Flugblatt an die französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter

09-2014

trend
onlinezeitung

Dieses Flugblatt wurde von Theodor Neubauer in Thüringen im April/Mai 1944 angefertigt im Auftrage der Genossen Anton Saefkow, Franz Jacob und französischer Kommunisten, die sich als Kriegsgefangene in Deutschland befanden und mit der Neubauer-Poser-Gruppe zusammenarbeiteten.


Ansicht der Vorderseite

 Übersetzung

Kameraden!

Der Tag der Freiheit rückt für Euch heran, für Euch Kriegsgefangene und Zivilarbeiter, Sklaven Hitlers, für Frankreich und für alle von dem blutigen Naziregime unterdrückten Völker und für die Arbeiterklasse Deutschlands, die seit zehn Jahren unter ein abscheuliches Joch gebeugt ist.

Vier Fragen von größter Bedeutung werden durch das Kriegsende aufgeworfen:

I. Ist das deutsche Volk nach Hitlers Sturz, den wir alle wünschen, als schuldig für alle Verbrechen, die das Naziregime begangen hat, auf das schwerste zu bestrafen?

Ihr, die Ihr auf den Feldern mit den Bauern arbeitet, in den Werkstätten mit den Arbeitern, in den Büros mit den deutschen Angestellten zusammen seid, Ihr kennt dieses Volk gut genug, um zwischen den von einem Terrorregime brutal unterdrückten Massen und dem Nazismus selbst einen Unterschied zu machen. Habt Ihr nicht gesehen, wie die arbeitende Masse unter einem Regime leidet, das sie wie Sklaven ausbeutet, das sie vor Hunger krepieren läßt, das ihre Kinder, ihre Brüder, ihre Väter verschlingt? Habt Ihr nicht tausend Beweise ihrer Sympathie erlebt, guter Kameradschaft, ja selbst der Freundschaft von Menschen, denen das Naziregime befiehlt, Euch zu hassen! Erinnert Euch an all die kleinen täglichen Informationen, die Euch voll Vertrauen über die militärische und politische Lage gegeben worden sind! Habt Ihr nicht häufig genug unter ihnen kühne Menschen gefunden, die nicht aufhören, den Nazismus zu bekämpfen und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen? Diese antinazistischen Menschen für alle Verbrechen des Nazismus für schuldig zu erklären, hieße auch alle Franzosen für alle Verbrechen der Laval, Deat und Doriot für verantwortlich zu erklären.

Seien wir versichert, daß das deutsche Volk an dem Tag, an dem Hitler gestürzt wird, ein schreckliches Gericht über die abhält, die dieses furchtbare Regime unterstützen und seien wir bereit, der Arbeiterklasse Deutschlands beizustehen, wenn sie darangeht, ihr schreckliches Joch abzuschütteln!

II. Was zieht Ihr nach dem Sturze Hitlers vor, ein bürgerlich­kapitalistisches Deutschland unter dem Schütze der Engländer und Amerikaner oder ein bolschewistisches Deutschland unter dem Schütze Rußlands?

Ein bürgerlich-kapitalistisches Deutschland, auf der Grundlage eines zweiten Vertrages von Versailles, würde immer seinen militaristischen und imperialistischen Charakter bewahren, weil es ja auch seine kapitalistische und imperialistische Klasse bewahrt hätte. Vernichtet, hätte es immer den Willen, seine Kräfte wiederherzustellen; zerstückelt, würde es sich wieder vereinigen; entwaffnet, würde es sich sofort wieder bewaffnen; ausgeschlossen von der imperialistischen Ausbeutung der anderen Länder, würde es nicht aufhören, nach einer Neuaufteilung der Welt zu trachten; der Herrschaft fremder Mächte unterworfen, würde es sich auf einen neuen Weltkrieg vorbereiten. Wie das Jahr 1940 die logische Konsequenz des ersten Versailles war, so würde dieses zweite Versailles einen neuen, noch schrecklicheren Krieg mit sich bringen. Deshalb würde ein bürgerlich-kapitalistisches Deutschland eine dauernde und tödliche Gefahr für Frankreich und alle anderen europäischen Nationen sein.

Dagegen würde ein bolschewistisches Deutschland, das seine kapitalistische und imperialistische Klasse vernichtet hätte, keine imperialistischen und kriegerischen Ziele mehr verfolgen; vereint mit der Weltunion der Sowjetrepubliken, einbezogen in die unermeßlichen Gebiete, die sich vom Nordmeer bis zum Pazifik erstrecken, hätte es alle Möglichkeiten eines fleißigen und friedlichen Lebens, das keinen Neid und keinen nationalen Haß mehr kennt und keine Ausbeutung anderer; nur so könnte es der gesamten Zivilisation dienen, ohne seine Nachbarn zu beunruhigen. Deshalb müssen alle Franzosen ein boschewistisches, gutnachbarliches Deutschland vorziehen.

III. Wie soll nach dem Sturz Hitlers das Frankreich von morgen aussehen?

Wollt Ihr ein Frankreich wie 1938, wo eine kleine Zahl von Kapitalisten die Arbeit der Arbeiterklasse und der Mittelschichten ausplünderte, wo Überfluß und Müßiggang in einer Stunde mehr vergeudeten, als eine Arbeiter- oder Bauernfamilie im ganzen Jahr verdiente, wo eine an die Ausbeuter verkaufte Regierung ihre Polizei auf die Arbeiter und Bauern schießen ließ, die ihr Brot verteidigten; wo eine korrupte Kammer, die ihre Kraft nur in Intrigen und Ränken verbrauchte, den Willen des Volkes mißachtete, wo eine demoralisierte Presse alle Tage die öffentliche Meinung vergiftete - wünscht Ihr das Wiederauferstehen eines solchen Frankreichs, das mit Pierre Laval endete?

Oder wollt Ihr nicht lieber ein neues Frankreich ohne die kapitalistischen Blutsauger, wo jeder die Früchte seiner Arbeit ernten kann, wo keine Parlamentarier-Sippschaft das Volk täuschen kann, wo das Volk selbst die gesamte Macht hat, um dem allgemeinen Wohl zu dienen!

Ihr bewundert laut den unvergleichlichen Heldenmut und die unvergleichliche Aufopferung des russischen Volkes, dessen Siege Frankreich und alle von dem Nazismus unterworfenen

Nationen befreien werden. Aber sind dieser Mut und diese Aufopferung nicht die Früchte eines gesunden und kraftvollen Systems, welches diese wunderbaren und unbesiegbaren Kräfte entwickelt hat, eines Systems, das keine Ausbeuter und Ausgebeuteten mehr kennt, keine höheren und niederen Klassen, wo das Volk alles ist und alles durch das Volk geschieht. Vergleicht dieses bolschewistische Rußland mit dem Frankreich von 1940! Könnt Ihr da noch zögern, das neue Frankreich der Zukunft zu wählen?

IV. Kameraden, Ihr diskutiert jetzt täglich die kommende Invasion und alles, was daraus folgen wird.
 

Aber habt Ihr auch daran gedacht, daß der Hitlerismus in dieser kritischen Stunde gegen Euch und alle Fremden in Deutschland, die man für unversöhnliche Feinde hält, neue, noch brutalere Maßnahmen ergreifen könnte? Wie könntet Ihr diesen neuen Verfolgungen Widerstand leisten, wenn Ihr nicht darauf vorbereitet seid? Glaubt Ihr, daß Ihr diesem blutdürstigen System trotzen könntet, ohne im geheimen organisiert zu sein, ohne engen Kontakt mit den revolutionären Kräften der deutschen Arbeiterklasse zu haben? Wenn die alliierten Truppen zur Invasion landen, seid Ihr bereit, sie durch Eure gleichzeitigen Aktionen zu unterstützen? Um jedoch eine solche kühne und weittragende Aktion zu verwirklichen, müßtet Ihr, das muß noch einmal betont werden, organisiert sein und in Übereinstimmung mit den revolutionären Arbeitern Deutschlands handeln. Über die Invasion zu diskutieren ist gut, aber sich auf diese Stunde vorzubereiten, ist besser!

Wir hoffen, daß die Invasion gelingt. Wir zweifeln nicht, daß ganz Frankreich sich gegen die Nazi-Tyrannen und gegen die korrupte Gesellschaft der Laval und Deat erheben wird, um seine Unterdrücker zu verjagen. Aber wird das von den Hitlerleuten befreite Frankreich wirklich frei sein, solange die kapitalistischen und imperialistischen Regierungen der Engländer und Amerikaner dort herrschen?

Würde ein Roosevelt, als Vertreter des amerikanischen Imperialismus und ein Churchill, als ... des englischen Imperialismus über eine französische Regierung, die von ihnen unabhängig ist, begeistert sein? Nein Kameraden, sie wünschen eine französische Regierung, die ihnen gegen alle anderen europäischen Nationen als Degen dienen könnte - wie vor 1940.

Ihr habt Euch oft gefragt, warum die führenden Politiker von Washington und London das Befreiungskomitee unter der Leitung von General de Gaulle noch nicht als Vertretung der französischen Nation anerkannt haben, wie es Sowjet-Rußland getan hat. Ihr seid erstaunt über die fortdauernden Schwierigkeiten, welche das Komitee in seinen Beziehungen mit London und Washington fand. Alles das war das Ergebnis der imperialistischen Politik der Roosevelt und Churchill, die sich darauf versteifen, aus dem Komitee Frankreichs ein Instrument ihrer imperialistischen und unfranzösischen Politik von morgen zu machen. Glaubt Ihr, Kameraden, daß Roosevelt und Churchill, diese Beschützer der Finanzkönige von Wallstreet und London, jemals damit einverstanden sind, daß sich das französische Volk eine soziale Volksregierung schafft, die die Privilegien der kapitalistischen Klassen aufhebt? Aber nein, Kameraden, denn sie sind überzeugt, daß ein wirklich freies Frankreich der Arbeiter und Bauern nicht mehr die Befehle der anglo-amerikanischen Hochfinanz annehmen würde.
Hinsichtlich der Invasion, die kommen wird und deren Erfolg wir heiß ersehnen, muß man mit aller erforderlichen Klarheit sagen: Die Invasion ist noch nicht die Freiheit. Es verlohnt sich nicht, den Teufel zu verjagen, um den Satan auf den Thron zu bringen. Wir wollen nicht die Hitler-Unterdrückung einfach mit einer anglo-amerikanischen Unterdrückung vertauschen. Wir haben nicht alles Elend der Nazi-Sklaverei ertragen, um Sklaven der Wallstreet zu werden. Unsere Brüder in der korsischen und italienischen Armee haben sich nicht geschlagen, um zu Hütern der Geldschränke in London-City zu werden, unsere Mitbürger in Frankeich haben nicht Tausende von Beweisen eines heroischen Widerstandes gegen Hitler gegeben, um sich zu Unterdrückungsorganen gegen die befreiten Nationen eines neuen Europas zu machen.

Es muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß wir mit den Engländern und Amerikanern verbündet sind, um das Nazi-Joch abzuschütteln und um einem neuen Frankreich die Freiheit zu sichern, aber nicht, um uns anderen fremden Interessen zu unterwerfen. Da die Amerikaner und Engländer nicht aus Liebe zu Frankreich kämpfen, sondern für die englischen und ameri­kanischen Interessen, werden alle Franzosen gegen Hitler kämp­fen und für die Interessen eines neuen von jeder inneren und äußeren Unterdrückung befreiten Frankreichs.

Die Invasion ist noch nicht die Freiheit. Um diese Freiheit für Frankreich zu gewinnen und zu sichern, muß man eine Einheits­front aller französischen Arbeiter und Bauern bilden, die die Sympathie aller befreiten Nationen des neuen Europas haben wird, die von der großen russischen Nation unterstützt wird, deren heroische Siege dem Hitler-System den Todesstoß ver­setzt haben. Darum, Kameraden, schließt Euch zusammen, ver­eint Eure Kräfte, bereitet Euch vor auf den Kampf, der uns den Endsieg bringen wird!

Die Stunde der Befreiung wird bald kommen.
Seid bereit, Franzosen!
 

Quelle: Archiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin.

Editorische Hinweise:

"Im August 1933 verhaftete die Gestapo Theodor Neubauer während seiner illegalen Tätigkeit. Bis 1939 wurde er in den Zuchthäusern Berlin-Plötzensee und Brandenburg sowie in den Konzentrationslagern Lichtenburg und Buchenwald gefangengehalten. In Lichtenburg und und Buchenwald gehörte der Leitung der illegalen Lagerorganisation der KPD an. Nach seiner Entlassung im Jahre 1939 wohnte er in Tabarz (Thüringen). Theodor Neubauer stellte Verbindungen zu illegal arbeitenden Kommunisten und Parteizellen her und begann, sie zusammenzufassen. Seit Januar 1942 arbeitete er mit Magnus Poser zusammen, der die illegale Organisation der KPD in Jena leitete. Beiden gelang es, wieder eine illegale Bezirksleitung Thüringen der KPD zu schaffen. Diese organisierte die Störung der Kriegsproduktion in den Betrieben, orientierte auf die Zusammenarbeit mit Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeitern und leistete Aufklärungsarbeit unter Angehörigen der Wehrmacht. Sie arbeitete eng mit den illegalen Organisationen der KPD in Berlin-Brandenburg, Magdeburg-Anhalt und Sachsen zusammen. 1943/1944 gehörte Theodor Neubauer gemeinsam mit Bernhard Bästlein, Franz Jacob, Anton Saefkow, Georg Schumann und Martin Schwantes der illegalen operativen Leitung der KPD und des antifaschistischen Kampfes in Deutschland an. Theodor Neubauer war Mitautor der 1943 und 1944 von der operativen Leitung ausgearbeiteten programmatischen Dokumente für den Kampf der Kommunisten in Deutschland gegen den Faschismus sowie für die revolutionäre Umgestaltung Deutschlands nach dem Sturz des Hitlerregimes. Am 14. Juli 1944 verhafteten die Faschisten Theodor Neubauer erneut. Nach grausamen Misshandlungen wurde er am 8. Januar 1945 vom „Volksgerichtshof“ zum Tode verurteilt und am 5. Februar im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet."
Quelle: http://www.etg-ziegenhals.de/Theodor_Neubauer.html