In der
bisherigen Diskussion haben wir uns auf jenen Teil der
Bevölkerung beschränkt, der - wie wir gesehen haben - zwei
Drittel oder drei Viertel der Gesamtbevölkerung umfaßt und ohne
weiteres mit der besitzlosen Situation eines Proletariats
vereinbar zu sein scheint. Doch das System des
Monopolkapitalismus hat eine weitere Beschäftigungsmenge
hervorgebracht, die ihrer Größe nach nicht unbeträchtlich ist
und nicht ganz selbstverständlich einer solchen Definition
entspricht. Wiedas Kleinbürgertum des vormonopolistischen
Kapitalismus (die Kleineigentümer in der Landwirtschaft, im
Handel, den Dienstleistungsbetrieben, den freien Berufen und im
Kunsthandwerk) paßt sie nicht ohne weiteres in die
antagonistische Auffassung von Wirtschaft und Gesellschaft.
Aber im Gegensatz zu jener früheren Mittelklasse, die so
weitgehend verschwunden ist, stimmt sie zunehmend mit der
formalen Definition einer Arbeiterklasse übercin. Das heißt: wie
die Arbeiterklasse besitzt sie keine wirtschaftliche oder
berufliche Unabhängigkeit, wird vom Kapital und seinen
Verzweigungen beschäftigt, hat außer jener Beschäftigung keinen
Zugang zum Arbeitsprozeß oder zu den Produktionsmitteln und muß,
um sich ernähren zu können, unaufhörlich immer neu für das
Kapital arbeiten. Zu diesem Teil der Erwerbsbevölkerung gehören
die Ingenieure, die technischen und wissenschaftlichen Kader,
die unteren Ränge des Aufsichtspersonals und des Managements,
die beträchtliche Zahl der spezialisierten und akademisch
gebildeten Beschäftigten im Marketing, in der finanziellen und
organisatorischen Verwaltung und dergleichen sowie, außerhalb
der eigentlichen kapitalistischen Industrie, in'Krankenhäusern,
Schulen, in der öffentlichen Verwaltung und so weiter. Relativ
gesehen, ist die Gruppe nirgendwo auch nur annähernd so groß wie
das alte Kleinbürgertum, das im vormonopolistischen Stadium des
Kapitalismus auf der Grundlage des unabhängigen Unternehmertums
nicht weniger als die Hälfte der Bevölkerung ausmachte oder
sogar noch mehr. Sie umfaßt in den Vereinigten Staaten heute
vielleicht mehr als 15 Prozent, aber weniger als 20 Prozent der
gesamten Erwerbsbevölkerung. Ihr rasches Wachstum als partieller
Ersatz für die alte Mittelklasse macht jedoch ihre Bestimmung zu
einer Frage von besonderem Interesse; dies um so mehr, als ihr
rein formaler Charakter dem der deutlich proletarischen
Arbeiterklasse ähnlich ist.
Die Kompliziertheit der
Klassenstruktur des vormonopolistischen Kapitalismus entsprang
der Tatsache, daß ein derart großer Teil der
Arbeiterbevölkerung aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit
herausfiel dadurch, daß er weder vom Kapital beschäftigt wurde
noch selbst in irgendeinem bedeutenden Ausmaß Arbeit
beschäftigte. Die Komplexität der Klassenstruktur des modernen
Monopolkapitalismus erwächst aus dem genau entgegengesetzten
Grund: daß nämlich fast die gesamte Bevölkerung zu
Beschäftigten des Kapitals umgeformt worden ist. Fast jede
Verbindung der Arbeit mit dem modernen Großunternehmen oder
seinen ihm nachgebildeten Ablegern in der staatlichen Verwaltung
oder den sogenannten gemeinnützigen Organisationen nimmt die
Form des Kaufs und Verkaufs von Arbeitskraft an.
Der Kauf und Verkauf von
Arbeitskraft ist die klassische Form der Schaffung und
fortgesetzten Existenz der Arbeiterklasse. Soweit es die
Arbeiterklasse betrifft, verkörpert diese Form
gesellschaftliche Produktionsverhältnisse, die Verhältnisse der
Unterwerfung unter Herrschaft und Ausbeutung. Wir müssen nun die
Möglichkeit untersuchen, daß dieselbe Form dazu benutzt wird,
andere Produktionsverhältnisse zu verbergen, zu verkörpern und
auszudrücken. Nehmen wir ein höchst extremes Beispiel: die
Tatsache, daß die Betriebsleiter eines riesigen Unternehmens
Angestellte dieses Unternehmens und in dieser Eigenschaft nicht
Eigentümer seiner Werke und Bankkonten sind, stellt lediglich
die Form dar, die die kapitalistische Herrschaft in der modernen
Gesellschaft angenommen hat. Diese Unternehmensleiter sind dank
ihrer hohen Managerpositionen, ihrer persönlichen
Investitionsportefeuilles, ihrer unabhängigen
Entscheidungsgewalt, ihres Platzes in der Hierarchie des
Arbeitsprozesses, ihrer Position in der Gemeinschaft der
Kapitalisten insgesamt usw. usw. die Herrscher der Industrie,
handeln »professionell« für das Kapital und sind selbst Teil der
Klasse, die das Kapital verkörpert und Arbeit beschäftigt. Ihr
formales Attribut, Teil derselben Lohnliste zu sein wie die
Produktionsarbeiter, Büroangestellten und Pförtner des
Unternehmens beraubt sie ebenso wenig ihrer Entscheidungsgewalt
und ihrer Befehlgewalt über andere im Unternehmen wie die
Tatsache, daß der General wie der gemeine Soldat Uniform trägt,
den General, oder die Tatsache, daß der Papst und der Kardinal
dieselbe Liturgie singen wie der Dorfpfarrer, diese ihrer
privilegierten Stellung beraubt. Die Form der gekauften
Arbeitskraft verleiht zwei völlig verschiedenen Wirklichkeiten
Ausdruck: im einen Fall kauft das Kapital eine »Arbeitskraft«,
deren Pflicht es ist, unter fremder Anleitung für die Vermehrung
des Kapitals zu arbeiten; im anderen wählt das Kapital durch
einen Selektionsprozeß innerhalb der kapitalistischen Klasse
und hauptsächlich aus seinen eigenen Reihen Managemcntperso-nal
aus, das es an Ort und Stelle vertreten soll und dabei die
Verrichtungen der Arbeiterschaft zu überwachen und zu
organisieren hat.
So weit ist der Unterschied klar,
doch innerhalb dieser beiden Extreme gibt es eine Reihe
dazwischenliegender Kategorien, die - wenn auch in
unterschiedlichen Graden - die Merkmale einerseits von Arbeitern
und andererseits von Managern besitzen. Die Abstufungen der
Stellung im Bereich des Managements können vor allem aus den
Entscheidungsbefugnissen ersehen werden, während die Abstufungen
in den Stabpositionen durch das Niveau der technischen
Sachkenntnis gegeben sind. Da die Autorität und Sachkenntnis der
mittleren Ränge im kapitalistischen Großunternehmen eine
unvermeidbare Delegierung von Verantwortung darstellen, läßt
sich die Position solcher Angestellten vielleicht am besten
beurteilen anhand ihrer Beziehung zu der Macht und dem Reichtum
derjenigen über ihnen, von denen sie ihre Befehle
entgegennehmen, und zu der Masse der Arbeitnehmer unter ihnen,
die sie ihrerseits zu kontrollieren, anzuweisen und zu
organisieren helfen. Die Höhe ihres Gehalts ist wichtig, da sie
über einen bestimmten Punkt hinaus, wie die Bezahlung der
Befehlshaber des Unternehmens, eindeutig nicht mehr nur den
Austausch ihrer Arbeitskraft gegen Geld - also einen
Warenaustausch - verkörpert, sondern einen Anteil an dem
in dem Unternehmen produzierten Mehrwert, und da die
Bezahlung daher darauf abzielt, sie mit dem Erfolg oder
Mißerfolg des Unternehmens zu verknüpfen und ihnen einen, wenn
auch nur kleinen »Managementanteil« zuzugestehen. Das gleiche
gilt insofern, als sie eine anerkannte Beschäftigungsgarantie,
eine relative Unabhängigkeit ihrer Arbeitsweise innerhalb des
Arbeitsprozesses, Macht über die Arbeit anderer, Recht, Personen
einzustellen und zu entlassen, und andere Herrschaftsprivilegien
genießen.
An diesen und ähnlichen Maßstäben
gemessen, gibt es auf diesen mittleren Stufen der Beschäftigung
in Verwaltung und Technik zweifellos ein breites Spektrum. Die
Chefingenieure, welche den Produktionsprozeß entwerfen, gehen
auf im Spitzenmanagement, und die Hierarchie unter ihnen endet
in großen Zeichen- und Entwurfsbüros, die in vielen Fällen nach
denselben Grundsätzen organisiert wurden wie die
Fertigungsstraße in der Fabrik oder im Büro, und die mit dichten
Reihen von Detailarbeitern besetzt sind, deren Gehälter, wenn
sie auch besser sein mögen als die der Fabrikarbeiter oder
Büroangestellten, doch vielleicht nicht so gut sind wie die von
Facharbeitern, und die wenig mehr Unabhängigkeit und Autorität
in ihrer Arbeit besitzen als der Produktionsarbeiter. Dazwischen
stehen die Unteroffiziere der Industriearmee, die Vorarbeiter,
die kleinen »Manager« aller Art, die technischen Spezialisten,
die sich in ihrer Arbeit, wenn auch keine Autorität mehr, so
doch zumindest noch eine hartnäckige Unabhängigkeit bewahrt
haben. Und außerhalb der eigentlichen Großunternehmen, in
Regierungs-, Erziehungs- und Gesundheitsinstitutionen, werden
diese Abstufungen in Formen reproduziert, die den in all diesen
Bereichen jeweils durchgeführten Arbeitsprozessen eigen sind.
Auf diese dazwischengeschalteten
Gruppierungen sind die »Scheibchen« spezialisierter Kenntnisse
und delegierter Entscheidungsgewalt verteilt, ohne welche die
Maschinerie der Produktion, Verteilung und Verwaltung aufhören
würde zu funktionieren. Jede dieser Gruppierungen dient als
Rekrutierungsfeld für die darüberliegenden Gruppen, bis hinauf
zum Spitzenmanagement. Ihre Beschäftigungsbedingungen werden
bestimmt von dem Bedarf des Spitzenmanagements an
Pufferschichten in seinemMachtbereich, an verantwortlichen und
»loyalen« Untergebenen, an Transmissionsstationen für die
Ausübung der Kontrolle und das Zusammentragen von Information,
damit das Management nicht hilflos einer feindlichen oder
gleichgültigen Masse gegenübersteht. Diese Bedingungen werden
darüber hinaus von der privilegierten Marktposition beeinflußt,
die spezialisierte und technisch ausgebildete Arbeit in den
früheren Phasen ihrer Entwicklung besitzt, zu einer Zeit also,
in der das Angebot an solcher Arbeit die Bedürfnisse der
Kapitalakkumulation noch nicht erreicht hat. Alles in allem
genießen die Personen in diesem Bereich der kapitalistischen
Beschäftigung daher - je nach ihrem spezifischen Platz in der
Hierarchie in stärkerem oder geringerem Maße - das Privileg, von
den schlimmsten Merkmalen der proletarischen Situation verschont
zu bleiben, was in der Regel eine signifikant höhere Bezahlung
einschließt.
Wenn wir dies jedoch eine »neue
Mittelklasse« nennen wollen, wie viele dies getan haben, so
müssen wir dies mit gewissen Vorbehalten tun. Die alte
Mittelklasse nahm jene Stellung kraft ihres Platzes außerhalb
der polaren Klassenstruktur ein; sie besaß die Eigenschaften
weder des Kapitalisten noch des Arbeiters; sie spielte keine
direkte Rolle im Kapitalakkumulationsprozeß, weder auf der
einen, noch auf der anderen Seite. Diese »neue Mittelklasse«
dagegen nimmt ihre vermittelnde Stellung nicht deshalb ein, weil
sie außerhalb des Prozesses der Kapitalvermehrung steht,
sondern deshalb, weil sie - als Teil dieses Prozesses - ihre
Merkmale von beiden Seiten bezieht. Nicht nur, daß sie
ihren winzigen Anteil an den Vorrechten und Entgelten des
Kapitals erhält, sie trägt auch den Stempel der proletarischen
Situation. Für die Beschäftigten macht sich die
gesellschaftliche Form ihrer Arbeit, ihr wahrer Platz in den
Produktionsverhältnissen, ihre Grundsituation der Unterordnung
als so und so viel gekaufte Arbeit, zunehmend bemerkbar,
insbesondere bei den in dieser Schicht enthaltenen
Massenberufen. Wir können hier vor allem die Massenberufe der
Zeichner und Techniker, Ingenieure und Buchhalter,
Krankenschwestern und Lehrer und die sich vervielfachenden Ränge
von Aufsehern, Werkmeistern und kleinen Managern nennen. Diese
werden zuerst zu einem Teil eines Massenarbeitsmarktes, der die
Merkmale aller Arbeitsmärkte annimmt, einschließlich der
notwendigen Existenz einer Reservearmee von Arbeitslosen, die
einen Druck auf die Höhe der Bezahlung ausüben.(1)
Und zweitens unterwirft das Kapital, sobald es in irgendeinem
speziellen Zweig über eine Masse von Arbeit verfügt, diesen
Bereich irgendeiner der Formen der für die kapitalistische
Produktionsweise charakteristischen »Rationalisierung«. Eine
»Masse von Arbeit« bedeutet in diesem
Zusammenhang eine Menge, die so groß ist, daß es sich auszahlt,
die kapitalistischen Grundsätze der technischen Arbeitsteilung
und hierarchischen Kontrolle über die Ausführung zur Anwendung
zu bringen, und zwar dadurch, daß man die für die Konzeption
verantwortlichen Glieder fest in der Hand hat.
In derartigen Beschäftigungen
beginnt sich die proletarische Form durchzusetzen und dem
Bewußtsein der dort Beschäftigten einzuprägen. Sie fühlen die
Unsicherheit ihrer Rolle als Verkäufer von Arbeitskraft und die
Frustrationen eines kontrollierten und mechanisierten
Arbeitsplatzes und beginnen, ungeachtet der ihnen verbleibenden
Privilegien, jene Symptome der Dissoziation kennenzulernen, die
allgemein als »Entfremdung« bezeichnet werden, und mit denen die
Arbeiterklasse schon seit so langer Zeit lebt, daß sie zu ihrer
zweiten Natur geworden sind.
In dem Kapitel über die
Angestelltenarbeit haben wir bereits beschrieben, auf welche Art
und Weise eine Zwischenschicht zu einer Massenbeschäftigung
erweitert und dabei aller ihrer Privilegien und Merkmale als
Zwischenschicht beraubt wurde. Es ist überflüssig, hier eine
ähnliche Entwicklung der spezialisierten und unteren leitenden
Angestellten in irgendeiner nahen Zukunft vorauszusagen. Man
sollte sich jedoch darüber klarwerden, daß die Schwierigkeiten
derjenigen, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu einer
»Definition« der Klassenlage der Büroangestellten zu gelangen
vesuchten, ungefähr die gleichen waren wie die, mit denen man
sich heute beim Definieren der Zwischenschichten der modernen
Erwerbsbevölkerung auseinanderzusetzen hat. Diese
Schwierigkeiten ergeben sich letzten Endes aus der Tatsache, daß
Klassen, Klassenstruktur und Gesellschaftsstruktur als Ganze
keine festen Einheiten, sondern vielmehr in Bewegung befindliche
Prozesse sind, reich an Veränderungen, Übergängen und
Abweichungen, und daß sie nicht in Formeln eingeschlossen werden
können, so analytisch richtig solche Formeln auch sein mögen.(2)
Die Analyse dieses Prozesses setzt ein Verständnis der inneren
Beziehungen und Zusammenhänge voraus, die die treibende Kraft
des Prozesses darstellen, damit seine Richtung verständlich
wird. Erst an sekundärer Stelle ergibt sich das Problem, den
Platz besonderer Elemente in dem Vorgang zu »definieren«, und
dieses Problem läßt sich nicht immer sauber und definitiv lösen,
aber - das sollte man hinzufügen - für die Wissenschaft ist es
auch gar nicht erforderlich, es so zu lösen.
Anmerkungen
1)
Das erste größere
Beispiel dafür kam mit der Weltwirtschaftskrise der
Dreißigerjahre, doch in dem raschen Aufschwung der
Kapitalakkumulation und der Umgestaltung der Industrie, die mit
dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, wurde diese Tendenz überwunden.
Gegen Ende der Sechzigerjahre jedoch machte die steigende
Arbeitslosigkeit unter den »Akademikern« der verschiedensten Art
diesen erneut klar, daß sie nicht die freien Wirtschaf
tssubjektc waren, für die sie sich hielten, die sich mit der
einen oder anderen Gesellschaft »zu assoziieren geruhten«,
sondern daß sie in Wirklichkeit Bestandteil eines Arbeitsmarktes
sind, eingestellt und entlassen, wie ihre Untergebenen.
2)
E.P.
Thompson schreibt: »Es gibt heute eine überall gegenwärtige
Versuchung, die Klasse für ein Ding zu halten. Dies war nicht
die Auffassung, die Marx in seinen eigenen historischen
Schriften vertrat, doch beeinträchtigt dieser Irrtum einen
Großteil des Schrifttums späterer Marxisten. Man nimmt an, daß
>sie<, die Arbeiterklasse, eine reale Existenz besitzt, die sich
nahezu mathematisch definieren läßt - so und so viele Menschen,
die in einem bestimmten Verhältnis zu den Produktionsmitteln
stehen. . . »Wenn wir uns daran erinnern, daß Klasse ein
Verhältnis ist und nicht ein Ding, so können wir nicht so
denken.« (The Making of The English Working Class, 1964, 10 f.)
Editorische
Hinweise
Der Text stammt
aus: Harry Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozess,
New York 1974, Ffm 1985, S.306-310
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