Rekonstruktion eines Raubzuges
Vor zehn Jahren wurde die Forschungsstelle »Entartete Kunst« eingerichtet. Eine Zwischenbilanz

von
Antonín Dick

09-2013

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Als die Mauer fiel, gab es im aufgeschreckten Ausland viele Warnungen an die sich »wieder Vereinigenden«. Das County Museum of Art in Los Angeles erarbeitete 1990/91 die Ausstellung »Entartete Kunst« zum Umgang der Nazideutschen mit der Avantgarde. Ein Jahr später wurde sie den Deutschen in ihrem Historischen Museum von Berlin gezeigt, diese Rekonstruktion der berüchtigten Münchner Femeausstellung von 1937, die Werke der Moderne zeigte, um sie zu verhöhnen: Arbeiten von Dix, Grosz, Beckmann, Kirchner, Feininger, Kandinsky, Kokoschka, Chagall, Lissitzky, Alexej von Jawlensky und anderen. Als späte Reaktion auf diese Mahnung in diesem Museum, in dessen Lichthof Hitler seine Reden zum Heldengedenktag gehalten hatte, wurde 1993 die Forschungsstelle »Entartete Kunst« am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin gegründet. Initiator war die Berliner Ferdinand-Möller-Stiftung, die das Projekt bis heute im wesentlichen finanziert.

Mehr als 21 000 »undeutsche« Werke beschlagnahmten die Nazis in Museen. Sie wurden in Depots gesperrt, ins Ausland verkauft oder als »unverwertbarer Rest« vernichtet, darunter nicht zuletzt ungeschönte Darstellungen der Armen und Ausgebeuteten, antiheroische Werke von Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach. Der war den Nazis schon aufgefallen. Sein Magdeburger Ehrenmal für Gefallene des Ersten Weltkriegs war ein Bekenntnis gegen Krieg, errichtet zudem unter Verwendung der Totenmaske des Juden und Deutschlandkritikers Heinrich Heine.

Alle Kunst, die irgendwie im Ruch stand, kommunistisch, kosmopolitisch, jüdisch, antinaturalistisch, abstrakt oder subversiv zu sein, galt als Mutation des »gesunden Volksempfindens«, als »entartet«, wobei die Stigmatisierer nicht argumentativ vorgingen, sondern haßgeleitet, was zu grotesker Willkür führte, wenn beispielsweise der abstrakt malende Kandinsky als kommunistischer Künstler identifiziert wurde, nur weil er im revolutionären Rußland der linksgerichteten Kunstszene angehörte.

Mit Furor machten die Nazis sich bald auch über private Sammlungen, Galerien und Künstlerateliers her. Ihr Säuberungswahn begann sich über ganz Europa auszubreiten. Ein besonders höllisches Schauspiel lieferte der Reichsleiter für die besetzten Gebiete im Osten, Alfred Rosenberg. Ein nach ihm benannter Einsatzstab plünderte wertvolle Bücher, Manuskripte, Thorarollen, einzigartige Werke von Cha­gall. Alles wurde nach Berlin geschafft, »Unverwertbares« als Brennmaterial benutzt oder auf andere Art zerstört. Nach vollzogener Vernichtung der Juden sollte in der »Reichshauptstadt« der Aufbau einer »Wissenschaft des Judentums ohne Juden« beginnen. Ähnliches dürften die Nazis in allen besetzten Ländern im Sinn gehabt haben.

Die Erforschung dieses Raubzugs durch Europa steht erst am Anfang, und die juristischen Grenzen zwischen Beschlagnahme und Raub von »Entarteter Kunst« sind vermutlich fließend. Die Erarbeitung wissenschaftlich fundierter Begriffsdefinitionen erscheint da sehr relevant. Mit Verve wurde auf einer Pressekonferenz der Forschungsstelle am 29. August darauf hingewiesen. Die Ausführungen der Wissenschaftler dazu waren nicht gerade stichhaltig, sondern vage Beschreibungen, die wiederholt an Zirkelschlüssen vorbeischrammten.

Seit zehn Jahren arbeitet die Forschungsstelle »Entartete Kunst« an der Rekonstruktion des Raubzugs durch die deutschen Museen. Übersichten über beschlagnahmte bzw. verschwundene Werke werden erstellt, Lebenswege verfemter Künstler und mitverantwortlicher Museumsleiter erforscht. Welche Rolle Kunsthändler spielten, wurde gefragt, und wie die konfiszierten Werke an ihre heutigen Standorte gekommen sind. Die Bedeutung dieser Arbeit zeigte sich, als Archäologen vor drei Jahren bei Grabungen in der Nähe des Berliner Roten Rathauses auf 16 Skulpturen stießen, die teilweise nur noch als Torsi erhalten waren – die Forschungsstelle konnte sie anhand der Übersichten sofort identifizieren. Die Objekte der Beschlagnahmeaktion »Entartete Kunst« hatten die Jahrzehnte seit dem Kriegsende im Bombenschutt eines Wohnhauses überdauert.

Zu ihrem zehnjährigen Bestehen veranstaltet die Forschungsstelle am 5. und 6. September ein Symposium unter dem Titel »Auf den Spuren der verlorenen Moderne«. Sie wird dort Arbeitsergebnisse vorstellen, die sich sehen lassen können. Die Hälfte der beschlagnahmten Werke ist mittlerweile in einer Datenbank erfaßt, die online für jeden gebührenfrei zur Verfügung steht. Historische und aktuelle Fotos veranschaulichen die Informationen. Von etwa 4000 Werken weiß man exakt die Standorte, zumeist handelt es sich dabei um Gemälde und Skulpturen in öffentlichen oder privaten Sammlungen.

Zum Zehnjährigen schaltet die Einrichtung eine lange erwartete englischsprachige Fassung der Datenbank frei. Wie auf der Pressekonferenz bedauert wurde, schließt das Symposium verdienstvolle Vertreter der Provenienzforschung aus, weil es zeitlich mit dem jüdischen Neujahrsfest zusammenfällt. Von 13 Rednern sind auch nur zwei aus dem Ausland. Ein Mitarbeiter der Ferdinand-Möller-Stiftung nannte das einen »Fauxpas«. Die Verdienste der Forschungsstelle schmälert es nicht.

entartetekunst.geschkult.fu-berlin.de

Editorische Hinweise
Der Artikel wurde erstveröffentlicht in der Jungen Welt (http://www.jungewelt.de) Wir bekamen von Autor den Artikel zur Zweitveröffentlichung.

Vom Autor erschien bei TREND:


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Ein Essay von Antonín Dick