Was ist Sozialisierung?
Der Interessengegensatz der Produzenten und Konsumenten

von Karl Korsch

09-2013

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onlinezeitung

Vorbemerkung: Der nachstehende Text ist ein Auszug aus "Was ist Sozialisierung?" Diese Broschüre erschien 1919. Zu diesem Zeitpunkt gehörte Karl Korsch der "Kommission zur Vorbereitung der Sozialisierung der Industrie", die im  November 1918 vom Rat der Volksbeauftragten eingesetzt worden war, um Wege zur Sozialisierung von Teilen der deutschen Wirtschaft zu erarbeiten. /red trend.

10. Der Interessengegensatz der Produzenten und Konsumenten.

Die größte Gefahr, daß bei Ausführung eines Sozialisierungsplanes die Aufgabe der Schaffung wahren Gemeineigentums dennoch verfehlt wird, entsteht daraus, daß auch nach Ausschaltung des kapitalistischen Privateigentums aus der Produktion sich im Wirtschaftsleben einer menschlichen Gemeinschaft zweierlei Interessen gegenüberstehen: das Interesse der produzierenden Arbeiter jedes einzelnen Produktionszweiges einerseits, das Interesse der Gesamtheit der übrigen Produzenten und Konsumenten andererseits. Kürzer ausgedrückt: der Widerstreit der Interessen der Produzenten und Konsumenten.

Sobald bei der Regelung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse das Interesse der Konsumenten oder der Produzenten bevorzugt wird, wird anstelle einer wahren „Vergesellschaftung" der Produktionsmittel durch die angebliche „Sozialisierung" für den bisherigen Privatkapitalismus nur ein neuer Kapitalismus eingetauscht, welcher je nachdem als ein Konsumenten-Kapitalismus (Staats-, Gemeinde-, Konsumvereins-Kapitalismus) oder als ein Produzentenkapitalismus zu bezeichnen ist. Nur bei Vermeidung beider Gefahren, bei gleichmäßiger, gerechter Berücksichtigung der Interessen der Produzenten wie der Konsumenten entsteht durch die Sozialisierung kein Sondereigentum eines Standes, sondern wahres Gemeineigentum.

Diejenigen Formen der Sozialisierung, welche die Gefahr eines Konsumentenkapitalismus nahe rücken, sind die Sozialisierung durch Verstaatlichung, durch Kommunalisierung, und durch Angliederung von Produktionsbetrieben an Konsumgenossenschaften. Dagegen entsteht die Gefahr des Produzentenkapitalismus bei einem Versuch der Sozialisierung in der Richtung der produktivgenossenschaftlichen Bewegung und des modernen Syndikalismus („Die Bergwerke den Bergleuten", „Die Eisenbahnen den Eisenbahnern", usw.). Das Ziel der Sozialisierung im Geiste des Sozialismus ist aber weder Konsumentenkapitalismus, noch Produzentenkapitalismus, sondern wahres Gemeineigentum für die Gesamtheit der Produzenten und Konsumenten.

11. Die Ansprüche der Produzenten und der Konsumenten an der Regelung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse.

Die Einteilung der an die Regelung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse von Seiten der Produzenten und von Seiten der Konsumenten erhobenen Ansprüche ergibt sich aus einer Zerlegung des durch die Sozialisierung abzuschaffenden kapitalistischen Privateigentums in seine einzelnen Befugnisse.

In dem ,Privateigentum an Produktionsmitteln" der heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung steckt, wie gezeigt, zweierlei:

a) ein Recht auf das gesamte Erträgnis der mit und an diesen Produktionsmitteln vollzogenen Produktion, abzüglich aller Aufwendungen für Rohstoffe, Löhne, Steuern usw. (nach Marx ein usurpiertes Recht der Kapitalisten auf den durch die unfreie Arbeit der Lohnarbeiter fortwährend erzeugten „Mehrwert").

b) ein Recht zur Herrschaft über den Produktionsprozeß, eingeschränkt durch das allgemeine öffentliche Recht, besonders die sogenannte Sozialgesetzgebung.

Demgegenüber bedeutet die Forderung „Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln", Vergesellschaftung der Produktionsmittel", vom Standpunkt des produzierenden Arbeiters aus erhoben, ebenfalls zweierlei:

a) ein Recht auf den Ertrag der Arbeit für den Arbeiter,

b) eine der Bedeutung der Arbeit für den Produktionsprozeß entsprechende Teilnahme der Arbeiter an der Herrschaft über den Produktionsprozeß.

Dieselbe Forderung aber, vom Standpunkt der Konsumenten aus erhoben, bedeutet:

a) eine Aufteilung des Ertrags der gesamten gesellschaftlichen Produktion unter die Gesamtheit der Konsumenten,

b) eine Überleitung der Herrschaftsrechte des kapitalistischen Privateigentümers auf die Organe dieser Gesamtheit.

12. Die beiden Grundformen der Sozialisierung.

Unter diesen Gesichtspunkten scheint sich eine verschiedene Stellung der Produzenten und Konsumenten zu den verschiedenen in Frage kommenden Formen der „Sozialisierung" zu ergeben. Die eine Gruppe dieser Formen, der erste Typus der Sozialisierung, gewährt den produzierenden Arbeitern nur indirekt, den Konsumenten dagegen direkt eine Erfüllung ihrer Ansprüche. Die andere Gruppe dieser Formen, der zweite Typus der Sozialisierung, stellt umgekehrt vom Standpunkt der produzierenden Arbeiter aus gesehen eine direkte, dagegen vom Standpunkt der konsumierenden Gesamtheit aus gesehen nur eine indirekte Vergesellschaftung dar.

a) Vom Standpunkt der produzierenden Arbeiter indirekt, vom Standpunkt der Gesamtheit der Konsumenten direkt, ist die Sozialisierung als Verstaatlichung oder Kommunalisierung von Betrieben, sowie als Angliederung von Produktionsbetrieben an Konsumgenossenschaften. In allen diesen 3 Fällen erlangt der produzierende Arbeiter dadurch, daß der kapitalistische Privateigentümer durch die Funktionäre des Staats, der Gemeinde, des Konsumvereins ersetzt wird, unmittelbar keinerlei Mitherrschaft und Mitnutzrecht an der Produktion, sondern bleibt nach wie vor Lohnarbeiter.

Wenn und soweit es hierbei sein Bewenden hat, würde durch die angebliche Sozialisierung in Wahrheit kein Gemeineigentum der Gesamtheit, vielmehr ein Sondereigentum des Konsumentenstandes geschaffen. Der Privatkapitalismus wäre durch einen Konsumentenkapitalismus ersetzt. Dies gilt, wie für die beiden anderen genannten Formen, besonders auch für die Form der Verstaatlichung.

Es ergibt sich hieraus das wahre Verhältnis der beiden häufig als gleichbedeutend gebrauchten Ausdrücke: Sozialisierung und Verstaatlichung. Wir haben schon oben gesehen: nicht jede Sozialisierung vollzieht sich in der Form der Verstaatlichung. Und wir sahen jetzt: die bloße Verstaatlichung kann für sich allein als sozialistische Vergesellschaftung (Sozialisierung) nicht anerkannt werden.

b) Die vom Standpunkt der produzierenden Arbeiter direkte, vom Standpunkt der Gesamtheit der Konsumenten indirekte Sozialisierung besteht in dem Übergang des Eigentums an sämtlichen Produktionsmitteln eines Betriebes (eines Industriezweiges) auf die arbeitenden Betriebsbeteiligten (Industriezweigsbeteiligten). Durch diesen Vorgang erlangten die arbeitenden Produktionsbeteiligten die volle Herrschaft über den gesamten Produktions-prozeß und über seine Erträge. Hierdurch allein aber kann selbstverständlich ebensowenig wahres Gemeineigentum geschaffen werden, wie durch die unter a) erörterte Sozialisierungsform. Vielmehr würde hier der Kapitalismus des privaten Kapitalisten nur durch einen Produzenten-Kapitalismus, ein Sondereigentum bestimmter Gruppen von Produzenten ersetzt.