach sich. Die Formel von der „permanenten Revolution" verwischte vor allem die zwei ganz verschiedenen Probleme des Klassencharakters der kommenden Revolution in Rußland (ununterbrochenes Fortschreiten von demokratischen zu sozialistischen Forderungen) und der Fähigkeit der russischen Revolution, sich international zu behaupten. Denn in diesem Aufsatz behauptete Trotzki wiederholt, die Revolution in Rußland könne unmöglich den konterrevolutionären Angriffen standhalten, wenn sie nicht durch gleichzeitige Revolutionen in Westeuropa Unterstützung bekäme. Die „Logik" dieser Annahme leitet sich aus der konfusen Begrifflichkeit der „permanenten Revolution" ab — einer Formel, die es Trotzki ermöglichte, von dem nationalen Charakter der Revolution in Rußland zu den internationalen Voraussetzungen ihres Überlebens überzugehen, als seien dies Stufen einer Rolltreppe, die sich „permanent" aufwärts bewegt. Das allzu offensichtlich Unzulässige dieses Vorgehens hat Trotzkis Thesen grundlegend geschwächt. Dies beeinträchtigt nicht die Größe seiner Leistung, die darin lag, schon 11 Jahre vor der Oktoberrevolution ihre Natur im wesentlichen vorauszusehen, zu einem Zeitpunkt, da kein anderer russischer Führer die klassischen Voraussagen Plechanows zurückgewiesen hatte. Es rückt diese Leistung lediglich an ihren Platz innerhalb der spezifischen Koordinaten von Trotzkis Marxismus.

Das Fehlen der Partei

„Ergebnisse und Perspektiven" ist ein außerordentlich bedeutender Versuch einer Klassenanalyse. Nicht weniger außerordentlich ist jedoch das Fehlen jeglicher Analyse zur Rolle politischer Organisationen im sozialistischen Kampf. In Trotzkis Szenarium von der künftigen Revolution glänzt die Partei wieder durch ihre völlige Abwesenheit. Wo er die ,Requisiten' des Sozialismus diskutiert (Planwirtschaft, Vorherrschaft der Großbetriebe, Diktatur des Proletariats), erwähnt er an keiner Stelle die Partei oder ihre Rolle. Er attackiert die Blanquisten und Anarchisten, aber meint dann lediglich: „die Sozialdemokratie versteht unter der Eroberung der Macht eine bewußte Aktion der revolutionären Klasse"(4). Ihre Avantgarde ist in Vergessenheit geraten.

Die einzige Diskussion über Parteien in den über hundert Seiten des Aufsatzes ist eine vereinzelte, aber richtige Kritik an den sozialdemokratischen Parteien des Westens — ein durchaus richtiger Kommentar zu diesen Organisationen, dessen Verallgemeinerung aber eine feindliche Einstellung gegenüber der Existenz einer revolutionären Partei überhaupt impliziert.(5) Wenn Trotzki über den politischen Kampf in Rußland schreibt, kommt er niemals auf die Rolle revolutionärer Organisationen zu sprechen — er redet nur von gesellschaftlichen Kräften.

Ein weiterer Kommentar zu diesem vorausweisenden Werk sollte hier noch gegeben werden. Der Aufsatz zeigt ein offensichtlich mangelndes Bewußtsein von der Parteifrage — aber gleichzeitig ein sehr ausgeprägtes Bewußtsein des Staates, als eines bürokratischen und militärischen Apparates. Er enthält eine lange und anschauliche Beschreibung der Rolle des russischen Staates beim Aufbau der modernen russischen Gesellschaft. Trotzki hat nun zwar einen Großteil dieser Analyse von dem liberalen Historiker Miljukow und von seinem Mitarbeiter Parvus übernommen, aber die Beredsamkeit seiner Ausführungen steht in scharfem Gegensatz zu seinem gleichzeitigen Schweigen über die Partei. Diese Polarisierung war nicht zufällig, sie tauchte zu einem späteren Zeitpunkt in einem entscheidenden praktischen Kontext wieder auf. Die unmittelbaren Folgen dieses zentralen Mangels in Trotzkis Denken wurden jedoch bereits nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis deutlich. Von 1907 bis 1914 bestanden Trotzkis politische Anstrengungen in gelegentlichen und erfolglosen Versuchen, die sich gegenseitig bekämpfenden sozialdemokratischen Fraktionen zusammenzubringen. Zu diesem Zweck bildete er schließlich den prinzipienlosen und kurzlebigen Augustblock. An der wichtigen Arbeit des Aufbaus der Bolschewistischen Partei, die in diesen Jahren von Lenin in Angriff genommen wurde, beteiligte er sich überhaupt nicht. Auf diese Weise ist ihm die Erfahrung des Parteilebens, die seine Altersgenossen Stalin, Sinowjew und Bucharin in dieser wichtigen Entwicklungsphase sammelten, entgangen. Wie Deutscher richtig bemerkt, „bilden die Jahre zwischen 1907 und 1914 in seinem Leben einen Abschnitt, der auffällig arm an politischen Leistungen ist ... Unter seinen Schriften . . . befinden sich glänzend geschriebene journalistische Arbeiten und literarische Kritiken, aber nicht eine einzige bemerkenswerte Arbeit über die politische Theorie ... In diesen Jahren schuf freilich Lenin mit Hilfe seiner Anhänger eine Partei, und Männer wie Sinowjew, Kamenew, Bucharin und später Stalin errangen eine Bedeutung, die sie im Jahre 1917 befähigte, innerhalb der Partei führende Rollen zu spielen. Zu der Bedeutung, die Trotzki zwischen 1904—6 errungen hatte, trug die gegenwärtige Periode wenig oder nichts bei."(6)

„Die Intelligenz und der Sozialismus"

Es wäre jedoch falsch zu glauben, Trotzki habe während dieses langen Zeitraums keine wichtigen Schriften hervorgebracht. Er schrieb vor allem einen sehr wichtigen Aufsatz, der die latenten Grundlagen seines politischen Denkens mit besonderer Klarheit beleuchtet: „Die Intelligenz und der Sozialismus", im Jahre 1910' geschrieben. In diesem Aufsatz zeigt Trotzki eine erbitterte Feindschaft gegenüber den Intellektuellen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der sozialistischen Bewegung. Diese Feindseligkeit war ein Reflex seiner Vorstellung von der Intelligenz. Aus Trotzkis Schriften geht hervor, daß er die Intellektuellen in einem gänzlich vor-leninschen Licht gesehen hat — als Individuen bürgerlicher Herkunft, die sich mit „Ideen" oder „Literatur" beschäftigen und ihrem Wesen nach vom Proletariat und dem politischen Kampf getrennt sind. Das Urbild des Intellektuellen ist in seinen Werken immer das des Salonliteraten. Nun ist dieses Bild identisch mit der Vorstellung, die die Bourgeoisie von sich selbst hegt — die ja „Kunst" und „Denken" erst von „weltlichen" Angelegenheiten (wie Ökonomie und Politik) trennt, um dann das Idealbild des Intellektuellen als eines Liebhabers solch ferner, esoterischer Beschäftigungen zu verbreiten. Der vulgäre Anti-Intellektualismus einer ouvrieristischen oder labouristischen Arbeiterklasse ist ferner das genaue Spiegelbild dieser bourgeoisen Vorstellung: der „Intellektuelle" wird zu einer abwertenden Kategorie, gleichbedeutend mit Dilettant, Parasit, Renegat. Dieser Begriffszusammenhang hat mit Marxismus natürlich überhaupt nichts zu tun. Er erklärt jedoch, warum Trotzkis scheinbare Annäherung an Lenins Position in der Parteifrage 1903 so formal und äußerlidi geblieben war. Denn Lenins Theorie der Parteiorganisation, die er in „Was tun?" darlegte, war untrennbar verbunden mit seiner Theorie der Rolle und der Natur der Intellektuellen in einer revolutionären Partei. Diese Theorie lautete im wesentlichen: 1. Intellektuelle bürgerlichen Ursprungs sind beim Aufbau einer revolutionären Partei unentbehrlich — sie sind die einzigen, die der Arbeiterklasse zum Verständnis des wissenschaftlichen Sozialismus verhelfen können; 2. Die Arbeit der revolutionären Partei hebt den Unterschied zwischen „Intellektuellen" und „Arbeitern" in ihren Reihen auf. Diese Theorie Lenins sollte Gramsci bekanntlich in seiner berühmten Analyse der revolutionären Partei als eines „modernen Prinzen" weiterentwickeln — alle Mitglieder werden zu Intellektuellen eines neuen Typs. Im Gegensatz zu dieser komplexen Konzeption bestand Trotzkis Position in einer Übernahme traditioneller Kategorien und der dazugehörigen Vorurteile. Wo er auf die Intellektuellen zu sprechen kam, dachte er an jene esoterischen Literatenkreise in Moskau, die er später in „Literatur und Revolution" attackieren sollte — nie an die neuen Intellektuellen, die als Mitglieder der Bolschewistischen Partei in dieser Partei und durch sie geschaffen würden. Mit einem Wort, er verfügte über keine marxistische Theorie der Intellektuellen und deren Verhältnis zur revolutionären Bewegung, und vertrat daher bloße Meinungen. In seinem Aufsatz aus dem Jahre 1910 erklärte er rundweg, das Wachstum der sozialistischen Bewegung in Europa würde zur Folge haben, daß immer weniger Intellektuelle sich ihr anschließen würden. Dieses Gesetz sollte auch für Studenten gelten: „Während ihrer ganzen Geschichte . . . sind die Studenten Europas lediglich das empfindliche Barometer der bürgerlichen Klasse gewesen."(7)

Im Zentrum seiner Analyse der Beziehung zwischen den Intellektuellen und der Arbeiterklasse steht seine pauschale Ablehnung der ersteren — was das ganze Ausmaß seiner Unfähigkeit, „Was tun?" zu verarbeiten, klar erkennen läßt.(8) Er schreibt: „Wenn die gegenwärtige Eroberung des gesellschaftlichen Apparates vom vorherigen Überlaufen der Intelligenz zur Partei des europäischen Proletariats abhinge, dann wären die Aussichten des Kollektivismus allerdings sehr schlecht."(9) Diese allgemeine Einstellung, einmal klar erkannt, erklärt, warum Trotzkis vorübergehender „Zentralismus" im Jahre 1903 mechanisch und zerbrechlich war. Er war eine Parodie auf den Leninismus — eine militarisierte Mimikry seiner Disziplin ohne den dazugehörigen Inhalt —, eine Umformung der „Arbeiter" und „Intellektuellen" in Revolutionäre durch eine einheitliche politische Praxis. Die einzige Funktion, die Trotzki den Intellektuellen überhaupt zuschrieb, war die des „Substitutionalismus" — und zwar in einem Aufsatz, der speziell die russische Intelligenz behandelt.(10) Dezembristen, Narodniki und Marxisten werden undifferenziert verdammt, als Gruppen, die sich an die Stelle der gesellschaftlichen Klassen setzen, die sie zu vertreten vorgeben — eine „düstere Übersicht" der russischen Geschichte, um mit Deutscher zu reden. Wieder einmal verleitet das Fehlen einer Theorie von den differenzierten Ebenen oder Instanzen der Gesellschaftsstruktur zur Annahme eines horizontalen Austausches von „Intellektuellen" und „Klassen", wobei die eine Gruppe an die Stelle der anderen treten kann. So wird jedes politische Handeln von Intellektuellen notwendig zur Usurpation — und das auf Kosten des Proletariats. Was hier fehlt, ist wiederum die Idee der Partei als einer autonomen politischen Struktur, welche zwei verschiedene Phänomene verbindet und umformt — die Intelligenz und die Arbeiterklasse. Innerhalb dieser Konzeption ist es sinnlos, von „Substitution" zu reden, denn ihre Elemente sind nicht vergleichbar oder austauschbar. Sie sind modifizierbar — durch eine neue politische Praxis, d. i. durch eine revolutionäre Partei.

Trotzkis Geschichte vor 1917 läßt sich also folgendermaßen zusammenfassen. Er war immer ein Freischärler außerhalb der Reihen der organisierten Arbeiterbewegung. Er zeichnete sich durch eine einmalige intuitive Einsicht in den Klassencharakter der vor der russischen Revolution sich sammelnden Kräfte aus. Dies war jedoch gekoppelt mit einer tiefen und zählebigen Unfähigkeit, die Natur und Funktion einer revolutionären Partei zu begreifen — einer Unfähigkeit, die theoretisch und organisatorisch an sein vormarxistisches Konzept gebunden war. Noch 1915 ist in seinen Schriften die Überzeugung klar zu erkennen, die Partei sei ein willkürliches Randphänomen des Klassenkampfes: „Zwischen der Stellung einer Partei und den Interessen der gesellschaftlichen Schicht, auf die sie sich stützt, kann eine gewisse Übereinstimmung fehlen, was sich später in einen grundlegenden Widerspruch verwandeln kann. Das Verhalten einer Partei kann sich unter dem Einfluß der Launen der Massen ändern. Das ist unbestreitbar. Das ist ein Grund mehr, uns in unseren Überlegungen weniger auf solch unstabile und wenig vertrauenerweckenden Dinge wie die Parolen und Praktiken einer Partei zu verlassen und uns mehr auf durchgängige historische Faktoren zu stützen: die gesellschaftliche Struktur einer Nation, die Beziehung zwischen den Klassen und die Tendenzen der Entwicklung."(11) Dieses mangelnde Verständnis der Funktion der leninistischen Partei erklärt Trotzkis Enthaltung während der entscheidenden Phase des Aufbaus der Bolschewistischen Partei ab 1907. Später beschrieb er selber seine Haltung während dieser Phase mit großer Ehrlichkeit und Genauigkeit: „Schließlich hatte ich niemals versucht, auf der Basis der Theorie der permanenten Revolution eine Gruppierung zu scharfen. Meine innerparteiliche Stellung war eine versöhnlichere, und wenn ich in gewissen Augenblicken Gruppierungen anstrebte, so eben auf dieser Basis. Mein Versöhnlertum entstammte einem gewissen Sozialrevolutionären Fatalismus. Ich glaubte, die Logik des Klassenkampfes werde beide Fraktionen zwingen, die gleiche revolutionäre Linie zu verfolgen. Mir war damals der große historische Sinn der Haltung Lenins noch unklar, seiner Politik der unversöhnlichen geistigen Abgrenzung und, wenn nötig, Spaltung zum Zwecke der Vereinigung und Stählung des Rückgrates der wahrhaft proletarischen Partei . . . Fast in allen Fällen, jedenfalls in allen wichtigen Fällen, wo ich mich taktisch oder organisatorisch in Widerspruch zu Lenin gestellt hatte, war das Recht auf seiner Seite."(12)

Wir sind nun in der Lage, die spezifisch theoretische Abweichung in Trotzkis Denken auszumachen. Der Marxismus ist während seiner ganzen Geschichte immer einer Deformation ausgesetzt gewesen, die man Ökonomismus nennt. Ökonomismus ist die Reduzierung sämtlicher Ebenen einer Gesellschaftsformation auf die Bewegung der Wirtschaft, die zu einer idealistischen „Wesenheit" wird, während gesellschaftliche Gruppen, politische Institutionen und kulturelle Produkte zu deren bloßen „Erscheinungen" degradiert werden. Diese Abweichung, mit allen daraus erwachsenden praktisch-politischen Konsequenzen, war in der Zweiten Internationale weit verbreitet. Sie war charakteristisch für die Rechte, die in der Internationale dominierend war. Was dabei viel seltener bemerkt wurde, ist die Tatsache, daß die Linke innerhalb der Internationalen oft eine analoge Abweichung aufwies, die wir der Bequemlichkeit halber Soziologismus nennen möchten. Nicht die Wirtschaft, sondern die Gesellschaftsklassen werden hier aus der komplexen historischen Totalität herausgerissen und in idealistischer Weise zu Demiurgen in jeder beliebigen politischen Situation verselbständigt. Der Klassenkampf wird zur unmittelbaren, inneren „Wahrheit" jeglichen politischen Geschehens, die Massenkräfte werden zu den ausschließlichen historischen Handlungsträgern. Ökonomismus führt seiner Natur nach zur Passivität und Nachtrabpolitik. Soziologismus führt im Gegenteil tendenziell zum Voluntarismus. Luxemburg verkörpert mit ihrer ausdrücklichen Verherrlichung der Spontaneität das logische Extrem dieser Tendenz in der Zweiten Internationale. Trotzki vertritt eine andere Variante dieser Strömung, aber die Grundüberzeugung ist durchaus ähnlich. Die Massenbewegungen werden in seinen Schriften als die beständig dominierenden Kräfte der Gesellschaft dargestellt, ohne daß irgendwelche politischen Organisationen oder Institutionen als notwendige und dauerhafte Ebenen der Gesellschaftsformation eine Vermittlerrolle wahrnehmen. Im Gegensatz dazu ist Lenins Marxismus durch die Idee einer komplexen Totalität gekennzeichnet, in der sämtliche Ebenen — ökonomische, soziale, politische, ideologische — ständig in Bewegung sind, so daß der Ort der Widersprüche zwischen ihnen ständig wechselt. Trotzkis Überbewertung der Massenkräfte in dieser vielschichtigen Totalität war die ursprüngliche Quelle seiner theoretischen Irrtümer, sowohl vor als auch nach der Revolution.

1917—1921: Staatsmann

Der Ausbruch der Februarrevolution veränderte die politischen Verhältnisse innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung in Rußland. Die neue Situation befreite Trotzki mit einem Schlag von seiner Vergangenheit. In wenigen Monaten hatte er seine Menschewik-Genossen verlassen und richtete sich nach den Positionen der Bolschewiki. Nun trat er als ein großer Revolutionär hervor. Dies war die heroische Phase seines Lebens, in der er als Architekt des Oktoberaufstandes und militärischer Befehlshaber im Bürgerkrieg die Vorstellungskraft der ganzen Welt auf sich lenkte. Nicht nur das — er war zugleich der größte Redner der Revolution. Er war Danton und Carnot in einer Person — der große Volkstribun und der große militärische Führer der russischen Revolution. So entsprach Trotzki genau der Vorstellung, die sich die meisten Beobachter im Ausland — ob freundlich oder feindlich gesinnt — von einem Revolutionär machten. Er schien die Kontinuität der französischen und russischen Revolution zu verkörpern. Im Vergleich zu Trotzki war Lenin ein scheinbar prosaischer Mensch -gänzlich anders als die deklamatorischen Helden von 1789. Lenin verkörperte einen neuen Typus des Revolutionärs. Der Unterschied der beiden Männer war grundlegend und lag auch während der Zeit, in der sie so eng zusammenarbeiteten, klar zu Tage, Trotzki hat sich nie ganz in der Bolschewistischen Partei akklimatisiert. Im Juli 1917 wurde er in die Spitze der Parteiorganisation — das Zentralkomitee — katapultiert, ohne jegliche Erfahrung des Lebens oder der Praxis in der Partei. Infolgedessen wurde er innerhalb der Partei immer anders beurteilt als außerhalb ihrer Reihen. Sein internationales Image traf nie mit seiner Einschätzung innerhalb der Partei überein; er wurde immer in bestimmtem Maße als Nachzügler und Eindringling verdächtigt. Es ist bedeutsam, daß sein Genösse und Verbündeter Preobrashenski noch 1928 während einer innerparteilichen Auseinandersetzung von „uns alten Bolschewiki" reden konnte, um seine Position von der Trotzkis abzusetzen. Sicher wurde Trotzki von den Alten Bolschewiki nie ganz als ihresgleichen anerkannt. Diese isolierte Rolle blieb während der Revolution und selbst noch während des Bürgerkriegs bestehen. Trotzki war der Motor des militarisierten bolschewistischen Staates während der Zeit der Mobilisierung. Er war kein Parteimann, noch trug er während dieser Jahre irgendeine Verantwortung für die Erhaltung und Mobilisierung der Parteiorganisation. In der Tat wurde er von vielen Bolschewisten wegen einer Politik kritisiert, die innerhalb der Armee tatsächlich parteifeindlich war. So war Trotzki z. B. entschlossen, die Macht der Berufsoffiziere mit zaristischer Vergangenheit in der Roten Armee zu stärken, und er kämpfte gegen die Errichtung einer politischen Kontrollinstanz aus von der Partei eingesetzten Polit-Kommissaren. Die Auseinandersetzung über diesen Punkt — bei dem Trotzki bereits mit Stalin und Woro-schilow in Konflikt geraten war — war eine Hauptkontroverse des VIII. Parteitages im Jahr 1919. Lenin unterstützte Trotzki, doch das Ressentiment gegen diesen bleibt in den geheimen Anweisungen, die vom Parteitag verabschiedet wurden, spürbar. Mikojans Ausruf während des XII. Parteitags war eine getreue Widerspiegelung der Einschätzung Trotzkis durch den ständigen Parteistab: „Trotzki ist ein Mann des Staates, aber nicht der Partei !"(13)

Dem Talent Trotzkis als militärischer Befehlshaber entspricht audi sein Talent als Volksredner. Beide Fähigkeiten entbehrten gleichermaßen einer spezifisch parteipolitischen Praxis. Ein Organisator innerhalb einer politischen Partei muß Individuen oder Gruppen für seine Politik gewinnen, muß sie, um diese Politik durchzusetzen, von seiner Autorität überzeugen. Das erfordert viel Geduld und die Fähigkeit, sich klug zu verhalten innerhalb eines komplexen politischen Kampfes, dessen Teilnehmer alle gleichermaßen diskussions- und entscheidungsberechtigt sind. Beides unterscheidet sich völlig von den Fähigkeiten eines Volksredners. Trotzkis Begabung für die Kommunikation mit den Massen war außerordentlich. Doch seine Aufrufe an die Menge waren notwendigerweise emotional — eine großartige Übertragung von Dringlichkeit und Militanz. Als Volksredner war sein Verhältnis zu den Massen ganz einseitig; er redete mit vorbestimmtem Ziel auf sie ein, um sie für den Kampf gegen die Konterrevolution zu mobilisieren. Auch seine militärische Begabung war ähnlicher Art. Er gehörte nicht zu den Organisatoren der Partei — denn er hatte keine Erfahrung des tatsächlichen Funktionierens einer Partei und schien sich für solche Fragen auch nicht besonders zu interessieren. Seine große Leistung war es, innerhalb von zwei Jahren buchstäblich aus dem Nichts eine Rote Armee von 5 000 000 Mann auf die Beine zu stellen und sie dann gegen die Weißen Armeen und deren ausländische Verbündete zum Sieg zu führen. Sein Organisationstalent war also wesentlich voluntaristisch. Er besaß von vornherein die Autorität, um die Armee zu organisieren — als Volkskommissar für den Krieg hatte er das ganze Prestige Lenins und des Sowjetstaates hinter sich. Diese Autorität mußte er sich nicht erst in der politischen Arena erkämpfen. Es war eine Autorität des militärischen Befehls und der Macht, absoluten Gehorsam zu erzwingen. So gesehen, ist die Affinität des militärischen Befehlshabers mit dem Volkstribunen durchaus erklärlich. In beiden Fällen war Trotzkis Rolle ausdrücklich voluntaristisch. Als Volksredner mußte er die Menge für genau festgelegte Zwecke emotional gewinnen; als Stütze des Sowjetstaates mußte er seine Untergebenen zu genau festgelegten Zwecken kommandieren. Seine Aufgabe war es in beiden Fällen, die Mittel für einen bestimmten Zweck zu sichern — eine Aufgabe, die sich klar untersdieidet von der Anstrengung, unter zahlreichen konkurrierenden Meinungen einer politischen Organisation einem neuartigen Zweck zum Durchbruch zu verhelfen. Der Voluntarist ist in seinem Element, wenn er Massen anspricht oder Truppen verabschiedet — doch diese Funktionen dürfen nicht verwechselt werden mit der Fähigkeit, eine revolutionäre Partei zu führen.

Von militärischen zu ökonomischen Problemen

1921 war der Bürgerkrieg gewonnen. Mit dem Sieg mußte die Bolschewistische Partei sich neu orientieren, sich weniger auf militärische, mehr auf ökonomische Probleme konzentrieren. Wiederaufbau und Reorganisierung der Sowjetökonomie waren nun ihre primären strategischen Ziele. Trotzkis Anpassung an diese neue Situation läßt das vereinheitlichende Prinzip seiner gesamten politischen Praxis in dieser Phase erkennen: er befürwortete einfach die Übertragung militärischer Lösungen auf ökonomische Probleme, wobei er einen intensiveren Kriegskommunismus und die Einführung der Zwangsarbeit verlangte. Diese bemerkenswerte Episode war keine bloße beiläufige Verirrung in seiner Laufbahn, sondern hatte tiefgreifende theoretische und praktische Ursachen in seiner Vergangenheit. Seine Rolle als Volkskommissar im Krieg disponierte ihn zu einer ökonomischen Politik, die als einfache militärische Mobilisierung konzipiert war: er verlängerte lediglich seine früher geübte Praxis. Aber seine Neigung zur „Befehls"-Lösung läßt zweifellos auch auf sein mangelndes Verständnis der spezifischen Rolle der Partei schließen, auf seine beharrliche Tendenz, politische Lösungen auf der Ebene des Staates zu suchen. Seine Losung bei der Gewerkschaftsdiskussion von 1921 lautete ausdrücklich: „Verstaatlichung" der Gewerkschaften. Trotzki redete auch einer kompetenten, fest verankerten Bürokratie mit einigen materiellen Privilegien das Wort: Stalin sollte ihn dafür später eine „Koryphäe der Bürokraten" nennen.

Hinzu kommt, daß Trotzki die Zwangsarbeit nicht als eine von der politischen Lage erzwungene, bedauerliche Notwendigkeit, als temporäres Ergebnis einer Notsituation rechtfertigte. Er • versuchte sie vielmehr sub specie aeternitatis zu legitimieren, mit der Erklärung, daß allen Gesellschaften die Arbeit auferzwungen sei — nur die Formen dieses Zwanges änderten sich. Diese offene Parteinahme für die Zwangsherrschaft wurde verbunden mit einem mystifizierten Lob sozialistischer Hingabe — Arbeitsbrigaden wurden angehalten, während der Arbeit sozialistische Hymnen zu singen. „Entfaltet eine unermüdliche Energie bei Eurer Arbeit, als ob Ihr marschiert oder in der Schlacht kämpft ... Ein Deserteur der Arbeit ist genauso verächtlich und verabscheuenswert wie ein Deserteur auf dem Schlachtfeld. Strenge Bestrafung für beide! .. . Beginnt und beendet Euere Arbeit, wo immer möglich zum Klang sozialistischer Hymnen und Lieder. Euere Arbeit ist keine Sklavenarbeit, sondern ein hoher Dienst für das sozialistische Vaterland."(14)

Diese widersprüchliche Mischung wurde natürlich zusammengehalten durch den Voluntarismus, der beide Ideen charakterisiert: Wirtschaft als Zwangsherrschaft oder mystischer Dienst. Anfänglich konnte Trotzki für seine Pläne, die Arbeit zu militarisieren, Lenins Unterstützung gewinnen. Doch nach der großen Debatte über die Gewerkschaften 1921 und nach Beendigung des polnischen Krieges hat Lenin Trotzkis Vorschlag, die Gewerkschaften im großen Maßstab von ihrer gewählten Führung zu säubern, aufs entschiedenste zurückgewiesen. Das Zentralkomitee der Partei denunzierte öffentlich „militarisierte und bürokratische" Arbeitsformen. Trotzkis Politik wurde also inmitten einer allgemeinen Empörung über den Ideologen des Kriegskommunismus von den Bolschewiken abgelehnt. Der Ausgang der ökonomischen Debatte markierte den Abstand zwischen Lenins Idee einer streng disziplinierten Partei und Trotzkis Parteinahme für einen militärisch organisierten Staat.

1921—1929: Oppositioneller

Der innerparteiliche Kampf der zwanziger Jahre war offensichtlich die wichtigste Phase in Trotzkis Leben. Innerhalb weniger Jahre geschahen Dinge, die den Lauf der Weltgeschichte jahrzehntelang bestimmen sollten. Die Entscheidungen wurden von einigen wenigen Menschen getroffen. Was war Trotzkis Rolle in den schicksalhaften 20er Jahren?

Der Kampf um die Vorherrschaft innerhalb der Bolschewistischen Partei muß bis zu einem gewissen Punkt von den politischen Fragen, die den Kampf auslösten, getrennt betrachtet werden. Denn häufig ging es beim Kampf innerhalb der Partei um die Ausübung der Macht an sich — natürlich innerhalb ideologischer Auseinandersetzungen zwischen den streitenden Gruppen. Es wird sich in der Tat zeigen, daß eine allzu ideologische Interpretation der innerparteilichen Situation einer der schwersten theoretischen und politischen Fehler Trotzkis war. Es bietet sich daher an, bei der Betrachtung der 20er Jahre zwei getrennte Ebenen zu untersuchen: zunächst den politisch-takti-schen Kampf selbst; dann die ideologisch-strategische Debatte über die Bestimmung der Revolution.

Der politisch-taktische Kampf

Trotzki stand ab 1921 isoliert in der Spitze der Bolschewistischen Partei. Es muß betont werden, daß der Kampf gegen Trotzki mit dem Widerstand der gesamten Alten Garde der Bolschewik! begann, angesichts der Möglichkeit, Trotzki könne der Nachfolger Lenins werden. Diese Tatsache erklärt die Einmütigkeit, mit der alle anderen Führer im Politbüro — Sinowjew, Kamenew, Stalin, Kalinin und Tomski — bereits zu Lenins Lebzeiten Trotzki bekämpften. Es hatte den Anschein, als sei Trotzki nach Lenin der hervorragendste revolutionäre Führer — aber er war kein langjähriges Mitglied der Partei und wurde in ihren Reihen mit viel Mißtrauen betrachtet. Seine militärische Bedeutung und seine Rolle bei der Gewerkschaftsdebatte warfen den Schatten eines potentiellen Bonapartismus über die politische Landschaft. Lenin selbst zeigte kein besonderes Vertrauen zu ihm. Das war die Situation, die es Stalin 1923, im letzten Lebensjahr Lenins, erlaubte, die Kontrolle über die Parteimaschinerie und damit die politische Macht in der UdSSR zu erlangen.

Trotzki hat offensichtlich nicht gesehen, was in diesen Jahren vor sich ging. Er hielt Sinowjew und Kamenew für wichtiger als Stalin, und er übersah die Wichtigkeit der neuen Funktion des Generalsekretärs. Man vergleiche nur diesen erstaunlichen Mangel an Einsicht mit der Hellsichtigkeit Lenins, dem trotz seiner Krankheit der Lauf der Dinge klar vor Augen stand. Im Dezember 1922 entwarf er seine Notizen über die Nationalitäten, in denen er Stalin und Dserschinski wegen ihrer Unterdrückung Georgiens mit beispielloser Heftigkeit angriff. Diese Notizen sandte Lenin an Trotzki mit der ausdrücklichen Weisung, die Sache im ZK durch einen entschiedenen Beschluß zu forcieren. Trotzki ignorierte diese Bitte; er meinte, Lenin habe die Angelegenheit überbewertet. Einen Monat später schrieb Lenin sein berühmtes „Testament", aus dem ganz klar hervorgeht, daß er die Bedeutung des Aufstiegs Stalins erkannt hatte und eine mögliche Spaltung der Partei zwischen den „beiden begabtesten Mitgliedern" des ZK — Trotzki und Stalin — voraussah. Trotzki selbst entging dies alles. Als Lenin ein Jahr später starb, setzte er sich für die Veröffentlichung des Testaments nicht ein. Die Gründe für diese Haltung sind unklar. Freilich war das Testament für die gesamte Führung der Bolschewistischen Partei wenig schmeichelhaft. Stalin wurde scharf kritisiert, Trotzki wurde nicht gerade respektvoll behandelt („bürokratische Methoden"); Bucharin kam nicht besser weg („kein Verständnis der Dialektik"). Niemand im Politbüro hatte einen zwingenden Grund, dieses düstere Dokument mit seiner Vorahnung künftiger Katastrophen zu veröffentlichen. Lenin, Architekt und Führer der Bolschewistischen Partei, war also mit ihrer Entwicklung innigst vertraut; ein Jahr vor seinem Tod zeigte er sein tiefes Verständnis der innerparteilichen Situation. Dagegen war Trotzki, im Parteileben wenig erfahren und ohne Einsicht in die spezifische Natur der Partei, ahnungslos.

Nach Lenins Tod fand sich Trotzki allein im Politbüro. Er machte von nun an einen Fehler nach dem anderen. Von 1923 bis 1925 konzentrierte er seine Angriffe auf Sinowjew und Kamenew. Durch seine Hervorhebung ihrer Rolle im Oktober 1917 half er Stalin, sie später zu isolieren. Dann hielt er Bucharin für seinen Hauptfeind und setzte seine ganze Kraft gegen diesen ein. Noch im Jahre 1927 erwog er ein Bündnis mit Stalin gegen Bucharin. Dabei ist ihm völlig entgangen, daß Stalin entschlossen war, ihn aus der Partei auszuschließen, und daß dies nur durch einen Block des linken und rechten Flügels gegen die Mitte verhindert werden konnte. Bucharin erkannte dies 1927 und sagte zu Kamenew: „Unsere Meinungsverschiedenheiten mit Stalin sind weit, weit ernster als jene, die wir mit Ihnen hatten."(15) In Wirklichkeit hatte Stalin die Partei bereits 1923 organisatorisch in seinem Griff. Vieles, was sich innerhalb der Partei abspielte, war daher nur Schattenboxen. Nur eines hätte Stalin noch schlagen können: ein Bündnis der anderen Alten Bolschewiki gegen ihn. Sinowjew, Kamenew und Bucharin sahen dies zu spät ein. Trotzki, seinerseits, wurde durch den theoretischen Charakter seines Marxismus daran gehindert, die wahre Situation jemals zu begreifen. Er scheiterte an seiner konstanten Unterbewertung der autonomen Macht politischer Institutionen und an seiner Tendenz, diese verkürzt auf die Massenkräfte zurückzuführen, die angeblich ihre „gesellschaftliche Basis" bildeten. Während der ganzen Dauer der innerparteilichen Kämpfe interpretierte Trotzki die politischen Positionen, die von einzelnen Teilnehmern vertreten wurden, als bloße sichtbare Zeichen irgendwelcher verborgener soziologischer Trends in der sowjetischen Gesellschaft. So wurden in Trotzkis Schriften Rechts, Mitte und Links zu idealistischen Kategorien, die von der Politik selbst — dem konkreten Kampfplatz von Mächten und Institutionen — weit entfernt waren. Trotz Lenins Warnungen über die Wichtigkeit der Person Stalins und die alarmierende politische Macht, die dieser akkumulierte, fuhr Trotzki fort, Kamenew und Sinowjew als seine Hauptgegner in der Partei zu betrachten — denn diese waren die Ideologen des Triumvirats und redeten die konventionelle Sprache der Ideen. Die ständige Korrelation von Ideen und gesellschaftlichen Kräften — ohne jede vermittelnde Theorie der politischen Ebene — führte Trotzki zu katastrophalen praktischen Fehlern bei der Führung seines eigenen politischen Kampfes.

Ein besonders auffälliges Beispiel ist eine Veröffentlichung der Artikelreihe „Der neue Kurs" (1923). Ausdrücklich erklärt er: „Die verschiedenen Bedürfnisse der Arbeiterklasse, der Bauern, des Staatsapparates und seiner Mitglieder wirken sich auf unsere Partei aus, durch sie finden sie ihren politischen Ausdruck. Die Schwierigkeiten und Widersprüche in unserer Epoche, die zeitweilige Uneinigkeit zwischen verschiedenen Schichten des Proletariats oder zwischen dem ganzen Proletariat und den Bauern, all das wirkt sich in unserer Partei über die Zellen der Arbeiter und Bauern, den Staatsapparat und die studentische Jugend aus. Sogar episodische Differenzen nuancierter Ansichten können Ausdruck des entfernten Druckes bestimmter Klasseninteressen sein."(16)

Hier ist die Kehrseite der Idee des „Substitutionalismus" erkennbar — die Annahme einer möglichen „Identität" zwischen Parteien und Klassen. Die Anwendung dieses Begriffspaares mußte notwendigerweise die einfache Tatsache verschleiern, daß die Beziehung zwischen Partei und Klasse sich nie auf einen dieser beiden Pole zurückführen läßt. Einerseits ist die Partei immer „Substitut" für eine Klasse, insofern sie nicht damit identisch sein kann — damit wäre die Partei ja überflüssig —, und doch handelt sie im Namen dieser Klasse. Andererseits ist sie es niemals, denn sie kann die objektive Natur des Proletariats und die globale Relation der Klassenkräfte nicht aufheben, welche auch dann noch weiterbestehen, wenn das Proletariat zerstreut und geschwächt ist — wie nach dem Bürgerkrieg — oder wenn die Partei gegen die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse handelt — z. B. zur Zeit der Neuen ökonomischen Politik. Die Beziehungen zwischen Partei und Klasse bilden ein breites Spektrum komplexer und veränderbarer Möglichkeiten, welche durch bipolare Beschreibungen nicht erfaßt werden. Es ist also augenfällig, daß Trotzkis Idee des „Substitutionalismus" ihn nicht zu einer richtigen Führung des innerparteilichen Kampfes befähigte — gerade in einer Phase, in der die relative Wichtigkeit des politischen Apparats, d. h. der Partei, gegenüber den Massenbewegungen ungeheuer gewachsen war (ohne diese jedoch abzuschaffen). Ungeachtet seines polemischen Ansatzes erkannte er als letzter, wie die Dinge wirklich standen. Da der implizite Gegensatz zum „Substitutionalismus" — die „Identität" — für ihn die positive Norm darstellte, wurde er sogar jedesmal, wenn er in dieser Phase das Verhältnis zwischen Klasse und Partei beurteilen wollte, zu entscheidenden politischen Fehlern verleitet. „Der neue Kurs" bietet selbst ein besonders einleuchtendes Beispiel dafür. Das obengenannte soziologistische Credo wird hier von einem unüberhörbaren Ruf begleitet, die Zusammensetzung der Partei zu proletarisieren, sie durch einen Zustrom der Jugend zu verjüngen. Dieses Zurückgreifen auf soziologische, ihrem Wesen nach idealistische Kategorien, hatte eine ironische Konsequenz: genau diese von Trotzki verfochtene Politik, die die Partei erneuern und entbürokratisieren sollte, wurde von Stalin verwirklicht — mit genau entgegengesetztem Resultat. Das „Lenin-Aufgebot" des Jahres 1924 hat Stalin endgültig die Kontrolle über die Partei gesichert, indem es die erfahrenen bolschewistischen Kader mit einer riesigen Masse politisch ungebildeter und manipulierbarer Arbeiter überflutete. Die Vorstellung, man könne gesellschaftliche Kräfte unmittelbar in politische Organisationen überführen, war natürlich innerhalb der leninistischen Parteikonzeption undenkbar. Aber Trotzki hat während dieser ganzen Zeit nie davon ablassen wollen. 1925 blieb er bei der Spaltung der Troika unbeteiligt — er sah in dem Kampf zwischen Stalin und Sinowjew nur eine vulgäre Streiterei, bei der kein Prinzip auf dem Spiel stände. Während Sinowjew und Stalin mittels der jeweiligen Parteiapparate in Leningard und Moskau sich wüste Attacken lieferten, schrieb er sarkastisch an Kamenew: „Wo ist die gesellschaftliche Basis dafür, daß sich zwei Arbeiterorganisationen mit Schmähungen überhäufen?" Die Politik der Enthaltung, die sich in dieser Äußerung offenbart, war natürlich selbstmörderisch. Trotzki kämpfte überhaupt nicht auf der politischen Ebene — im Gegensatz etwa zu Sinowjew. Seine gesamte theoretische Ausbildung hatte ihn nicht dazu befähigt. Sein Verhalten bei den innerparteilichen Kämpfen schwankte zwischen aggressiver Großhuberei (ein großer daffke im jüdischen Sinn) und einer abgründigen Passivität (die einzige Rettung Rußlands sei die Möglichkeit ausländischer Revolutionen).(17) Diese Elemente hat er nie zu einer politisch-taktischen Einheit schmieden können. Das Ergebnis war, daß er Stalin ständig in die Hände spielte. Er stellte eine Bedrohung dar, die jeder festen institutionellen oder politischen Grundlage entbehrte, zugleich aber die ganze Skala öffentlicher Gesten ausspielte. Das war genau das, was der Apparat und dessen hervorragendster Repräsentant Stalin brauchten, um die Partei in eine autoritäre und bürokratische Maschine zu verwandeln. Ja, man könnte fast sagen, wenn es Trotzki nicht gegeben hätte, hätte ihn Stalin erfinden müssen (und in einem gewissen Sinn hat Stalin ihn auch erfunden).

Der ideologische und strategische Kampf

Soweit der politisch-taktische Kampf innerhalb der Bolschewistischen Partei. Nun müssen wir uns der Frage zuwenden, inwieweit die großen ideologischen Auseinandersetzungen über die strategischen Möglichkeiten, die vor der Revolution bestanden, von eben dieser theoretischen Konstellation in Trotz-kis Denken geprägt waren. Es wird sich zeigen, daß die Ähnlichkeit in der Tat sehr groß ist. Das wird offensichtlich in den beiden wichtigsten Auseinandersetzungen dieser Jahre.

Sozialismus in einem Land oder permanente Revolution

Diese Frage beherrschte die ideologischen Auseinandersetzungen der 20er Jahre. Lenin hatte in der Zeit von Brest-Litowsk eine zweifellos richtige Position eingenommen. Er erklärte, die Bolschewiki müßten statt falscher Gewißheiten immer verschiedene Möglichkeiten im Auge behalten. Es war naiv, auf westliche Revolutionen zu spekulieren. Die bolschewistische Strategie solle sich nicht auf mögliche europäische Revolutionen gründen, noch dürfen sie außer acht gelassen werden. Nach Lenins Tod zerfiel jedoch diese dialektische Position innerhalb der Partei in ihre polaren Gegensätze. Stalin hat die Möglichkeit internationaler Revolutionen praktisch abgeschrieben und den Aufbau des Sozialismus in einem Land zur ausschließlichen — sowohl notwendigen als auch möglichen — Aufgabe der Bolschewistischen Partei erklärt. Trotzki behauptete, daß die Oktoberrevolution ohne die Unterstützung durch internationale Revolutionen dem Untergang geweiht sei und sagte diese Revolutionen als sicher voraus. In beiden Fällen ist die Verfälschung der Position Lenins offenkundig. Es läßt sich argumentieren, Stalin habe durch seine Nichtbeachtung der Möglichkeit erfolgreicher europäischer Revolutionen in der Tat zu deren Niederlage beigetragen — dieser Vorwurf ist vor allem in Bezug auf seine Politik gegenüber Deutschland und Spanien gemacht worden. Tatsächlich ähnelte seine Politik des Sozialismus in einem Land jenen Prophe-zeihungen, die sich selbst erfüllen. Wenn wir jedoch dieser Kritik stattgeben — die darin besteht, daß Stalins Politik eine Verschlechterung der leninschen Strategie darstellt —, so müssen wir doch die unzweifelhafte Überlegenheit der Perspektive Stalins gegenüber der Trotzkis erkennen. Sie bestimmte den ganzen historischen und praktischen Kontext, in dem die oben beschriebenen Machtkämpfe stattfanden. Gleichgültig, wie stark Stalins Position im Machtapparat gewesen sein mag — sie hätte ihm wenig genützt, wenn seine strategische Hauptlinie sich durch den Verlauf der politischen Ereignisse als falsch erwiesen hätte. Aber die Geschichte hat sie vielmehr bestätigt. Hierin lag der tiefste Grund für die unerschütterliche Machtstellung Stalins in den 20er Jahren.

Trotzkis Vorstellung

Was war dagegen Trotzkis strategische Konzeption? Was meinte er mit der „permanenten Revolution"? Die Schrift aus dem Jahr 1928, die diesen Titel trägt, enthält drei ganz verschiedene Bestimmungen der Formel: „Permanente Revolution" bedeutet 1. die unmittelbare Kontinuität zwischen den demokratischen und sozialistischen Stadien der Revolution in einem Land; 2. die ständige Umformung der siegreichen sozialistischen Revolution; 3. die unvermeidliche Verkettung des Schicksals der Revolution in einem Land mit dem Schicksal der Weltrevolution. Die erste Bestimmung war eine Verallgemeinerung seiner oben dargestellten Sicht der Oktoberrevolution, die nun zum Gesetz erhoben wird, das für alle kolonialisierten Länder gilt. Die zweite war banal und unbestritten — niemand leugnete, der Sowjetstaat würde ständigen Veränderungen unterworfen sein. Entscheidend ist jedoch die dritte Bestimmung, die behauptet, das Überleben der Sowjetrevolution sei vom Sieg ausländischer Revolutionen abhängig. Die Argumente, die Trotzki zur Stützung dieser Behauptung anführt — die Grundlage seiner ganzen politischen Linie — sind erstaunlich schwach. Tatsächlich nennt er nur zwei Gründe, warum der Sozialismus in einem Land nicht möglich sei. Beide sind äußerst verschwommen. Der erste scheint zu sein, daß Rußlands An-schluß an die Weltwirtschaft es einer kapitalistischen Wirtschaftsblockade oder Subversion hilflos ausliefern würde. Die „harten Zügel des Weltmarkts" werden beschworen, ohne deren genaue Wirkung auf den entstehenden Sowjetstaat auch nur ansatzweise zu beschreiben.(18) Trotzkis Argument scheint zweitens zu sein, daß die UdSSR militärisch nicht verteidigt werden könne und bei einer auswärtigen Invasion zusammenbrechen müsse, wenn ihr nicht europäische Revolutionen zu Hilfe kämen. Es ist ganz offensichtlich, daß keines dieser Argumente zu diesem Zeitpunkt gerechtfertig war und daß beide tatsächlich durch spätere Ereignisse widerlegt wurden. Der sowjetische Außenhandel war ein Motor der ökonomischen Entwicklung, keineswegs der Regression und Kapitulation -ein fortschrittlicher Faktor bei der raschen Akkumulation der 20er und 30er Jahre. Die Weltbourgeoisie hat auch keineswegs mit vereinten Kräften auf die Sowjetunion eingeschlagen oder supranationale Armeen nach Moskau marschieren lassen. Im Gegenteil, die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Mächten waren so stark, daß sie den imperialistischen Angriff auf die UdSSR auf zwanzig Jahre nach dem Bürgerkrieg hinauszögerten. Als Deutschland schließlich in Rußland einmarschierte, konnte der durch Stalin industrialisierte und bewaffnete und durch bürgerliche Alliierte unterstützte Sowjetstaat den Angreifer im Triumph zurückschlagen.(19) Es gab also keine Grundlage für Trotzkis These, daß der Sozialismus in einem Land der Vernichtung preisgegeben wäre.

Theoretischer Irrtum

An dieser Stelle ist es wichtig, den theoretischen Irrtum hervorzuheben, der hinter der Idee der permanenten Revolution steckt. Wiederum ist Trotzki von einem Schema (verselbständigter) gesellschaftlicher Massenkräfte in einem Land ausgegangen — Bourgeoisie gegen Proletariat und arme Bauernschaft —, um dann diese Formel in einer direkten Übertragung auf den Weltmaßstab zu verallgemeinern — „internationale" Bourgeoisie gegen „internationales" Proletariat. Dieser ungeheure Sprung wird von der bloßen Formel der „permanenten Revolution" gedeckt, die freilich die politische Institution der Nation und somit die gesamte formale Struktur der internationalen Beziehungen und Systeme auch übersprang. Eine „pure" politische Institution — obendrein noch eine bürgerliche — löste sich wie ein Irrlicht auf vor dem monumentalen, durch unausweichliche soziologische Gesetze diktierten Zusammenstoß der Klassen. Trotzkis Weigerung, die Autonomie der politischen Ebene zu respektieren, die zum früheren Zeitpunkt die idealistische Vorstellung einer Klassenbewegung ohne jegliche Parteiorganisation hervorgebracht hatte, brachte nun eine globale Gleichschaltung hervor — eine Art planetarische Gesellschaftsstruktur, die über allen Erscheinungen jedes konkreten internationalen Systems schwebte. Die vermittelnde Ebene — Partei oder Nation — wird in beiden Fällen einfach weggelassen.

Dieser Idealismus hat mit Marxismus absolut nichts zu tun. Die Idee der „permanenten Revolution" hatte keinen wirklichen Inhalt, sie war ein ideologischer Begriff, der dazu diente, verschiedene disparate Probleme unter einen Hut zu bringen -was freilich durch den Verzicht auf eine genaue Wiedergabe der Probleme im einzelnen erkauft wurde. Die Erwartung, daß in Europa erfolgreiche Revolutionen vor der Tür ständen, war die voluntaristische Konsequenz aus diesem Monismus. Trotzki verstand die grundlegenden Unterschiede zwischen den Gesellschaftsstrukturen Rußlands und Westeuropas nicht. Für ihn war der Kapitalismus eins und unteilbar, war der Fahrplan der Revolution eins und unteilbar, ob östlich oder westlich der Weichsel. Dieser formale Internationalismus (der an Luxemburg erinnert) negierte de facto die konkreten internationalen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern.(20) Stalins instinktives Mißtrauen gegenüber dem westeuropäischen Proletariat, sein Vertrauen auf den russischen Partikularismus, zeigten ein richtigeres — wenn auch enges und unkritisches — Bewußtsein des zersplitterten Europas in den 20er Jahren. Die Ereignisse sollten seinem Glauben an die fortdauernde Wichtigkeit der Nation, als der abgrenzenden Einheit der Gesellschaftsformen untereinander, Recht geben.(21) Politische Zeitpläne konnten im Europa des Versailler Vertrags nicht einfach über die nationalen Grenzen hinweg ausgetauscht werden. Die Geschichte lief in Paris, Rom, London oder Moskau nach einem anderen Zeitplan ab.

Kollektivierung und Industrialisierung

Die zweite — und weniger wichtige — strittige Frage, die die ideologischen Auseinandersetzungen der 20er Jahre beherrschte, betraf die ökonomische Politik Rußlands. Hier entzündete sich die Debatte vor allem an der Agrarpolitik. Lenin hatte eine allgemeine strategische Linie für den Agrarsektor in der Sowjetunion festgelegt. Er hielt die Kollektivierung für auf die Dauer unvermeidlich, meinte allerdings, daß sie nur dann sinnvoll wäre, wenn sie mit der Produktion von modernen landwirtschaftlichen Geräten und mit einer Kulturrevolution auf dem Lande Hand in Hand ginge. Er hielt ökonomischen Wettbewerb zwischen dem kollektivierten und dem privaten Sektor für notwendig, nicht nur, um die Bauern nicht vor den Kopf zu stoßen, sondern auch, um die Leistungsfähigkeit der kollektivierten Landwirtschaft sicherzustellen. Er befürwortete Experimente mit verschiedenen Formen der kollektivierten Landwirtschaft. Diese Modellprojekte waren natürlich die absolute Antithese der stalinistischen Kollektivierung — bei der für die Kollektivierung bestimmter Provinzen feste Termine erlassen wurden und der „sozialistische Wettkampf" um die Planerfüllung unter den Parteiorganisationen der verschiedenen Gebiete vom Zaun gebrochen wurde. Wiederum zerfiel jedoch nach Lenins Tod die dialektische Strategie in ihre polaren Gegensätze. Bucharin trat für eine ultra-rechte Politik der privaten Bereicherung der Bauern auf Kosten der Städte ein: „Wir werden mit winzigen Schritten vorangehen und unseren großen Bauernkarren nach uns ziehen." Preobraschenski plädierte für die Ausbeutung (im technisch-ökonomischen Sinn) der Bauern, um einen Uberschuß für eine rasche Industrialisierung zu akkumulieren.

Die heftige Gegensätzlichkeit dieser Formeln täuschte über ihre notwendige gegenseitige Ergänzung hinweg, welche Lenins Politik gerade hätte verbürgen sollen. Denn je ärmer die Bauernschaft war, desto weniger Uberschuß hatte sie nach der eigenen notwendigen Konsumption, desto weniger „ausbeutbar" war sie für die Industrialisierung. Bucharins Konzilianz gegenüber den Bauern und Preobraschenskis Aufstellung eines Interessengegensatzes zwischen Bauern und Proletariern waren Verfälschungen von Lenins Politik, die gerade darin bestand, die Bauernschaft zu kollektivieren, ohne sie zu erdrücken oder zu bekämpfen. Beide Protagonisten vertraten einen vulgären Marxismus, der bei einem großen Teil der Alten Garde die Regel war. Preobraschenski bestand darauf, daß die ursprüngliche sozialistische Akkumulation ein eisernes, unausweichliches „Gesetz" der Sowjetgesellschaft sei. Er warf Bucharin „Luka-cismus" vor, als dieser behauptete, die ökonomische Politik der UdSSR sei dem politischen Entscheidungsprozeß übergeordnet. Bucharin, seinerseits, behauptete um diese Zeit in seiner „Einführung in den historischen Materialismus", daß der Marxismus sich mit der Naturwissenschaft vergleichen ließe, die es ermögliche, künftige Ereignisse mit der Genauigkeit der Physik vorauszusagen. Die enorme Distanz zwischen derartigen Formulierungen und dem leninschen Marxismus ist offensichtlich. (Lenin war allerdings der einzige führende Bolschewik, der — in der Schweiz während des Kriegs — vom Standpunkt des Kapitals Hegel, Feuerbach und den jungen Marx studiert hatte.)

Trotz des Zerfalls des Leninismus gibt es keinen Zweifel, daß — wie bei der Auseinandersetzung um den Sozialismus in einem Land — auch hier eine Position der anderen vorzuziehen ist. Hier waren es Preobaschenski und Trotzki, die Recht behielten mit ihrer Betonung der Notwendigkeit, die gesellschaftlichen Unterschiede auf dem Lande einzudämmen und den Agrarüberschuß unter die Kontrolle des Sowjets zu bringen. Die Erfordernisse einer raschen Industrialisierung wurden von Trotzki und Preobraschenski viel klarer und viel früher gesehen, als von anderen Parteimitgliedern. Das war ihr großes historisches Verdienst in diesen Jahren. Trotzkis Forderung nach planmäßiger Industrialisierung und ursprünglicher sozialistischer Akkumulation datierte bereits vom XII. Parteitag 1923. Die kühne Voraussicht seiner Position kontrastiert mit Bucharins Anpassung an reaktionäre ökonomische Tendenzen und zugleich mit Stalins jahrelangem Zögern. Die nachfolgenden Entwicklungen in der Sowjetunion sollten die relative Richtigkeit der damals von ihm befürworteten Politik bestätigen. Wie verhält sich nun dieses Verdienst in der ökonomischen Debatte zu seinen Fehlern in der Debatte über den Sozialismus in einem Land? Stehen sie nur zufällig nebeneinander? Die Antwort scheint darin zu liegen, daß die Debatte über den Sozialismus in einem Land die internationalen politischen Auswirkungen der Revolution betraf, während es bei der ökonomischen Debatte um die administrativen Handlungsmöglichkeiten des Sowjetstaates ging. Hier konnte Trotzki die große administrative Begabung, die schon Lenin bemerkt hatte, und seine oben diskutierte besondere Sensibilität gegenüber dem Staat zur Anwendung bringen. Seine Hellsichtigkeit bei der ökonomischen Auseinandersetzung entsprach durchaus dem Gepräge seines Marxismus. Ihm war die wirtschaftliche Fähigkeit des Sowjetstaates hochgradig bewußt, und zwar schon zu einem Zeitpunkt, als die anderen Bolschewisten nur mit den Tagesproblemen der Neuen ökonomischen Politik beschäftigt waren. Doch die Aufstellung einer ökonomischen Strategie für die UdSSR erforderte mehr als eine administrative Entscheidung des Sowjetstaates. Ihre Durchsetzung erforderte außerdem eine korrekte politische Linie der Partei gegenüber den verschiedenen Gesellschaftsklassen — das, was Mao später die „Behandlung der Widersprüche im Volk" nennen sollte.

Hier hatte Trotzki keine zusammenhängende Perspektive anzubieten — eine geradezu unausweichliche Folge seines mangelnden Verständnisses für Parteifragen. Das Ergebnis war, daß die tatsächliche Durchführung seiner Politik — und ihre Verfälschung — Stalin überlassen wurde. Nachdem Stalin Trotzki und die Linke besiegt hatte, wandte er sich gegen die Rechte, um die ökonomische Politik der Opposition durchzuführen. Aber er tat dies mit einer solchen Grobheit und Gewalt, daß er trotz der ungeheuren Gewinne der Fünf-Jahres-Pläne eine permanente ökonomische Krise heraufbeschwor.

Trotzki hatte das Problem der Durchführung seiner ökonomischen Politik nie konkret ins Auge gefaßt. Stalin bot eine konkrete politische Lösung an — die Katastrophe der Zwangskollektivierung. Trotzki reagierte auf die Kollektivierungskampagnen natürlich mit Entsetzen. Er warf Stalin vor, seine Politik in einer Weise durchgeführt zu haben, die deren ursprünglicher Konzeption völlig widersprach, obwohl die Ähnlichkeit unverkennbar war. Diese Konstellation sollte sich bei verschiedenen Anlässen wiederholen — z. B. beim oben erwähnten Lenin-Aufgebot. Später scheint Stalin, wie Deutscher bemerkt, Trotzkis ständige Warnung vor einer bürgerlichen Restauration als Folge einer Bauernerhebung oder eines bürokratisch-militärischen coups — durchaus ernstgenommen zu haben. Seine Methode, mit diesen Gefahren fertigzuwerden, waren die Säuberungskampagnen. Es mochte in solchen Augenblicken scheinen, als stünde Stalin zu Trotzki wie Smerdjakow zu Iwan Karamasow. Nicht nur in dem Sinne, daß er die ursprüngliche Idee in ihrer praktischen Durchführung verfälschte, sondern auch darin, daß die Idee selbst von vornherein die Fehler enthielt, die das ermöglichten. Wir haben gesehen, um welche Fehler es sich handelt. In den 20er Jahren ist in der Tat der Leninismus mit Lenins Tod gestorben. Die Bolschewistische Partei wurde in der Folge immer von der Logik der Ereignisse zwischen den Extremen hin- und hergetrieben, einer Logik, die kein politischer Führer und keine Gruppe mit dem ihnen zur Verfügung stehenden theoretischen Verständnis meistern konnte. Mit dem Zerfall der leninistischen Politik wichen die beiden Flügel links und rechts ab; ihre politischen Linien wurden nur durch die historischen Notwendigkeiten selbst immer wieder zusammengeführt. So wurde der Sozialismus in einem Land schließlich mit dem Wirtschaftsprogramm der linken Opposition durchgeführt. Aber dies stellte nur eine Kombination linker und rechter politischer Strategien dar und keine dialektische Einheit. Das Ergebnis war der grobe ad-hoc-Pragmatismus Stalins und das ständige kostspielige Hin und Her seiner Innen- und Außenpolitik. Die Geschichte der Komintern ist besonders reich an solchen plötzlichen Umschwüngen, bei denen der Versuch, alte Fehler zu korrigieren, allzuhäufig nur neue Fehler hervorrief. Die Partei überstand diese Jahre mit Hilfe von Stalins elementarem politischem Pragmatismus, seiner Fähigkeit, sich den veränderten Umständen früher oder später anzupassen. Die Tatsache, daß dieser Pragmatismus den Sieg davontrug, läßt den jähen Niedergang des bolschewistischen Marxismus nach Lenins Tod nur umso klarer erkennen. Die Tragödie dieses Niedergangs liegt in seinen geschichtlichen Folgen. Nach der russischen Revolution war eine historische Situation gegeben, in der das theoretische Wissen einer kleinen Führungsgruppe einen unabsehbaren Unterschied für die Zukunft der Menschheit hätte bedeuten können. Jetzt, vier Jahrzehnte später, können wir die Früchte der damaligen Entwicklung kaum noch erkennen, ihre letzten Konsequenzen sind aber immer noch sichtbar.

1927—1940: Mythos

Trotzki hatte seine politische Laufbahn als Freischärler außerhalb der organisierten Reihen der revolutionären Bewegung begonnen. Während der Revolution tat er sich als großer Volkstribun und militärischer Organisator hervor. In den 20er Jahren war er der erfolglose Führer der Opposition in Rußland. Nach seiner Niederlage und nach dem Exil wurde er zum Mythos. In dieser letzten Periode seines Lebens dominierte sein symbolisches Verhältnis zu den großen Geschehnissen des vorangegangenen Jahrzehnts, die ihm zum Verhängnis geworden waren. Seine Aktivitäten waren nun völlig nutzlos. Er selbst war ohne jeden Einfluß — Führer einer imaginären politischen Bewegung, hilflos, während Stalin seine Verbündeten ausrottete, und wohin er sich auch wandte, interniert. Seine wichtigste objektive Funktion bestand in diesen traurigen Jahren darin, Stalin als imaginäre negative Zielscheibe zu dienen, die dieser für seine russische Politik benötigte. Als nach den Säuberungswellen jede Opposition innerhalb der Bolschewistischen Partei versiegt war, veröffentlichte Trotzki immer noch seine Oppositionsbulletins. Er war der Hauptangeklagte der Moskauer Prozesse. Stalin richtete seine eiserne Diktatur mit Hilfe der Mobilisierung des Parteiapparats gegen eine „trotzki-stische" Bedrohung ein. Der Mythos seines Namens war so stark, daß das Bürgertum der westeuropäischen Länder in ständiger Angst davor lebte. Im August 1939 erklärte der französische Botschafter Coulondre Hitler gegenüber, daß im Falle eines europäischen Kriegs Trotzki letzten Endes als Sieger hervorgehen könnte. Hitler antwortete, daß dies ein Grund sei, warum Frankreich und Großbritannien ihm nicht den Krieg erklären dürften.

Diese Phase in Trotzkis Leben kann man von zwei Ebenen her diskutieren. Seinen Versuchen, eine politische Organisation — eine Vierte Internationale — aufzubauen, war kein Erfolg beschieden. Seine mangelnde Bekanntschaft mit den soziopoli-tischen Strukturen des Westens — die bereits bei der Auseinandersetzung um die permanente Revolution aufgefallen war — verleitete ihn nun zu der Überzeugung, die russische Erfahrung des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ließe sich in Westeuropa und den USA der 30er Jahre wiederholen. Dazu kam natürlich noch sein mangelndes Verständnis der Natur der revolutionären Partei. In seinen letzten Jahren war Trotzki der Meinung, daß sein Fehler — so wie Lenin ihn erkannte — darin bestanden hat, die Rolle der Partei zu unterschätzen. Doch er hatte nicht von Lenin gelernt. Wie schon beim ersten jugendlichen Versuch wurde Trotzkis Nachahmung der-leninistischen Parteistruktur wieder zu einer bloßen Karikatur. Das Ergebnis war eine äußerliche Nachahmung der organisatorischen Formen, bar jeder Einsicht in ihre innere Natur. Ohne sichere Kenntnisse der neuen Gesellschaften, in denen er sich befand, ohne das Bewußtsein der von Lenin theoretisch erfaßten notwendigen Beziehung zwischen Partei und Gesellschaft, mußten seine organisatorischen Ansätze in einem wirkungslosen Voluntarismus versacken. Die krönende Ironie war, daß er sein Lebensende mit genau jenen Salonliteraten verbringen mußte — der Antithese des leninschen Revolutionärs —, die er immer verabscheut und verachtet hatte. Denn viele von ihnen hatten sich freiwillig unter seinem politischen Banner gesammelt, vor allem in den Vereinigten Staaten, die Burnhams, Schachtmans und andere. Man kann es nur bedauern, daß sich Trotzki überhaupt ernsthaft politisch auseinandersetzen mußte mit solchen Figuren wie Burnham. Schon die Tatsache seiner Verbindung mit ihnen zeigt deutlich, wie sehr ihn die neue westliche Umgebung isolierte und verwirrte. Trotzkis Schriften aus dem Exil sind natürlich von viel größerer Bedeutung als diese unglückseligen Unternehmen. Sie fügen zwar seinem schon beschriebenen Gedankenbau nichts wesentliches hinzu. Aber sie bestätigen Trotzkis Größe als klassischer revolutionärer Denker, der in eine historische Sackgasse geraten war. Seine charakteristische, wenn auch sprunghafte Intuition für gesellschaftliche Massenkräfte macht auch den Wert seiner späteren Schriften aus. Die „Geschichte der russischen Revolution" ist — wie schon oft bemerkt wurde — vor allem eine brilliante Studie in Massenpsychologie und deren komplementärem Gegensatz, dem individuellen Porträt. Das Werk ist nicht so sehr eine Darstellung der Rolle der Bolschewistischen Partei in der Oktoberrevolution, als vielmehr das Epos der Massen, die diese Partei zum Sieg führte. Hier findet Trotzkis Soziologismus seinen echtesten und gewaltigsten Ausdruck. Der damit notwendig verbundene Idealismus entspricht einer Sicht der Revolution, die die entscheidende Rolle von politischen und Ökonomischen Größen ausdrücklich leugnet. Die Psychologie der Klassen, die ideale Verschmelzung des immer wieder heraufbeschworenen Begriffspaares der Massenkräfte und Ideen, wird zur entscheidenden Instanz der Revolution: „In der von einer Revolution erfaßten Gesellschaft kämpfen Klassen gegeneinander. Es ist indessen völlig offenkundig, daß die zwischen Beginn der Revolution und deren Ende vor sich gehenden Veränderungen in den ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft und in deren Klassensubstrat absolut nicht ausreichen zur Erklärung des Verlaufs der Revolution selbst, die in kurzer Zeitspanne jahrhundertealte Einrichtungen stürzt, neue schafft und wieder stürzt. Die Dynamik der revolutionären Ereignisse wird unmittelbar von den schnellen, gespannten und stürmischen Veränderungen der Psychologie der vor der Revolution herausgebildeten Klassen bestimmt."(22)

Trotzkis Aufsätze über den deutschen Faschismus sind eine Pathologie des Klassencharakters des enteigneten Kleinbürgertums und dessen Paranoia. In ihrer ungeheuren Hellsichtigkeit ragen diese Aufsätze als die einzige marxistische Analyse dieser Jahre hervor, welche die katastrophalen Folgen des Nazismus und die Torheit der Politik der Komintern voraussagte. Trotzkis späteres Werk über die Sowjetunion selbst war ernsthafter, als der demagogische Titel, unter dem es lange bekannt war.(23) Hier zeigte sich ein lebenslanger Soziologismus von der günstigsten Seite.

Trotzkis Unterschätzung der besonderen Wirkungskraft politischer Institutionen führte ihn im praktisch-politischen Kampf vor und nach der Revolution zu immer neuen Fehlern. Doch als er schließlich versuchte, den Charakter der Sowjetgesellschaft unter Stalin anzugreifen, bewahrte ihn diese Haltung davor, Rußland nach den Maßstäben zu beurteilen, die später die sogenannte „Kremologie" bestimmten. Zu einer Zeit, als viele seiner Anhänger dabei waren, neue „herrschende Klassen" und „kapitalistische Restaurationen" in willkürlichster Weise zusammenzuphantasieren, betonte Trotzki stets in seiner Analyse des Sowjetstaates und des Parteiapparats, daß dieser keine gesellschaftliche Klasse darstellte. Solcherart war Trotzkis Marxismus. Er bildet eine konsequente und charakteristische Einheit, von seiner frühen Jugend bis hin zu hohem Alter. Trotzki sollte heute zusammen mit Plechanow, Kautsky, Luxemburg, Bucharin und Stalin studiert werden, denn die Gesdiichte des Marxismus ist im Westen noch nicht aufgearbeitet worden. Erst wenn dies geschehen ist, werden wir der Größe Lenins, des überragenden Marxisten jener Epoche, gerecht werden können.

Anmerkungen

1) Isaac Deutscher, »Der bewaffnete Prophet 1879—1921«, Kohlhamrner, Stuttgart 1962, S. 54.
2) »ibid.«, S. 96 u. 98.
3) »Ergebnisse und Perspektiven«. Die Treibenden Kräfte der Revolution, Neue Kritik, Frankfurt 1967, Archiv sozialistischer Literatur 6, S. 65, 73.
4) »ibid.«, S. 101.
5) »ibid.«, S. 119.
6) Deutscher, »Der bewaffnete Prophet«, S. 174.
7) »Die Intelligenz und der Sozialismus«.
8) Lenins Theorie der revolutionären Partei wurde natürlich nicht voll entwickelt in »Was tun?«. Seine ausgereifte Theorie wurde erst nach der Revolution von 1905 durch die Praxis des Parteiaufbaus entwickelt.
9) »Die Intelligenz und der Sozialismus«.
10) Deutscher, »Der bewaffnete Prophet«, S. 184 ff.
11) »Der Kampf um die Macht« (Hervorhebung im Text vom Autor.) Man kann Trotzkis Einstellung zur Partei in diesen Jahren mit der Position Luxemburgs vergleichen. Luxemburg war sich des Revisionismus in der deutsdien Partei viel früher bewußt als Lenin, aber sie unterließ es, die Partei zu spalten, was die Arbeit des Aufbaus einer revolutionären Partei verzögerte. Die Folgen waren tödlich — die Niederlage der Spartakisten 1918. Trotzki verließ sich wie Luxemburg auf den revolutionären Elan der Massen, ohne das Problem der Mobilisierung dieser Massen in einer revolutionären Organisation zu behandeln.
12) »Die Permanente Revolution«, Neue Kritik, Frankfurt 1965, Archiv sozialistischer Literatur, S. 54—55, 48 Anm.
13) Isaac Deutscher, »Der unbewaffnete Prophet 1921—1919«, Kohlhammer, Stuttgart 1962, S. 44.
14) Deutscher, »Der bewaffnete Prophet«, S. 464—465. Das Bild erinnert an den Jesuitenstaat in Paraguay. Trotzki sollte später schreiben, daß die bürgerlichen Philister die Jesuiten aus dem Grunde so heftig verabscheuen, weil diese die Soldaten der Kirche seien, die meisten anderen Priester dagegen bloß ihre Krämer. Es gibt natürlich keinen Grund, zwischen diesen beiden Gruppen einen Unterschied zu machen. Trotzki scheint jedoch die Jesuiten im Vergleich zu anderen Priestern vorgezogen zu haben. Es ist klar, daß in einer revolutionären Epoche ein sozialistischer Kämpfer in seinen Ansichten eher einem Soldaten als einem Krämer gleichen wird — aber sollte ein Sozialist wegen dieser temporären Situation vergessen, daß eine militärische Haltung genauso, wie eine merkantile Haltung, ein Produkt der Klassengesellschaft ist?
15) Deutscher, »Der unbewaffnete Prophet«, S. 423.
16) Trotzki, »Der neue Kurs«, 1923. (Hervorhebung vom Autor).
17) Trotzki selbst sprach in späteren Jahren häufig von „revolutionärem Optimismus". Optimismus und Pessimismus sind natürlich emotionale Haltungen, die mit dem Marxismus wenig zu tun haben. Die bürgerlichen Weltanschauungen sind traditionsgemäß von solchen Kategorien überwuchert. Das adjektiv „revolutionär" macht den „Optimismus" genausowenig zu einer bedeutsamen Kategorie, wie das adjektiv „heroisch" den „Pessimismus".
18) In einem erstaunlichen Passus behauptet Trotzki tatsächlich, daß wenn der Sozialismus in Rußland möglich sei, die Weltrevolution damit überflüssig würde, da Rußland so groß sei, daß der erfolgreiche Aufbau des Sozialismus in der UdSSR einem internationalen Sieg des Weltproletariats gleichkäme. „Das Beispiel eines rückständigen Landes, das im Verlauf einiger Fünf-Jahres-Pläne fähig war, eine mächtige sozialistische Gesellschaft mit eigenen Kräften aufzubauen, würde dem Weltkapitalismus einen Todesstoß versetzen und die Kosten der proletarischen Weltrevolution auf ein Minimum senken, wenn nicht völlig auflösen." Dies ist natürlich genau die Ansicht, die Chruschtschow Anfang der 60er Jahre vertrat. Ihr Auftauchen hier ist ein Zeichen der Schwäche der ganzen Argumentation in der »Permanenten Revolution«. Gegen den Sozialismus in einem Land lautete Trotzkis Einwand nicht, daß in einem Land mit so niedrigem Stand der Produktivkräfte und der kulturellen Akkumulation ein echter Sozialismus unmöglich sei, sondern vielmehr, daß der Sowjetstaat einem wirtschaftlichen oder militärischen Angriff von außen nicht standhalten könne. Die Qualität des sowjetischen Sozialismus war für ihn hier nicht die entscheidende Frage. Der oben zitierte Passus zeigt, daß Trotzki in der Debatte bereit war, die pauschale Gleichsetzung von Sozialismus und sowjetischer Wirtschaftsentwicklung zu akzeptieren.
19) Trotzkis Argument lautete immer: da der Widerspruch zwischen Kapitalismus und Sozialismus fundamentaler ist als der Widerspruch zwischen den kapitalistischen Ländern, müssen diese sich zum Angriff auf die Sowjetunion zusammentun. Dies ist ein klassisches Beispiel für die typische Verwechslung des langfristig »determinierenden« Widerspruchs mit dem jeweils »dominierenden« Widerspruch.
20) Einige Jahre später gab Gramsci einen feinsinnigen Kommentar des trotzkistischen Internationalismus: „Es bleibt abzuwarten, ob die berühmte Theorie Trotzkis über die Permanenz der Bewegung nicht der politische Reflex der Theorie des Bewegungskrieges ist ... und somit letztlich der Reflex der allgemeinen ökonomisch-kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen eines Landes, in dem das Gefüge des nationalen Lebens embryonal und ungebändigt ist und nicht Graben oder Festung werden kann. In diesem Falle könnte man sagen, daß Trotzki, der offenbar ein .Westler' zu sein scheint, eigentlich ein Kosmopolit war, das heißt oberflächlich national und oberflächlich westlich oder europäisch. Lenin dagegen war zutiefst national und zutiefst europäisch." Gramsci, »Philosophie der Praxis«, Frankfurt 1967, S. 346.
21) Dieses Problem wird von Lucio Magri diskutiert, in »Valori e Limiti dclle Espcrienze Frontiste« (Critica Marxiste, Mai/Juni 1965). Dazu ist zu sagen, daß Stalins spätere Auffassung vom kalten Krieg als dem „Klassenkampf auf internationaler Ebene" — eine Gleichsetzung in der Tat von Staat und Klasse — den entgegengesetzen aber identischen Fehler aufweist, wie Trotzki in seiner Auffassung der 20er Jahre
22) »Geschichte der russischen Revolution«, Berlin 1960, S. 12 f.
23) »Die verratene Revolution«.

Editorische Hinweise

Wir entnahmen den Text aus:Sozialistisches Jahrbuch 2, hrg. v. Wolfgang Dreßen, Westberlin 1970, S. 184-213, OCR-Scan red. trend