Aspekte zum Ende der sozialdemokratischen Märchenstunde vom antifaschistischen Widerstand
Die widerstandslose und freiwillige Integration der deutschen Arbeiterbewegung durch ADGB-Führung und SPD in den Kapitalfaschismus 1933 – und noch immer erfolgreich geleugnet – bis heute

09-2014

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Dass es nach dem 30. Januar 1933 keine Chance mehr gab, die Errichtung der kapitalfaschistischen Diktatur durch die Mobilisierung der Arbeitermassen zu verhindern, kann heute nicht mehr bestritten werden, wenn auch die Aktionsbereitschaft gewerkschaftlicher Kader und der Mitglieder der sozialistischen und kommunistischen Schutzorganisationen bezeugt ist.

Der Immobilismus der freigewerkschaftlichen Führungsstäbe verbindet sich im Frühjahr 1933 auf problematische Weise mit der Bereitschaft, sich Schritt für Schritt mit den veränderten politischen Rahmenbedingungen abzufinden und sich um den Preis der eigenen, gewachsenen Identität den neuen Machthabern wie deren politischen und sozialpolitischen Vorstellungen zu unterwerfen.

Auf seiten der standfesteren Kerne der sozialdemokratischen Gewerkschaftsmitglieder und -Anhänger, die noch die Betriebsratswahlen in den ersten Monaten des Jahres 1933 zu einem deutlichen Plebiszit gegen die kapitalfaschistischen Betriebszellen machen, muss dieses plan- und prinzipienlose Agieren ihrer Führung zwangsläufig desorientierend und lähmend wirken und die Zerfallsprozesse des sozialdemokratischen und sozialistischen Milieus beschleunigen.

Die politische Wende in der sozialdemokratischen ADGB-Führung zur Anpassung an das kapitalfaschistische Regime folgt der Reichstagswahl vom 5. März 1933. Nachdem der sozialdemokratische ADGB und AfA-Bund noch im Februar 1933 unmissverständlich zur Wahl der SPD aufgerufen hatten, suchte der ADGB-Vorstand nach der Niederlage der kampflosen Arbeiterparteien [Merke: Worthülsen und Parolen sind kein Kampf, damals wie heute.] die gewerkschaftliche Organisationsform zu retten durch Angebote an die Regierung Hitler, die dem Verzicht auf große Teile des tradierten Selbstverständnisses der Gewerkschaftsbewegung als einer autonomen Organisation von Arbeiterinteressen im Kontext der sozialdemokratischen und sozialistischen Arbeiterbewegung gleichkommen.

Hatte sich die Lockerung der traditionellen Bindungen an die Sozialdemokratie und das Bemühen, die Gewerkschaften – als Teil einer korporativen Neuordnung des sozial-politischen Repräsentationssystems – stärker an die Exekutivorgane des Staates zu binden, schon unter den Präsidialkabinetten Papen und Schleicher abgezeichnet, so lässt die sozialdemokratische Gewerkschaftsführung im März und April 1933 keinen Zweifel mehr an ihrer Bereitschaft, um des Überlebens der Organisation auch in einem kapitalfaschistischen Deutschland willen ihre vorgeblich weltanschaulichen und politischen Verständigungsmuster zur Disposition zu stellen – und über Bord zu werfen:

In einer Erklärung vom 20. März 1933, dem Reichskanzler Adolf Hitler am 21. März 1933 übermittelt, versichert der sozialdemokratische ADGB-Vorstand zum ‘Tag von Potsdam’ seinen Willen zur institutionalisierten Zusammenarbeit mit den kapitalfaschistischen Unternehmern (auch über tarifpolitische Fragen hinaus) und gibt seine Bereitschaft zu erkennen, auch eine grundlegende Reorganisation der sozialen Repräsentationsorgane zu akzeptieren. - In einem zweiten Schreiben vom 29. März 1933 erklärt der ADGB die vollständige Unabhängigkeit von allen (bürgerlichen) politischen Parteien, auch von der SPD, und signalisiert seine Bereitschaft, selbst den Verlust der Verbandsautonomie durch Unterstellung unter die staatliche Exekutive zu akzeptieren. -

Es folgten die Erklärung des sozialdemokratischen ADGB vom 9. April 1933, in der die Bereitschaft und der Wille zur Mitarbeit am berufsständischen Aufbau bekräftigt und die Einsetzung eines Reichskommissars für die Gewerkschaften empfohlen wird, Verhandlungen über die Zukunft der Gewerkschaften mit Vertretern der kapitalfaschistischen NSBO, die Aufrufe zu den (demagogischen:) ‘nationalsozialistischen’ Maifeiern, der endgültige Bruch mit dem Internationalen Gewerkschaftsbund, und schließlich ein (letzter) Versuch im April 1933, durch eigene Initiative der drei großen Richtungsgewerkschaften die Einheitsparole der ‘Nationalsozialisten’ (richtig: der Kapitalfaschisten) aufzunehmen und einen gemeinsamen ‘Führerkreis’ zur Vorbereitung des organisatorischen Zusammenschlusses zur (kapitalfaschistischen) Einheitsgewerkschaft zu bilden.

»Aber gerade dasjenige Dokument, das die konzeptionelle Basis dieser Übereinkunft abgeben sollte, demonstriert auch, in welchem Maße die Vertreter der freien Gewerkschaften sich bereits dem Diskurs des Völkischen und des Nationalen angepasst hatten, in welchem Maß tatsächlich der Prozess ihrer ‘inneren Gleichschaltung’ mittlerweile vorangetrieben war.« (S. 197)

[Eine notwendige und auch heute noch überfällige Modifikation, vgl.]

Anmerkung

Siehe zur „Politik der ideologischen Anbiederung“ und der „Praxis der erfolgreichen Anpassung“ an die kapitalfaschistischen Vorgaben:

Beier, Gerhard: Das Lehrstück, 1975, S. 29. Zum Anpassungskurs der freien Gewerkschaften im Frühjahr 1933 siehe: Reichhardt, Hans Joachim: Die Deutsche Arbeitsfront, 1956, S. 18ff; Schumann, Hans-Gerd: Nationalsozialismus und Gewerkschaftsbewegung, 1958, S. 53ff; Kosthorst, Erich: Von der Gewerkschaft zur Arbeitsfront, 1963, S. 18f; Heer, Hannes: Burgfrieden oder Klassenkampf. Zur Politik der sozialdemokratischen Gewerkschaften 1930-1933. Neuwied, Berlin 1971, S. 101ff; Bracher, Karl Dietrich: Stufen der Machtergreifung, 1974, S. 249ff; Beier, Gerhard: Das Lehrstück, 1975, S. 22ff; Mommsen, Hans: Die deutschen Gewerkschaften zwischen Anpassung und Widerstand, 1975, S. 275ff; Schneider, Michael: Tolerierung - Opposition - Auflösung. Die Stellung des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes zu den Regierungen Brüning bis Hitler. In: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927-1933. Hrsg. Von W. Luthardt. 1. Bd. Frankfurt 1978, S. 160ff; Matthias, Erich: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands. In: Ders./R. Morsey (Hrsg.): Das Ende der Parteien 1933. Darstellungen und Dokumente. Mit Beitr. von Siegfried Bahne u.a.. Unv. Nachdr. Des erstmals 1960 erschienen Werkes. Königstein/Ts., Düsseldorf 1979, S. 175ff; Schlingensiepen, Alexandra: Vom 2. Mai 1933, in: Esters, Helmut/Hans Pelger: Gewerkschafter im Widerstand, 1983, S. IXff; Fehler, Versagen, Schuld? Ein Streitgespräch über die Rolle von SPD, KPD und Gewerkschaften am Ende der Weimarer Republik zwischen Ulrich Borsdorf, Frank Deppe, Michael Schneider und Hermann Weber. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 24, 1983, S. 285ff; Skrzypczak, Henryk: das Ende der Gewerkschaften. In: W. Michalka (Hrsg.): Die nationalsozialistische Machtergreifung, Paderborn 1984, S. 97ff; Jahn, Peter: Gewerkschaften in der Krise. Zur Politik des ADGB in der Ära der Präsidialkabinette 1930 bis 1933. In: E. Matthias/K. Schönhoven (Hrsg.): Solidarität und Menschenwürde, 1984, S. 249ff; Winkler, Heinrich August: Der Weg in die Katastrophe, 1987, S. 893ff: Schönhoven, Klaus: Die deutschen Gewerkschaften, Frankfurt 1987, S. 179ff; Schneider, Michael: Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1918 bis 1933. In: Klaus Tenfelde u. a.: Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Köln 1987, S. 434ff; Dokumente in: Deppe, Frank/Witich Roßmann: Wirtschaftskrise, Faschismus, Gewerkschaften. Dokumente für Gewerkschaftspolitik 1929-1933. Köln 1981. Als Versuche einer nichtokkasionistischen Begründung für diese gewerkschaftliche Strategie der Anpassung: Skrzyczak, Henryk: From Carl Legien to Theodor Leipart, from Theodor Leipart to Robert Lex. Notes on some strategic and tactical problems of the German free trade union movement during the Weimar Republic. In: IWK. 7, 1971, H. 13, S. 26ff; ders.: Die Ausschaltung der Freien Gewerkschaften, 1984; usw., vgl. Anm. u. a. S.193/194.

Quelle: Der umworbene Stand. Die ideologische Integration der Arbeiter im Nationalsozialismus 1933-1935 / Eberhard Heuel. - Frankfurt am Main; New York: Campus Verlag 1989 (Campus Forschung, Band 636)

25.08.2014, Reinhold Schramm (Bereitstellung)