75 Jahre Zweiter Weltkrieg
D
ie Lage im Innern
August bis Oktober 1939

aus den Deutschland-Berichten der SPD

092014

trend
onlinezeitung

1. Die allgemeine Stimmung

Die bisher vorliegenden Berichte erlauben noch nicht, ein zuverlässiges Urteil über die jetzige Stimmung des deutschen Volkes abzugeben. Was schon früher wiederholt festgestellt werden mußte, gilt unter dem Kriegszustand in erhöhtem Maße: in einem Lande, in dem die freie öffentliche Meinung mit allen Mitteln unterdrückt wird, kann sie noch viel weniger einheitlich sein als in einem freien Lande.

Mit diesem Vorbehalt müssen auch die beiden nachstehenden Berichte neutraler Reisender aufgenommen werden, die die Stimmung in Westdeutschland wiedergeben.

1. Bericht: Schon im Zuge kam ich ins Gespräch mit SSLeuten, die sehr wichtig taten und die sich in Prahlereien ergingen. Polen sei erledigt und niemand, weder England noch Frankreich werden es wieder zu neuem staatlichen Leben erwecken können. Besonders England nicht, das in diesem Kriege, wenn er wirklich weiter andauern sollte, vernichtet werde.

Der Überfall auf Polen hat überhaupt manchen, den ich früher » ruhigen und gegenüber dem System sehr zurückhaltenden Menschen gekannt habe, ganz verrückt gemacht. Auch die Frauen. Ich traf eine Frau, die mich immer sehr nett behandelt hatte. Jetzt war sie ganz aufgeregt und überfiel mich sofort mit Vorwürfen. Wir  d. h. meine Landsleute und ich , so meinte die Frau, hätten schuld daran, daß alles so gekommen sei. Auf meine erstaunte Frage, wie wir, die wir doch neutral seien, schuld haben könnten, erwiderte diese Frau: Ja, das kenne man, man täte nur so. Sie kenne diese scheinheilige Methode, die nur deswegen angewendet werde, um schön aus dem Kriege herauszubleiben. In Wirklichkeit gebe es keine Neutralität. Alles sei Lug und Trug. Die Engländer, diese Krämer, hetzten die ganze Welt gegen Deutschland, nur weil sie von ihrem Reichtum nichts abgeben wollten. Und sie ließen auch andere für sich kämpfen. Warum läßt England uns, Deutschland, nicht unsere Dinge mit Polen allein regeln? Weil man Angst habe, daß Deutschland zu stark werden könne. Aber England werde in diesem Kriege sehen, was es davon habe. Diesmal würde Schluß gemacht mit der englischen Vorherrschaft.

Am 2. Juni 1933 beschloss der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei, seinen Sitz ins Ausland zu verlegen. Von hier aus führte er seine politische Arbeit fort und organisierte den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime. Der SPDVorstand im Exil wurde nach den Anfangsbuchstaben der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Sopade genannt. Als vorläufiger Sitz der SopadeZentrale wurde Prag, die Hauptstadt der Tschechoslowakischen Republik gewählt. Zum Vorstand der Prager Sopade gehörten die Vorsitzenden Otto Wels, Hans Vogel und Friedrich Stampfer und weitere Mitglieder und Mitarbeiter des Parteivorstands, sowie der Sekretär der SPDReichstagsfraktion, Erich Rinner (1902  1982). Im Auftrag des Exilvorstandes der Sozialdemokratischen Partei gab Rinner ab dem 17. Mai 1933 die Deutschlandberichte der Sopade heraus, welche über ein geheimes Berichterstattersystem die Situation im nationalsozialistischen Deutschland analysierten und Informationen verbreiteten. Diese verstanden sich als Versuch, das Ausland mit Veröffentlichungen über die wahren Verhältnisse in Deutschland zu versorgen  mit Informationen, die das nationalsozialistische Regime unterdrückte. Durch den Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei musste die Sopade Prag verlassen und verlegte ihren Sitz nach Paris. Von dort wurde die politische Arbeit und die Herausgabe der Deutschlandberichte bis zur Besetzung Frankreichs 1940 fortgeführt. Mit der Flucht Erich Rinners in die USA 1940 endete auch die Herausgabe der Deutschlandberichte.
Quelle: http://www.fes.de

Noch verrückter als früher sind die Nazis geworden. Jawohl, so sagen sie, wir wissen, daß Hitler diesen Krieg gegen Polen gewollt hat. Jawohl, man billige das gemeinsame Vorgehen Hiders und Stalins. Hitler habe England reingelegt, er sei den Engländern zuvorgekommen. Mit Rußland werde man schon fertig werden. Hitler werde den Russen schon zu einem geeigneten Zeitpunkt Einhalt gebieten. „Es wird Zeit, daß endlich mal den Engländern gezeigt wird, daß sie nicht ewig die Welt beherrschen können." Nur darauf sei die Taktik des Führers zurückzuführen.

Im übrigen sei noch gar nicht raus, ob der Krieg wirklich fortgesetzt werden müsse. Die Franzosen würden sich sehr bedanken, diesmal wieder für England zu kämpfen. England scheue sich ja, deutsche Städte anzugreifen. Es werfe nur Flugblätter ab. Es wisse, warum es nicht Bomben abwürfe. Täte es das, so würden die deutschen Flieger bald London in Schutt und Asche legen.

Auch der Spießer billigt im allgemeinen die Haltung Hitlers. England sei der Schuldige. Es werde seine Strafe erhalten und bitter büßen müssen. Hitler habe ganz richtig gehandelt, als er den Pakt mit Rußland geschlossen habe.

Eine katholische Frau war sehr widerspruchsvoll in ihren Anschauungen. Gerade darum aber ist ihre seelische Verfassung, die deutlich bei der Unterhaltung zum Ausdruck kam, besonders charakteristisch für das Durcheinander im deutschen Volke. Diese Frau war bisher immer sehr freundlich zu mir gewesen. Sie sah mich diesmal böse an und weinte sofort, als ich bei ihr eintrat. Ein Sohn von ihr ist Soldat. Sie jammerte darüber, und erklärte dann, daß sie aber jetzt zeigen wollte, daß sie eine tapfere deutsche Frau sei. Gleich darauf aber sagte sie, daß, wenn der im Felde stehende Sohn fallen sollte, sie mit dem anderen, der ja wohl auch Soldat werden müsse, ins Wasser gehen werde.

Ein anderer Katholik ist durch den polnischen Krieg und durch die Erfolge des deutschen Heers ganz aus dem Häuschen geraten. Das sei eine ganz großartige Sache. Und dieser Geniestreich des Führers mit Stalin. Da habe er den Westmächten mal gezeigt, wie man Politik mache. Auf meinen Einwand, daß es mich sehr wundere, wie er als Katholik die Verbrüderung mit dem Bolschewismus gutheißen könne, erwiderte der Mann: „Ach, das ist ja alles nicht schlimm. Wissen Sie denn nicht, daß in Rußland neue Kirchen gebaut werden? Das ist hier bei uns in Deutschland längst bekannt. Rußland ist ja gar nicht mehr so bolschewistisch. Im übrigen wird uns der liebe Gott schon helfen."

Nur eine Frau, die eben aus der Tschechoslowakei gekommen war, war sehr kritisch. Diese Frau ist Sudetendeutsche, sie war HenleinAnhängerin vor der Besetzung des Sudetengebietes und hatte, wie viele andere, den Anschluß des Sudetengebietes begrüßt. Es ist die Frau des Besitzers einer großen Fabrik. Diese Frau jammerte: „Was soll das bloß werden? Wir waren früher so glücklich gegen heute. Wir hatten es gut und auch das Volk hatte zu essen. Jetzt ist Mangel an allem. Hätten wir das gewußt!"

Natürlich sind nicht alle verrückt. Aber es muß zugegeben werden, daß die Zahl derer, die wirklich versuchen, sich klar zu werden, die verhältnismäßig objeküv denken, recht klein ist. Nicht daß bei der Mehrheit Begeisterung herrschte und daß nur die Minderheit ruhiger ist. O nein, Begeisterung gibt es überhaupt nirgends. Bei der Mehrheit ist es mehr Wut und Haß, der zu lauten Entladungen führt. Frieden wollen alle, nur meinen die Anhänger des Regimes, daß die Engländer den Frieden stören, und die Gegner, daß es Hitlers Schuld sei, wenn jetzt der Krieg über Europa kommen wird.

Die Minderheit besteht aus politischen Menschen aus dem Bürgertum und aus den älteren Arbeitern. Diese Schichten haben große Sorgen. Sie sind allerdings noch unsicher in der Beurteilung der Kriegschancen für Deutschland. Hitler habe bis jetzt immer Erfolge gehabt und man könne nicht wissen, wie die Sache diesmal ausgehen werde. Vielleicht hätten sich die Engländer und Franzosen doch verrechnet.

Aber alle klagen über die täglichen Sorgen und Nöte. Und es herrscht  auch bei den Anhängern Hitlers  große Angst vor den Folgen der Blockade. Ein Unterschied besteht nur insofern, als die Nazis und viele Spießer meinen, der Krieg werde nicht lange dauern, weil England bald niedergerungen sein werde. Die anderen dagegen rechnen mit einem langen Krieg und dann sei die Niederlage unausbleiblich.

Die Mißstimmung kommt auch bei verschiedenen Gelegenheiten zum Ausdruck, die sich infolge des Kriegszustandes ergeben. So erzählte mir z. B. eine Funktionärin im Luftschutz, die, ausgerüstet mit Polizeivollmacht, Hauskontrolle machen muß: „Es ist schon ein Elend. Wohin man auch kommt, überall mürrische Gesichter. Als ich neulich an einer Haustür klingelte, rief ein Mann aus dem Fenster: ,Was wollen Sie denn schon wieder? Sammeln? Ich habs nun bald satt!'  Schließlich kam er doch herunter und sofort entschuldigte er sich wegen seiner Heftigkeit. Er sei jetzt, wie soviele Menschen nervös und überreizt. Ich solle nichts daraus machen; was ich ihm auch versprach, denn ich denke genau so wie er. Wenn ich zu diesem Amt nicht gezwungen wäre, so würde ich es nicht ausüben."

Alle Leute kaufen, was noch nicht rationiert ist. Die Leute können ja mit ihrem Geld nichts anfangen. Und die Nazis können infolge der Rationierung genau kontrollieren, wieviel Geld übrig ist. Dieses muß auf die Sparkasse gebracht werden. Besonders die Beamten und Angestellten werden ständig zum Sparen angehalten, oft mit sanftem Druck. Viele kaufen Pelze und andere Luxusartikel, nur um das Geld in Werten anzulegen. Die Pelzläden sind fast völlig ausverkauft.

Gewisse Nahrungsmittel sind frei, auch Obst. Aber man bekommt nichts, weil entweder nichts da ist, oder weil es festgehalten wird. Obst z. B., soweit es gelagert werden kann, wird zurückgehalten. Ich wollte Geflügel kaufen und fragte meine Freundin, ob ich ein Huhn kaufen könne. Sie bejahte und ich ging in ein Geflügelgeschäft. Ich bekam aber nichts, weil nämlich nichts da war. Als ich darauf meiner Freundin sagte, daß ja nichts zu kaufen sei, da meinte sie belustigt, sie habe ja auch nicht gesagt, daß Geflügel da sei, sie habe nur gemeint, es sei kartenfrei. So etwas passiere oft.

Im allgemeinen: nirgends wirkliche Begeisterung. Jedoch viel Nervosität, Prahlerei und lautes Getue, besonders bei den Nazis. Bei den alten Genossen eine gewisse Zuversicht. Von Kommunisten ist nichts mehr zu finden. Die meisten ehemaligen Kommunisten sind entweder Nazis geworden, und zwar nicht erst nach dem HitlerStalinPakt, oder sie sind in völlige Interesselosigkeit verfallen. In der Arbeiterschaft gibt es übrigens nirgends Verteidiger dieses Bündnisses.

2. Bericht: Meine alten Bekannten in X. und später in Y. bestürmten mich mit tausend Fragen. Sie waren über die politische und militärische Lage besser informiert, als ich angenommen hatte. Es gab kaum einen einzigen, der die ausländischen Rundfunksendungen in deutscher Sprache nicht regelmäßig hörte.

Aber es fiel mir auf, daß man in allen Kreisen der Bevölkerung viel mehr von Ernährungsfragen spricht als von der Politik. Jeder ist von der Sorge gehetzt, wie komme ich zu meiner Ration? Wie kann ich mir etwas darüber hinaus beschaffen? Am Sonntag vormittag sah ich am Bahnhof in X. Schlagen von Menschen vor den Billetschaltern mit Rucksäcken und mit Handtaschen. Sie sprachen ganz offen davon, daß sie auf die Dörfer gingen zu Freunden und zu Bekannten, um sich zu versorgen. Halbe Kinder in der Uniform der Hitlerjugend waren mit dabei. In den Restaurants entschuldigt sich jeder Kellner, daß dies und das auf der Speisenkarte nicht mehr zu haben sei, obwohl sie schon „einfach" genug ist. Meine Wirtin beklagte sich bitter über die Händler, die trotz der Strafandrohung Waren hinten herum zu erhöhten Preisen abgäben. Vor meiner Abreise bat sie mich, ihr meine Seife dazulassen.

Offene Ausbrüche der Unzufriedenheit habe ich meist nur bei den Frauen gehört, die in einem wahrhaft aufreibenden Kampf um die tägliche Beschaffung des Lebensnotwendigsten stehen. Jeder wird beneidet, der sich noch rechtzeitig Wäsche, Kleider und vor allem Schuhe erhamstern konnte, wobei man allerdings fürchtet, daß der liebe Nachbar denunziert und die Gestapo haussuchen kommt. Und alle bangen sich, daß es wohl noch schlimmer kommen würde.

Die verzweifelte und hoffnungslose Stimmung, die von dieser Mangellage herrührt, ist nach meinen Beobachtungen der entscheidende Faktor bei allen Äußerungen über den Krieg. Es wird zwar überall auf England und seine Blockade geschimpft, aber fast noch größer ist der Zorn auf die hohen Würdenträger der SA und der SS, die sich unter brutaler Ausnützung ihrer Macht aufs beste versorgen. „Das ist eben die Volksgemeinschaft", sagte mir bitter ein Bankbeamter. In Köln ist besonders der Gauleiter Grohe verhaßt. An der schwarzen Tafel eines Kölner Großbetriebs klebte Anfang Oktober ein aus dem „Westdeutschen Beobachter" ausgeschnittenes Bild des Gauleiters, unter dem die folgenden Zeilen standen:

„Ein Volk, ein Führer und ein Reich,
Vor dem Gesetz ist jeder gleich.
Es hungert Grohé unverdrossen
Als Vorbild für die Volksgenossen."

Bereits am Nachmittag erschienen vier Gestapobeamte, aber ihre Versuche, den Schuldigen zu ermitteln, sind, wie man mir sagte, ergebnislos geblieben. Solche Sprüche gehen von Mund zu Mund. Der eben erwähnte Freund hatte auch ein von englischen Fliegern abgeworfenes Blatt gesehen, das alle Einzelheiten über die ungeheuerlichen Auslandsguthaben der obersten Führergarnitur enthielt. Trotz seiner großen Zurückhaltung hatte ich den Eindruck, daß man dem amerikanischen Journalisten mehr Glauben schenkt als den Ableugnungsversuchen des deutschen Propagandadienstes.

Die Zeitungen veröffentlichen Todesanzeigen über die Gefallenen. Man schneidet sie aus, spricht im eng vertrauten Kreise darüber, und jeder bangt um das Schicksal von Angehörigen, die im Felde stehen. X. und Y. sind in den Abendstunden vollkommen verdunkelt. Man lebt in der Furcht, daß das Kriegsgespenst näherrücken könnte. Die an mich gerichteten Fragen zeigten, wie diskreditiert der amtliche Nachrichtendienst ist. Viel Neues konnte ich den Fragern allerdings nicht berichten.

In einem großen Lokal in X. hörte ich mir die Übertragung eines Berichtes des UBootkommandanten an, der das englische Flugzeugmutterschiff „Courageous" versenkt hat. Ich war erstaunt über die geringe Wirkung auf das Publikum. Man hörte bitterernst und beinahe gedrückt zu; von der Begeisterung, die der Rundfunkansager immer wieder herausforderte, keine Spur. Ich hatte den Eindruck, daß die Walze der Kriegspropaganda und Stimmungsmache bereits abgelaufen ist, ehe sie noch richtig eingesetzt hat. Von dem „Siege" über Polen sprach in der ersten Oktoberhälfte kaum noch ein Mensch.

Diese acht Tage in Westdeutschland haben mir einen Gesamteindruck verschafft, freilich im negativen Sinne. Ich fand gar keine Kriegsbegeisterung, nicht viel Vertrauen zu den Lenkern des Dritten Reiches, umso mehr Sorge, Beengtheit, Angst vor der Zukunft und vielseitigen unterirdischen Groll. Es war nicht die Stille vor dem Sturm, aber eine atmosphärische Schwüle voller Spannungen um das Ungewisse. Die Basis dieses Regimes ist im tiefsten erschüttert und es bedarf vielleicht nur einiger heftiger Stöße, erster militärischer Niederlagen und verzweifelter Hungerrevolten, um dieses Kartenhaus der Macht und des Scheins zu stürzen.

2. Keine Kriegsbegeisterung

Wir haben auf Grund unserer Berichte bis in die letzte Zeit hinein immer wieder feststellen können, daß das deutsche Volk in seiner überwältigenden Mehrheit keinen Krieg wollte. Wenn es schließlich doch den Nazis gelungen war, für den Krieg gegen Polen in weiten Kreisen Stimmung zu machen, so nur deshalb, weil dieser Krieg nicht ernst genommen wurde und die meisten Menschen angesichts der Erfahrungen mit der Tschechoslowakei nicht daran glauben wollten, daß das Vorgehen gegen Polen zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den Westmächten zur Folge haben würde. Deshalb auch die weitverbreitete naive Vorstellung, daß es nach dem polnischen Feldzug schnell wieder Frieden geben könnte. (Hitlers „Friedensoffensive" war mit Rücksicht auf diese Vorstellung weitgehend innenpolitisch motiviert.)

Die nachstehenden Berichte lassen übereinstimmend diese Kriegsmüdigkeit erkennen.

Bayern

Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung hofft noch immer, daß die Franzosen doch nicht mitmachen werden und die Sache deshalb bald zu Ende gehe. Allerdings sind es meist die Kritiklosen, die noch immer blindlings alles glauben, was in der Zeitung steht oder ihnen von einem Naziredner vorgeschwätzt wird. Die politisch Denkenden rechnen dagegen vielmehr damit, daß England und Frankreich Deutschland niederringen werden, selbst wenn noch Rußland an der Seite Deutschlands in den Krieg eingreifen würde.

Südwestdeutschland

1
Bericht: Von den Nazikreisen, insbesondere von der SS und SA werden ganz systematisch und offenbar auf Anweisung der Parteileitung immer wieder Gerüchte darüber verbreitet, daß die Franzosen angeblich nicht kämpfen wollen. Deshalb lasse auch die französische Regierung am Westwall nicht richtig angreifen. Bei Weil a. Rhein hätten die Franzosen ein großes Transparent aufgestellt, auf dem stände: „Deutsche Brüder schießt nicht, wir schießen auch nicht für England." Oder ein anderes Märchen; Es kämen Franzosen bis in die Mitte des Rheines geschwommen. Dort unterhielten sie sich dann mit den badenden deutschen Soldaten und sagten ihnen, sie würden eher auf die Engländer schießen als auf die Deutschen. Die französische Regierung sei gezwungen gewesen, die französischen Truppen vom Rhein zurückzuziehen, und jetzt wären dort nur noch Schwarze aufgestellt.

2. Bericht: Die ständig angeordnete Verdunkelung macht sehr böses Blut, da sie als Schikane angesehen wird. Früher lasen die Leute in den Zeitungen, daß ankommende Flieger so frühzeitig gehört würden, daß genügend Zeit für den Alarm übrig bleibt, und nun müssen sie Abend für Abend verdunkeln. Dabei wird streng kontrolliert und in jedem Polizeibericht kann man eine oder mehrere Anzeigen wegen nicht genügend durchgeführter Verdunkelung lesen. Am Sonntag, den 24. September wurde das erste Mal bei uns Fliegeralarm gegeben, als französische Flieger Friedrichshafen angriffen. Dabei herrschte in der Kreisstadt X. ein ganz fürchterliches Durcheinander. Das gleiche wird übrigens auch aus den anderen Orten gemeldet. Viele Einwohner weigerten sich, in die Keller zu gehen, und die Polizei und Hilfspolizei raste förmlich in der Stadt herum, manchmal wie wahnsinnig, um die Leute in den Keller zu zwingen. Die Leute sagten, es fällt uns gar nicht ein, dieses Affentheater dauernd mitzumachen. Sogar Beamte weigerten sich, in die Keller zu gehen. Die Dümmsten und die Folgsamsten waren natürlich wieder die Proleten. Die befolgen alles treuherzig. Viele legten sich einfach ins Bett, so daß in verschiedenen Häusern die Blockwarte mit der Anzeige bei der Polizei drohen mußten. Am aufgeregtesten waren die sogenannten Hilfspolizisten, von denen es eine Unmenge gibt. Es sind meistens ältere Geschäftsleute, die gedient haben. Man steckt sie in die alten grünen GendarmerieUniformen und gibt ihnen eine gelbe Armbinde.

Am 26. September gingen die wildesten Gerüchte über die Bombardierung von Friedrichshafen um. In X. wollte man sowohl das Schießen als auch den Einschlag von Bomben gehört haben. Am Tage darauf wurde dann die ganze Sache in der Zeitung dementiert und den „blöden" Schwätzern mit Einsperren gedroht.

Mitteldeutschland

Nachdem nun der Krieg in Polen durch das 3 Eingreifen von Rußland schneller beendigt worden ist, als man allgemein angenommen hat, blieb immer noch die Hauptfrage, wie wird sich England und Frankreich dazu stellen. Die Nazis und ihre Mitschreier sind natürlich der Ansicht, daß es jetzt mit dem Weltreich England vorbei wäre, da man ja doch in Frankreich keine Lust habe, sich für England zu schlagen. Natürlich ist dabei der Wunsch der Vater des Gedankens.

Überall wird unter der Bevölkerung davon gesprochen, daß diejenigen, die bislang am meisten in einer Uniform herumgelaufen sind, jetzt hübsch daheim in Zivil herumlaufen, während die früheren Zivilisten beim Militär sind.

Die Briefe, die die Eingezogenen nach Hause senden, tragen auch nicht zur Hebung der Stimmung bei, ob sie nun aus einer Garnison, einem Bunker an der Westfront oder aus dem Osten kommen. Die älteren Jahrgänge, etwa von 3035 Jahren, die zur Ausbildung eingezogen worden sind, beklagen sich bitter über den Schliff und die schikanöse Behandlung durch ganz junges Ausbildungspersonal. Es muß da noch schlimmer sein, wie im letzten Kriege. Erst gestern sagte mir ein Bauer, der gerade auf Urlaub ist, daß die Behandlung genau so ist, wie er es in dem Film „Im Westen nichts Neues" seinerzeit mit dem Feldwebel Himmelstoß gesehen habe. Auch bei ihnen mußten schon Leute unter den Tisch kriechen. Er allerdings habe sich in einem Falle geweigert und erklärt, er werde sich beschweren. Die Behandlung durch die Offiziere wird im allgemeinen als erträglicher empfunden als die durch die Unteroffiziere und Feldwebel. Dagegen wird das Essen überall gelobt. Die meisten erklären, daß die Soldaten besseres Essen bekämen, als es sich die arbeitende Bevölkerung erlauben könne. Jedenfalls haben die Soldaten mehr, als was die Zivilbevölkerung auf Karten erhält.

In den Bevölkerungskreisen, in denen etwas politische Schulung vorhanden ist und die die Dinge etwas nüchterner betrachten, glaubt man nicht an ein baldiges Ende des Krieges. Ebenso glaubt man in diesen Kreisen nicht daran, daß Rußland eine so gute Stütze sein werde, wie es in den offiziösen Auslassungen immer dargestellt wird. Ich höre immer wieder sagen: entweder sind wir 6 Jahre lang über Rußland angelogen worden oder wir werden jetzt angelogen. So schnell könne sich doch ein so verwahrloster Staat, wie Rußland uns immer geschildert worden ist, unmöglich umgestellt haben. Viele meinen, daß das Friedensangebot Hitlers schon so ausfallen werde, daß die Westmächte es unmöglich annehmen können und es sei ja auch nur der Zweck des ganzen Friedensgetues, der Bevölkerung vorzumachen, daß die Engländer an allem Schuld wären.

Westdeutschland: Das einzige, was vielleicht ganz objektiv stimmungsmäßig festgehalten werden kann, ist das Verhalten der Soldaten.

Erinnert man sich der Ausbrüche im Jahre 1914 und vergleicht sie mit den heutigen ersten Kriegstagen und auch den Waffentaten in Polen, dann kommt man unwillkürlich zu der Schlußfolgerung, daß es bei den Soldaten mit der Stimmung sehr flau aussieht. Begeisterung ist da wirklich nicht vorhanden. Wie sich das in den Kämpfen im Westen auswirken wird, wo man ja keine Polen vor sich hat, das muß abgewartet werden. Sonst ist es so, daß die Volksmassen sehr viel das Wort gebrauchen, daß dieser Krieg nicht solange dauern werde wie der letzte, denn man habe ja jetzt schon nichts mehr zu fressen. In Nazikreisen und in den Reihen der mit ihnen Sympathisierenden ist man überzeugt, daß der Krieg gewonnen wird.

Zum Schluß aber nochmals: es ist jetzt ganz unmöglich, ein Bild von der wahren Stimmung in der Mehrheit des Volkes zu geben. Alles ist noch im Fluß. Ohne einen kräftigen Aderlaß im Westen werden die Massen auch kaum zum Nachdenken gebracht werden können.

Diese weitverbreitete Kriegsmüdigkeit darf aber nicht zu dem Trugschluß verleiten, daß sie sehr bald zu einer ernsthaften Erschütterung des Regimes führen werde. Die beiden nachstehenden Berichte lassen keinen Zweifel darüber, daß mit einer solchen Erschütterung erst im Gefolge noch ganz anderer Entbehrungen und vor allem einer empfindlichen militärischen Niederlage gerechnet werden kann.

Südwestdeutschland

1. Bericht: Die Ansicht aller verständig und real denkenden Menschen stimmt zur Zeit darin überein, daß auf eine Revolution oder selbst auf die Anfänge einer Umwälzung fürs erste nicht gerechnet werden kann. Trotz allem Mangel sind die Voraussetzungen dafür noch nicht vorhanden. Erst wenn der Hunger noch mehr anklopft und die Nerven zermürbt hat und vor allen Dingen, wenn es den Westmächten gelingen würde, im Westen Erfolge zu erzielen und deutschen Boden in größerem Umfange zu besetzen, dürfte die Zeit zu einem Umsturz heranreifen.

2. Bericht: Gewiß ist die Unzufriedenheit in weiten Kreisen groß. Aber daß schon in kurzer Zeit eine Revolution ausbrechen könnte, ist jetzt noch völlig ausgeschlossen. Ich selbst glaube und hoffe, daß sie kommt. Aber es wird wohl bis dahin noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen und es wird sehr viel Blut dafür bezahlt werden müssen.

3. Sabotage?

Diese Feststellungen jahrelang erprobter Beobachter behalten ihr Gewicht auch allen Meldungen gegenüber, die von zahlreichen Sabotageakten im Reich wissen wollen. Unsere Berichterstattung aus den Betrieben hat in den letzten Jahren umfangreiches Material darüber zusammengetragen, wie die Arbeitsstätten immer schärfer überwacht, immer mehr mit Spitzeln und Spähern durchsetzt worden sind. Solange daher die allgemeine Stimmung nicht reif für eine Erhebung des Volkes ist, solange kann es auch nur vereinzelte Fälle von aktiver Sabotage geben. Das schließt nicht aus, daß das Land von Gerüchten über solche Akte erfüllt sein kann. Die Entstehung solcher Gerüchte ist die zwangsläufige Folge der Unterdrückung der öffentlichen Meinung und bildet seit langem ein bezeichnendes Merkmal jener nichtöffentlichen Meinung, die die Diktatur zwar mit allen Mitteln bekämpfen, aber nicht ausrotten kann.

Als ein verbürgter Fall von Sabotage kann infolgedessen unter den nachstehenden Berichten nur die an erster Stelle wiedergegebene Meldung angesehen werden, die wir allerdings ohne Herkunftsbezeichnung bringen müssen.

Mitte September ist im Hafengebiet X. ein wohlgelungener Sabotageakt verübt worden. Gerade in der Nacht, wo eine große Menge GranatenRohlinge für Y. im Leichter verladen werden sollten. Ein Arbeiter hatte in die Hafentransformatorenstation einen Schraubenschlüssel praktiziert, wodurch Kurzschluß entstanden war. Die Reparatur dauerte bis zum nächsten Nachmittag. Man hat ihn nicht erwischt. Alles glaubte an Fliegeralarm mit Verdunkelung. Erst nachdem man den Schraubenschlüssel gefunden hatte, stellte man fest, daß es sich nur um einen Sabotageakt handeln konnte. Da der Kurzschluß fachmännisch herbeigeführt war, verhaftete man den Hafenelektriker, der außerdem die Schlüssel zum Raum besaß. Man mußte ihn aber freilassen, da die Untersuchung ergab, daß er z. Zt. der Sabotage nicht im Hafengebäude war. Seitdem streut man das Gerücht aus, daß französische Spione die Hand im Spiele hätten. Dadurch ist die Tatsache der Sabotage im ganzen Bezirk erst richtig bekannt geworden. Wer aber öffentlich über den Fall spricht, wird verhaftet.

Provinz Brandenburg

Am 22. September 6 Uhr früh gab es eine mysteriöse Explosion im Autobahnring Flur Vogelsdorf, bei der es 18 Tote und 23 Verletzte gab. Es wird behauptet, daß ein Rangsdorf er Flieger eine Bombe verloren habe.

Berlin

In den Berliner Asphaltwerken ereignete sich in der Nacht zum 16. September eine Explosion, die 11 Tote und 38 Verletzte zur Folge hatte. Es durfte öffentlich nichts über diese Explosion berichtet werden. Ebenso wird ein Brand verheimlicht, der am 19. September in einem Petroleumdepot am Spandauer Schiffahrtskanal in der Nähe der Torfstraße ausgebrochen ist.

Die Gasanstalten in der Danzigerstraße sind seit dem 22. September militärisch besetzt, weil in den dunklen Nächten Sabotageakte befürchtet werden.

4. Die Einstellung zum Russenpakt

Auch die Reaktion der Bevölkerung auf den Abschluß des Russenpaktes läßt sich noch nicht vollständig übersehen. Diese Reaktion kann nicht einheitlich sein. Die Stellung zum Bolschewismus war in den einzelnen Bevölkerungsschichten bis zuletzt verschieden.

War auch die kommunistische Parteiorganisation  nicht nur die legale, sondern auch die illegale  vollständig zerschlagen, so gab es doch noch immer kommunistische Arbeiter, die daran glaubten, daß auch das deutsche Proletariat eines Tages durch den Bolschewismus erlöst würde.

Im Bürgertum und in der Bauernschaft war die Angst vor dem Bolschewismus, von der NaziPropaganda systematisch genährt, lange Zeit so stark verbreitet, daß man den Bolschewistenschreck geradezu als eine negative Massengrundlage des Regimes bezeichnen konnte. Diese Angst vor dem Bolschewismus hatte zweifellos schon vor der Einstellung der antibolschewistischen Propaganda an Wirkung erheblich eingebüßt, vor allem weil die zwangswirtschaftlichen Maßnahmen das Regime / gerade in bürgerlichen und bäuerlichen Kreisen immer mehr als „braunen Bolschewismus" erscheinen ließen. Trotzdem hat in diesen Kreisen das Zusammengehen der Nazis mit den Russen den größten Schock ausgelöst.

Auch in den Reihen der Nazis selbst hat der Russenpakt ein großes Durcheinander angerichtet. Es fehlt allerdings auch nicht an Parteigängern, die auch in dieser Sache mit dem „Führer" durch dick und dünn gehen.

Unseren Berichten entnehmen wir:

Oberschlesien

Der Abschluß des deutschrussischen Nichtangriffspaktes hat wie eine Bombe eingeschlagen. Die größte Überraschung rief er in der Arbeiterschaft und insbesondere bei den Nazis hervor. In den Kreisen der Industrie war man dagegen seit Wochen darauf vorbereitet, daß mit Rußland weitgehende Abmachungen zustande kommen werden. Dabei hat man in diesen Kreisen immer wieder darauf verwiesen, daß zwischen den deutschen und den russischen Militärs nach wie vor Verbindungen beständen. Man hatte erfahren, daß hohe Offiziere im Kriegsministerium in der letzten Zeit darauf verwiesen, daß ein Zweifrontenkrieg nunmehr unvermeidlich geworden sei, daß er aber erst begonnen werden könne, wenn es gelungen sei, Rußland zur Neutralität zu bewegen. Mit dem Abschluß des russischdeutschen Nichtangriffspaktes ist das Ziel der Wehrmachtkreise erreicht. Er wird gewissermaßen als ein Sieg der Wehrmacht über den Führer betrachtet, der in militärischen Fragen bei weitem nicht mehr die Handlungsfreiheit besitzt, die man ihm zuschreibt. In diesen Kreisen hat man große Sorge, daß der Krieg auch eine Angleichung der Nazimethoden an die bolschewistischen Methoden auf dem Gebiet der Wirtschaft bringen könnte.

Auch die Nazis hatten zuletzt in ihrer Agitation schon angedeutet, daß es dem Führer gelingen werde, noch vor Beginn des Krieges Rußland zur Neutralität zu bewegen. Als aber der Abschluß des Paktes zwischen Moskau und Berlin bekannt wurde, erlitten doch die führenden Nazis einen Schock, weil sie auf ein so weitgehendes Abkommen mit dem Bolschewismus nicht gefaßt waren. Aber in diesen Kreisen ist man auch in diesem Falle mit einer Entschuldigung rasch bei der Hand: „Der Führer weiß, was er tut!" Eine Diskussion über die Bedeutung des Paktes ist den Nazis untersagt und in den Betrieben gehen die Nazis auf die Anzapfung ihrer Arbeitskollegen nicht ein. Sie sagen nur, daß, nachdem die ganze Welt gegen Deutschland ist und Polen zu einem Kriege gegen das Reich hetzt, es nur natürlich sei, daß der Führer neue Bundesgenossen suchen muß. Aber zweifellos ist das Ganze den Nazis höchst unangenehm, denn ihr bestes Agitationsstück, der Bolschewismus, ist nun erledigt.

In einem Teil des Mittelstandes, soweit er nicht den Nazis nachläuft, hat man schon bisher auf die braunen Bolschewisten geschimpft, die sich in nichts von den Moskauern unterscheiden. In diesen Kreisen ist man jetzt der Uberzeugung, daß der Pakt mit Moskau dem Bolschewismus den Weg nach Deutschland freigemacht habe. Der Pakt sei ein verzweifelter Versuch Hitlers, sich selbst mit Hilfe der Sowjets an der Macht zu erhalten.

Am niederschmetterndsten war die Wirkung des Paktabschlusses in der Arbeiterschaft. Stalin hat die gesamte internationale Arbeiterbewegung verraten, hieß es, und Diktatoren sind eben zu jedem Verrat fähig, wenn es sich um die Erhaltung ihrer Macht handelt. Nun sei es erwiesen, daß zwischen Hitler und Stalin kein Unterschied bestehe. Zum Verständnis dieser Reaktion muß man wissen, daß bei uns innerhalb der Arbeiterschaft seit den letzten Jahren eine gemeinsame Kampffront gegen das Nazisystem bestand und insbesondere in den letzten Monaten die Gegensätze zwischen Kommunisten, Gewerkschaftlern und Sozialdemokraten gegenüber dem Kampf gegen den gemeinsamen Gegner sehr zurückgetreten waren.

Soweit im oberschlesischen Industriegebiet die Stimmung in den Betrieben übersehen werden kann, gibt es unter den früheren Kommunisten nur ein Urteil: Moskau hat an der Arbeiterbewegung den ungeheuerlichsten Verrat getrieben. Bolschewismus und Nationalsozialismus in einer Front, das kann sich nur gegen die Arbeiterbewegung auswirken. Am deutlichsten kam diese Stimmung auf der Hedwigswunschgrube bei Hindenburg zum Ausdruck, wo kurz nach dem Paktabschluß morgens auf einer der Fahrtstrecken eine große Kreideanschrift zu lesen war: „Nieder mit Stalin und Hitler  Es lebe die freie Republik!" Die Nazis haben zwar diese Aufschrift rasch entfernt, aber sie wurde auf der Grube viel diskutiert und fand allgemeine Zustimmung.

Die früheren Freigewerkschaftler und Sozialdemokraten erinnern sich der Tatsache, daß die Kommunisten schon einmal in einer Front mit den Nationalsozialisten gestanden haben, nämlich bei der „roten Volksabstimmung" gegen die preußische Regierung BraunSevering im Jahre 1931. Sie sehen in dem Bündnis Hitlers mit Stalin ein Zeichen der großen Schwäche des Systems, die Hitler zu diesem verzweifelten Schritt genötigt hat.

Berlin

1. Bericht: Das deutschrussische Abkommen und die Fahrt Ribbentrops nach Moskau kam allen zunächst wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß die meisten zunächst regelrecht die Sprache verloren hatten. In den nächsten Tagen konnte man dann den Eindruck gewinnen, daß jene SA-Leute, die ehemals dem Roten FrontkämpferBund angehört hatten, den Auftrag hatten, die neue Wendung der Nazipolitik in den Betrieben zu feiern. Sie fanden aber eigentlich nirgends die Kraft dazu. Ein solcher ehemaliger RFBMann, der später beim SASturm Maikowski war, sagte: „Ich bezweifle sehr, daß hier Stalin etwas für uns erreicht hat. Hitler ist doch so eng mit dem Kapital verbunden, daß er, wenn wir jetzt etwa hier Sowjets bilden wollten, die ganze Armee gegen uns loslassen würde, wie damals 1919 in Bayern."

Viele ehemalige Gewerkschaftler empfinden das Abkommen als eine Bestätigung ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Kommunisten und sagen: „Wir haben doch immer gewußt, daß die Brüder noch einmal zusammengehen werden. Wenn es einmal wieder Demokratie gibt, werden sie wenigstens gleich beide erledigt sein." Es hat aber auch regelrechte Wutausbrüche gegen die kommunistischen Drahtzieher gegeben, und wer jetzt im Betrieb sich als Verfechter des deutsch-russischen Paktes bekennt, fällt bei den alten Arbeitern radikal ab, ganz gleich, ob es sich bei dem Russenfreund um einen Provokateur oder um einen ehrlich überzeugten Kommunisten handelt.

Es wird jetzt sehr viel mit Provokateuren gearbeitet, die die abenteuerlichsten Gerüchte in die Welt setzen. So wollen einige wissen, Dimitroff sei bereits in Berlin eingetroffen und die Nazis wollten den deutschen Arbeitern die Deutsche Arbeitsfront „wiedergeben".

2. Bericht: Es ist erstaunlich, mit welchem Mißtrauen man in Deutschland der neuen Freundschaft Hitler-Stalin begegnet. Je mehr die offizielle Propaganda von der russischen wirtschaftlichen Hilfe spricht, desto stärker werden die Zweifel, ob man nicht hereingelegt sei, ob Stalin nicht nur dem Hitler Mut machen wollte zum Absprung in den Krieg und ihn nun im Stich ließe. Diese Zweifel kommen aus der nazistischen Bevölkerung. Unsere eigenen Leute und auch Kommunisten, die an die russische Mitwirkung innerhalb der Friedensfront der Westmächte glaubten, äußern derartige Zweifel nicht, sondern sind vom 100%-igen Verrat Stalins überzeugt.

Rheinland-Westfalen

Die Kommunisten fühlen sich betrogen und sie bringen in den Unterhaltungen im Betrieb oft deutlich zum Ausdruck, daß die Vereinbarung Hitler-Stalin eine furchtbare Enttäuschung für sie ist. Sie sehen alles grau in grau, weil sie nun alle ihre Hoffnungen auf die Zukunft begraben müssen. Mancher von ihnen hatte noch immer den Traum von der Diktatur des Proletariats nicht aufgegeben. Sie sind jetzt ganz fassungslos.

Jetzt erfährt auch die ablehnende Haltung der ehemaligen Sozialdemokraten bei all den früheren Einheitsfrontsmanövern in den Augen der Kommunisten ihre Rechtfertigung. Das Ansehen der Sozialdemokraten ist mit einem Schlage ganz erheblich gestiegen und oft sagt man ihnen, daß die Demokratie wohl doch das Beste sei.

Immerhin gibt es auch heute noch Leute, die die Politik Rußlands für richtig halten und die die Schuld an einer Fortsetzung des Krieges den Westmächten zuschieben möchten. Eine solche Haltung macht aber auf die deutsche Arbeiterschaft im allgemeinen keinen Eindruck mehr. Im Gegenteil: Man flüstert sich zu, daß diese Propagandisten offenbar im Dienste der Gestapo stünden. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um ehemals führende KPD-Leute. Die Opposition gegen Hitler hat mit Leuten dieser Art nichts mehr gemein.

Nur wer unter der Hitlerdiktatur leben muß, kann diesen Verrat in seiner ganzen Gemeinheit beurteilen. Auch unter den Nichtkommuni-sten gab es Leute, die außenpolitische Hoffnungen auf Rußland gesetzt hatten. Jetzt empfinden sie nicht nur bittere Enttäuschung, sondern sagen auch: Hitler ist Stalin und Stalin ist Hitler, beide sind einander wert. Eins ist sicher: In Deutschland wird der Kommunismus im Innern keine Gefahr mehr bedeuten.

Südwestdeutschland

1. Bericht: Das Bündnis mit den Bolschewiki? Ja, wir alten Sozialdemokraten waren im Innern furchtbar betroffen. Was haben wir über die Engländer und Franzosen bei der Rheinlandbesetzung, der Annexion Österreichs und der Tschechoslowakei usw. geschimpft, daß diese demokratischen Schlappschwänze sich alles gefallen ließen, während wir beim Kampf in Spanien fast mit etwas Achtung auf die Russen sahen, die im Interventionsausschuß so auftrumpften. Und jetzt kämpfen die Engländer und Franzosen gegen den Nazismus, und die angeblichen Todfeinde der Nazis, die Bolschewiki fallen den Demokratien in den Rücken!

Bei uns ist man ganz allgemein überzeugt davon, daß es auch noch zwischen Hitler und Stalin zum Militärbündnis kommen wird und die Diktaturen gemeinschaftlich gegen die Westmächte marschieren werden. Nach unserer Auffassung werden sich Hitler und Stalin nicht beschwindeln, denn sie wollen doch Polen behalten.

2. Bericht: An den Nazis rächt es sich jetzt, daß sie in ihren Zeitunungen die Lage in Rußland immer so hingestellt haben, als ob die russische Armee nichts wert sei, die Produktion nichts tauge und das Land überhaupt am Verhungern wäre. Jetzt wollen die Nazis auf einmal Rußland als Musterstaat hinstellen. Das ist doch etwas zuviel auf einmal. Die Leute erinnern sich der früheren Mitteilungen über die Mißwirtschaft in Rußland und sagen nun ganz offen: „Entweder sind wir über Rußland früher elend angelogen worden, oder werden es nun heute."

Bayern

Was nun das Eingreifen der Russen in Polen anbelangt, so geht die Meinung in Arbeiterkreisen dahin, daß sich Hitler damit eine Laus in den Pelz gesetzt habe, die er Zeit seines Lebens nie wieder herauskriegen wird. Rußland werde nun diesen Teil Polens bolschewistisch machen und damit stehe der Bolschewismus an der Reichsgrenze. Stalin werde später, wenn England und Frankreich verblutet seien, leichtes Spiel haben und der Kommunismus werde weiter vordringen.

Ein anderer Teil der Bevölkerung kann wieder nicht verstehen, daß Hitler Galizien mit seinen Ölquellen und die Ukraine an die Russen abgetreten habe. In „Mein Kampf" nehme doch gerade die Ukraine und deren Kolonisierung durch Deutschland einen breiten Raum ein. Manche meinen, es wäre bald an der Zeit, daß das Buch Hitlers aus dem Buchhandel zurückgezogen werde, denn Hitler mache heute genau das Gegenteil, was er in seinem Buche geschrieben habe. Ein Volksschullehrer sagte letzthin: „Jetzt muß man in der Schule recht vorsichtig sein. Auf einmal liest man aus Hitlers Buch ,Mein Kampf etwas vor und dann kommt man nach Dachau wegen Verächtlichmachung der jetzigen Regierung!"

Soweit man übersehen kann, sind große Teile der SA, besonders diejenigen, die früher im Kampf gegen die „Kommune" gestanden haben, mit dem Pakt mit Rußland nicht einverstanden. Es gehen bereits die tollsten Gerüchte umher. Es seien schon viele Tausende der „alten Kämpfer" im KZ. Eine große Anzahl sei auch schon erschossen worden.

Mitteldeutschland

Daß die Russen die besten Gebiete Polens erhalten haben, will den Leuten fast nicht in den Kopf. Selbst den eingefleischtesten Nazis nicht. Diese trösten sich nun damit, daß ja noch nicht aller Tage Abend sei und es bestimmt in der Zukunft möglich wäre, diese Gebiete, vor allen Dingen die Ukraine doch noch zu holen.

5. Die Haltung der Arbeiter

Einige Berichterstatter äußern sich über die Einstellung der Arbeiter. Ihren Berichten muß man entnehmen, daß von einem Erstarken des Widerstandes in den Betrieben noch keine Rede sein kann, nicht zuletzt, weil die Militarisierung und das Terrorregiment in den Betrieben einen früher unvorstellbaren Grad erreicht hat.

Westdeutschland

1. Bericht: Ich bin Antifaschist, immer gewerkschaftlich organisiert gewesen und habe nie einer politischen Partei angehört. Bei den Wahlen vor Hitler habe ich teils kommunistisch, teils sozialdemokratisch gewählt. Heute bin ich Zwangsmitglied der DAF. Bei meiner Firma arbeite ich seit 12 Jahren. In meiner 37-jährigen Berufszeit habe ich eine solche Zeit wie die heutige noch nicht mitgemacht. Alle Rechte sind verloren. Man steht ständig unter Aufsicht, darf sich nicht beschweren, nichts sagen, muß alles schlucken, wenn man nicht verhaftet werden will. Bei uns regiert das Militär. Es wird Tag und Nacht gearbeitet und das alles zum selben Lohn. Ich möchte aus meinem Beruf heraus, aber Göring hat den Berufswechsel ebenso verboten wie den Wechsel des Arbeitsplatzes.

In unserem Beruf herrscht allgemein Unzufriedenheit wegen des Lohnes, wegen der sozialen Zustände überhaupt, und wegen der unzähligen Polizeischikanen.

Was nach Hitler kommt, weiß ich nicht, wahrscheinlich die Demokratie wie früher. Den Kommunismus lehne ich ab; obwohl ich früher mehrere Male kommunistisch gewählt habe. Heute sehe ich klar, daß Kommunismus dasselbe ist wie Hitler. Hitler aber wird an Moskau selbst mit kaputtgehen. England und Frankreich werden bestimmen, was nach dem Kriege kommt.

2. Bericht: (Niederschrift über ein Gespräch mit einem . . . Arbeiter)

Frage: „Wie sind die Arbeitsverhältnisse?"

Antwort: „Sie gleichen denen im letzten Weltkrieg, mit der Ausnahme, daß die Militarisierung in unserem Beruf jetzt vollständig ist. Von Tarifen, Überstundenbezahlung ist keine Rede mehr. Der Unternehmer beherrscht in allem die Situation. Man ist ihm völlig ausgeliefert."

Frage: „Wie denkt die Arbeiterschaft über den Krieg?"

Antwort: „Daß der Krieg kommen würde, war den meisten seit langem klar. Es herrschte bereits im Vorjahre anläßlich der tschechoslowakischen Sache die Meinung, daß Hitler entweder den Krieg machen müßte, oder daß er scheitern würde. Die Arbeiterschaft verurteilt mit geringen Ausnahmen Hitler und diejenigen, die für diesen Krieg verantwortlich sind. Sie wartet auf die Niederlage der Nazis; von Begeisterung ist keine Spur in Deutschland zu finden. Die Niederlage wird den Sturz Hitlers bedeuten. Darüber sind sich alle einig."

Frage: „Welche Strömungen machen sich innerhalb der Opposition bemerkbar?"

Antwort: „In der . . . merkt man wenig von einer Opposition. Der Kommunismus wird mit dem Nazismus in einen Topf geworfen. Niemand verteidigt die Moskauer, außer den Nazis, die früher in der KPD und im ,Roten Frontkämpferbund' waren."

Frage: „Was ist die Meinung der Arbeiter über den Pakt mit der Sowjetunion?"

Antwort: „Die Arbeiter verstehen das ganze überhaupt nicht. Einige Meinungen gehen dahin, daß sich Hitler durch den Pakt eine Galgenfrist erkauft hat, daß er aber nicht mehr aus der Schlinge herauskommen wird. Ohne Moskau wäre die Sache nur schneller erledigt gewesen. Vielleicht wäre sogar der Krieg überhaupt vermieden worden."

Frage: „Wie steht es mit der Lebensmittel- und Kleidungsfrage?"

Antwort: „Alles geht nach Karte, soweit der Vorrat reicht. Viele Lebensmittel sind trotz Karten nicht zu haben. Die Qualität der Waren läßt nach. Kleidung ist nicht immer zu erhalten. Sie soll angeblich in erster Linie für den Winter aufgespart werden. Es herrscht ölmangel für Maschinen aller Art. Die Kohlenversorgung für Süddeutschland und Österreich ist stark gefährdet."

Frage: „Wie ist die Allgemeinstimmung?"

Antwort: „Der Bürger ersehnt den Frieden, weil er nie an einen großen Krieg geglaubt hat. Man hat das Volk falsch unterrichtet. Die Gesamtstimmung ist ängstlich und deprimiert. Englische Flugblätter sind über dem Ruhrgebiet abgeworfen und von der Bevölkerung aufgenommen worden. Die Äußerungen darüber sind sehr zurückhaltend. Schulkinder müssen die Flugblätter aufsammeln und in der Schule abliefern."

Frage: „Wie denkst Du über den Ausgang des Krieges?"

Antwort: „Ich hasse den Krieg, aber er mußte kommen, weil die Nazis keinen anderen Ausweg hatten. Hitler wird diesen Krieg verlieren und die Nazis werden gestürzt werden. Es ist nur ein Jammer, daß die Arbeiterschaft wieder die meisten Opfer bringen muß."

Frage: „Welches Bild machst Du Dir über das neue Deutschland?"

Antwort: „Ich weiß mir kein genaues Bild zu machen. Ich denke, das frühere System wäre gut."

Berlin

Die Vermutung, daß sich mit Kriegsausbruch die Arbeiter stärker gegen den Lohnabbau wehren würden, stellt sich bisher als irrig heraus. Jeder ist vielmehr froh, wenn er erreicht, als unabkömmlich klassifiziert zu werden. Außerdem hat er als Rüstungsarbeiter immer noch bessere Ernährung als die anderen Arbeiter. Zur Zeit gibt es nur die eine Parole: „Bloß nicht an die Westfront!" Davor hat jeder Angst. Es mehren sich sogar schon die Fälle, wo sich Arbeiter freiwillig zu den Landesschützen melden, weil sie hoffen, dann den Krieg als Feldpolizei in Polen verbringen zu können.

6. Der Propagandakrieg

Gleich zu Beginn des Krieges wurde das Abhören ausländischer Sender unter Strafe gestellt. (Zuchthaus-, in leichteren Fällen Gefängnisstrafen). Die Weiterverbreitung so empfangener Nachrichten wurde mit Zuchthausstrafe, in schweren Fällen mit Todesstrafe bedroht. Trotzdem werden die ausländischen Sendungen abgehört. Darüber wird uns berichtet:

Südwestdeutschland

1. Bericht: Das strenge Verbot, ausländische Sender abzuhören, wird nur in den wenigsten Fällen beachtet. So wurde einwandfrei beobachtet, daß führende Nazis mittags jeweils die Schweizer Sender abhören. Ich komme zu vielen Leuten, die mir auf Grund unserer jahrelangen Bekanntschaft Vertrauen schenken. Diese erzählen mir dann oft, daß sie aus bestimmter Quelle dies und jenes gehört hätten und da ich ja auch zu den Hörern gehöre, kann ich immer feststellen, daß diese Neuigkeiten der Leute „aus bestimmter Quelle" immer von den Auslandssendern stammen. Ich nehme natürlich diese Mitteilungen als wirkliche Neuigkeiten entgegen und hüte mich, erkennen zu lassen, daß ich ihre Quelle kenne.

Mit dem Abhören der Auslandssender muß man allerdings ungeheuer vorsichtig sein, denn es gibt Nachbarn, die einen gern reinlegen möchten. Wir haben auch einen solchen Lumpen in der Nachbarschaft, von dem die Bevölkerung sagt, daß er von der Polizei angestellt sei. Letzte Woche lungerte der Bursche wieder mal in einem Nachbarhofe herum und da passierte es ihm, daß er unvermutet den Inhalt eines Nachttopfes auf den Kopf bekam. Der Bursche verschwand dann, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Nun ist dieser Lump seit ein paar Tagen zum Blockwart des Luftschutzes ernannt worden. Er hat jetzt also das Recht, jederzeit in den Höfen der Mietshäuser herumschnüffeln zu dürfen, um nachzusehen, ob auch die Verdunkelung klappt.

Von großer Wichtigkeit ist, daß die ausländischen Sender sich immer genau an die Wahrheit halten. Der Straßburger Sender hat z. B. am 25. September bei der Bekanntgabe der Warenmengen, die auf Lebensmittelkarten abzugeben sind, genau nach der Wahrheit berichtet. Dann aber brachte er starke Übertreibungen. So teilte er mit, daß man pro Person nur noch fünfzig Gramm Fett in der Woche erhalte und dieses Fett rieche nach Petroleum und es seien schon ganze Familien davon krank geworden. Da ja nun sehr viele Leute die Straßburger Nachrichten hören und diese Leute alles mit dem Fett, das angeblich nach Petroleum rieche, kochen und braten müssen, wirkt es abstoßend, wenn sie solche Übertreibungen hören müssen. Es entsteht dadurch die Gefahr, daß sie auch die wahren Nachrichten schließlich nicht mehr glauben.

Ferner dürften einzelne Sprecher am Straßburger Sender bei den deutschen Nachrichten etwas langsamer und betonter reden. Manche Sprecher machen geradezu Galopparbeit. Darunter leidet ungemein der Abhörer.

2. Bericht: Daß der Tod von Otto Wels überall bei uns bekannt geworden ist, ist zugleich ein Beweis für die Tatsache, daß trotz aller Verbote doch größere Teile des Volkes die ausländischen Sender einstellen. Denn in den deutschen Zeitungen stand kein Wort davon.

Der Londoner Sender wird seit einiger Zeit stark gestört, so daß man ihn kaum noch versteht. Kann nicht stärker gesendet werden?

Gestern wurde ich von einem Intellektuellen darauf aufmerksam gemacht, ich solle mal abends die deutschen Sendungen im Radio hören und nachher gleich die deutschen Sendungen in französischer Sprache und ich würde dann sicher staunen, welche Unterschiede zwischen den beiden deutschen Mitteilungen bestehen würden. Den Franzosen könne man anscheinend doch nicht alles erzählen, was man dem deutschen Volke vormache.

Rheinland-Westfalen

Der Straßburger und auch der Londoner Sender tragen sehr dazu bei, daß die Arbeiter etwas klar sehen können. Trotz der Gefährlichkeit des Abhörens hören viele die Sender. Man kann das aus den Unterhaltungen entnehmen.

Berlin

In Berlin weiß man vom Tode Otto Wels' durch den englischen Sender. Die deutschsprachigen Berichte werden noch immer und mit größtem Interesse abgehört. Den Nachruf auf General von Fritsch fand man besonders geschickt, weil niemand daran glaubt, daß Fritsch wirklich an der Front gefallen ist. Ebenso anerkennend spricht man sich über eine bereits mehrmals wiederholte Textzusammenstellung und Kommentierung von Hitlerreden aus, die unter dem Titel: „Hitler theoretisch und praktisch" ausgesendet wurde.

Es wird auch schon über die ersten Verhaftungen wegen Abhörens ausländischer Sendungen berichtet.

Süddeutschland

Wegen Abhörens eines ausländischen Senders wurde vorige Woche in X. ein Einwohner festgenommen. Nachbarn hatten bemerkt, daß der Festgenommene wiederholt englische Sender eingestellt hatte, und dies dann zur Anzeige gebracht. Der Festgenommene wurde dem Schnellrichter zugeführt und der schuftige Denunziant bekommt für die Anzeige die üblichen fünf Mark Belohnung.

Die Radiohändler müssen übrigens jeden Verkauf eines Apparates notieren und ganz genau Namen, Straße und Hausnummer des Käufers aufnehmen. Diese Käuferadressen haben sie von Zeit zu Zeit der Polizeiverwaltung mitzuteilen.

Westdeutschland

In A. ist es mit der Radioüberwachung besonders schlimm. Ein Beamter und seine Frau sind vor 14 Tagen verhaftet worden, weil sie angeblich französische Sendungen abgehört haben.

Über den Abwurf von Flugblättern durch englische Flieger liegen bisher nur zwei Berichte vor:

Süddeutschland

Die Flugblätter der englischen Flugzeuge wurden bis jetzt nur in Norddeutschland abgeworfen. Im Volke erzählt man, daß diese Flugblätter in großem Umfange von Hand zu Hand gehen.

In X. sind vor 14 Tagen auch Flugblätter abgeworfen worden. Die Luftschutzwarte mußten dann von Haus zu Haus nachfragen, ob solche Flugblätter aufgefunden worden wären. Die Leute wurden unter Androhung schwerster Strafen angehalten, etwaige Flugblätter abzuliefern.

Rheinland

In Köln sind zweimal Flugblätter durch englische Flugzeuge abgeworfen und auch von vielen gelesen worden. Die Flugblätter haben gewirkt.

Das Regime hält auch bereits Gegenaktionen für notwendig, die die Wirkung der ausländischen Propaganda paralysieren sollen. So wird berichtet:

Süddeutschland

1. Bericht: Den von Flugzeugen abgeworfenen 17 Flugblättern der Engländer setzen jetzt die Nazis eine Gegenaktion entgegen. Zur Zeit werden jede Woche frische Plakate angeschlagen. In diesen Plakaten wird nur von der beabsichtigten Zerstückelung Deutschlands, von der Weltherrschaft der Engländer usw. gesprochen. Danach sollen die Westmächte folgende Kriegsziele haben:

1) Wiederherstellung von Polen, wobei Danzig, Ostpreußen und das restliche Oberschlesien an Polen fallen sollen.
2)
Wiederherstellung der Tschechoslowakei mit Einschluß des Sudetenlandes und eines Teiles von Sachsen und Schlesien.
3) Wiederherstellung von Österreich unter Otto von Habsburg.

4)
Die katholischen Staaten Bayern, Pfalz und Rheinland kommen zu Österreich.
5)
Schaffung eines französischen Protektorats, das Baden, Württemberg und Hessen umfaßt.

Auf diese Art werden alle Register der deutschen Propaganda gezogen. Es gibt natürlich immer wieder Leute, die auch das alles glauben und darum mit einer Verteidigung bis zum äußersten einverstanden sind.

2. Bericht: In den Straßen der Städte sieht man nun wieder die bekannten Transparente meist quer über die Straße gespannt mit den Inschriften: „Der Führer hat immer recht!" Oder: „Führer befiehl, wir folgen!" Oder „Ein Reich, ein Volk, ein Führer!"

Die Geschäftsleute wurden angewiesen, ihre Schaufenster mit dem Bildnis Hitlers zu schmücken und entsprechende Inschriften anzubringen. Manche haben darüber nur ein Schmunzeln und sagen, es muß verdammt schlecht stehen, wenn eine solche Auflackierung notwendig ist. Aber die meisten befolgen die Anweisung, weil sie sich nicht trauen, abseits zu stehen.

Rheinland

Zur Zeit geht eine Versammlungswelle über die Städte und Dörfer. Sie wendet sich an die Frauen, die ihrer Unzufriedenheit mit den Zuständen sehr deutlich Ausdruck geben. Ich glaube aber, daß das alles nichts nützen wird. Hitler wird an dieser Geschichte kaputt gehen. Allerdings wird es lange dauern. Man soll sich durch die allgemeine Unzufriedenheit und die Abneigung gegen die Nazis und gegen den von ihnen heraufbeschworenen Krieg nicht in der Beurteilung der Situation beirren lassen.

7. Gerüchte

Ein Symptom für die Geistesverfassung des deutschen Volkes sind die zahllosen Gerüchte, die das Land durchschwirren. Besonders der Tod des Generalobersten von Fritsch ist Gegenstand solcher Gerüchte.

Süddeutschland

Die Kunde vom Tode des Generals Fritsch wurde von vielen, auch von solchen, die sich nicht getrauen, ausländische Sender abzuhören, mit großem Zweifel aufgenommen. Mißtrauische Fragen, ob Fritsch tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben sei, werden häufig gestellt. Ein Gastwirt, der gerade in der Zeitung die erste Meldung von dem Tode Fritschs las, sagte ganz offen vor den Gästen: „Ist der vielleicht von hinten gefallen?" - Sämtliche Anwesenden sahen einander stumm an. Kein Wort fiel.

Berlin

In Offizierskreisen geht folgende Version über die Hintergründe des Todes des Generals von Fritsch um: Im Juni, als Hitler das Munsterlager besichtigte, wo die für die „Strafexpedition" gegen Polen bereits aufgestellte SS einquartiert war, wurde eine neue Verleumdungskampagne gegen von Fritsch eingeleitet, der damals auf seinem Landgut bei Hannover wohnte. Er soll damals demonstrativ vermieden haben, Hitler, der sich bei der Lagerbesichtigung ganz in seiner Nähe befand, aufzusuchen, und statt dessen eine Gesellschaft aus dem ehemaligen Schleicherkreis zu sich geladen haben.

Am 2. September stellte sich Fritsch seinem Regiment in Schwerin zur Verfügung. Er wurde aber zunächst mit Wissen des Generals von Rundstedt als Beobachter nach Ostpreußen gesandt. Dies war angeblich eine Sicherheitsmaßnahme für den Fall, daß die Russen doch noch den Polen zu Hilfe eilen und bei Suwalki nach Ostpreußen einfallen würden. Für diesen Fall hätte Fritsch eine Sonderarmee gegen die Russen befehligt. Da dieser Eventualfall nicht eintrat, blieb Fritsch ohne Auftrag.

Fritsch soll damals erfahren haben, daß Rundstedt sich aus persönlichem Ehrgeiz zu einer Anklägerrolle gegen Fritsch hergegeben und behauptet habe, daß Fritsch in Ostpreußen sich sehr kritisch über die

Luftwaffe und über die Art des geplanten Einsatzes geäußert habe. General Wimmer hatte damals den ausdrücklichen Befehl zum „totalen Einsatz" der Luftwaffe gegeben. Wimmer ist aber ein sehr enger Freund von Göring. Rundstedt soll in einem Privatgespräch der von Fritsch vorgebrachten Kritik zugestimmt haben, dann aber ängstlich geworden sein, dadurch in eine Feindschaft zu Göring zu geraten.

In dieser Angelegenheit ist dann eine Konferenz in Schwerin abgehalten worden, drei Tage vor dem Tode Fritschs. In dieser Konferenz soll Fritsch in der Sache recht gegeben worden sein. Er wurde eingeladen, dem Durchbruch an der Bzura als Kritiker beizuwohnen. Die Stelle, an die sich Fritsch begeben sollte, wurde vorher genau beobachtet und als völlig frei vom Feind dargestellt. In der Umgebung lag die SS-Standarte „Germania", dieselbe, die Hitler seinerzeit im Munsterla-ger besichtigt hatte und die auch schon in Brünn eingesetzt war und damals durch ihr scharfes Vorgehen gegen die Bevölkerung bekannt geworden ist. Es gibt nun zwei Versionen: Entweder ist Fritsch von Leuten aus dieser SS-Standarte ermordet worden, oder aber der Platz, an den er sich begab, war so ausgewählt, daß er doch noch unter dem feindlichen Feuer lag. Die letzte Version wird jedoch als höchst unwahrscheinlich angesehen.

Bezeichnend ist auch der nachstehende Bericht aus Berlin:

Es gehen die abenteuerlichsten Gerüchte über die Leistungen der englischen Flieger um. Es wird behauptet, die Engländer hätten Flugzeuge, die so gut wie lautlos flögen. Andererseits werden auch große Märchen über die deutschen Todesstrahlen erzählt, durch die schon 62 feindliche Maschinen bei Köln zum Niedergehen gezwungen worden seien.

Ein anderes Gerücht dreht sich um das Männersiechenhaus in der Danzigerstraße. Dort sind in der Woche vom 3. bis 9. September 38 Männer gestorben. Seit dem 20. September liegen nur noch 12 alte Männer dort von ehemals 137. Statt dessen sind jetzt etwa 150 Kriegsverletzte dort untergebracht. Die früheren Insassen wurden angeblich in Villen bei Erkner untergebracht. Es wird aber daran gezweifelt, daß sie überhaupt noch leben, wie auch zu dem Tode der 38 Männer in der Woche vom 3. zum 9. September sofort gemunkelt wurde, daß diese alten Leute umgebracht worden seien, weil das Dritte Reich sich während des Krieges nicht mit siechen Personen belasten wolle. Es kamen ja bereits früher Gerüchte auf, daß die Nazis beabsichtigten, im Kriegsfalle alle alten gebrechlichen Leute möglichst schnell ins bessere Jenseits zu befördern.

Editorische Hinweise

Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade), 6. Jahrgang, 1939, Reprint 1980, Ffm, S. 975-996