Dass es nach dem 30. Januar 1933
keine Chance mehr gab, die Errichtung der
kapitalfaschistischen Diktatur durch die Mobilisierung der
Arbeitermassen zu verhindern, kann heute
nicht mehr bestritten werden, wenn auch die Aktionsbereitschaft
gewerkschaftlicher Kader und der
Mitglieder der sozialistischen und kommunistischen
Schutzorganisationen bezeugt ist.
Der Immobilismus der
freigewerkschaftlichen Führungsstäbe verbindet sich im Frühjahr
1933 auf problematische Weise mit der Bereitschaft, sich
Schritt für Schritt mit den veränderten
politischen Rahmenbedingungen abzufinden und sich um den Preis
der eigenen, gewachsenen Identität den
neuen Machthabern wie deren politischen und
sozialpolitischen Vorstellungen zu unterwerfen.
Auf seiten der standfesteren
Kerne der sozialdemokratischen Gewerkschaftsmitglieder
und -Anhänger, die noch die Betriebsratswahlen in den
ersten Monaten des Jahres 1933 zu einem
deutlichen Plebiszit gegen die kapitalfaschistischen
Betriebszellen machen, muss dieses plan-
und prinzipienlose Agieren ihrer Führung zwangsläufig
desorientierend und lähmend wirken und
die Zerfallsprozesse des sozialdemokratischen und
sozialistischen Milieus beschleunigen.
Die politische Wende in der
sozialdemokratischen ADGB-Führung zur Anpassung an das
kapitalfaschistische Regime folgt der Reichstagswahl vom
5. März 1933. Nachdem der
sozialdemokratische ADGB und AfA-Bund noch im Februar 1933
unmissverständlich zur Wahl der SPD
aufgerufen hatten, suchte der ADGB-Vorstand nach der Niederlage
der kampflosen Arbeiterparteien [Merke:
Worthülsen und Parolen sind kein Kampf, damals wie heute.] die
gewerkschaftliche Organisationsform zu retten durch
Angebote an die Regierung Hitler,
die dem Verzicht auf große Teile des
tradierten Selbstverständnisses der
Gewerkschaftsbewegung als einer autonomen Organisation von
Arbeiterinteressen im Kontext der
sozialdemokratischen und sozialistischen Arbeiterbewegung
gleichkommen.
Hatte sich die Lockerung der
traditionellen Bindungen an die Sozialdemokratie und das
Bemühen, die Gewerkschaften – als Teil einer korporativen
Neuordnung des sozial-politischen
Repräsentationssystems – stärker an die Exekutivorgane des
Staates zu binden, schon unter den
Präsidialkabinetten Papen und Schleicher abgezeichnet, so lässt
die sozialdemokratische
Gewerkschaftsführung im März und April 1933 keinen Zweifel mehr
an ihrer Bereitschaft, um des Überlebens
der Organisation auch in einem kapitalfaschistischen Deutschland
willen ihre vorgeblich
weltanschaulichen und politischen Verständigungsmuster
zur Disposition zu stellen – und über
Bord zu werfen:
In einer Erklärung vom 20. März
1933, dem Reichskanzler Adolf Hitler am 21. März 1933
übermittelt, versichert der sozialdemokratische
ADGB-Vorstand zum ‘Tag von Potsdam’ seinen
Willen zur institutionalisierten Zusammenarbeit mit den
kapitalfaschistischen Unternehmern (auch
über tarifpolitische Fragen hinaus) und gibt seine Bereitschaft
zu erkennen, auch eine grundlegende
Reorganisation der sozialen Repräsentationsorgane zu
akzeptieren. - In einem zweiten Schreiben
vom 29. März 1933 erklärt der ADGB die vollständige
Unabhängigkeit von allen (bürgerlichen) politischen
Parteien, auch von der SPD, und
signalisiert seine Bereitschaft, selbst den Verlust der
Verbandsautonomie durch Unterstellung
unter die staatliche
Exekutive zu akzeptieren. -
Es folgten die Erklärung des
sozialdemokratischen ADGB vom 9. April 1933, in der die
Bereitschaft und der Wille zur Mitarbeit am
berufsständischen Aufbau bekräftigt und die
Einsetzung eines Reichskommissars für die Gewerkschaften
empfohlen wird, Verhandlungen über die
Zukunft der Gewerkschaften mit Vertretern der
kapitalfaschistischen NSBO, die Aufrufe zu den
(demagogischen:) ‘nationalsozialistischen’
Maifeiern, der endgültige Bruch mit dem Internationalen
Gewerkschaftsbund, und schließlich ein
(letzter) Versuch im April 1933, durch eigene Initiative der
drei großen Richtungsgewerkschaften die
Einheitsparole der ‘Nationalsozialisten’ (richtig: der
Kapitalfaschisten) aufzunehmen und einen gemeinsamen
‘Führerkreis’ zur Vorbereitung des
organisatorischen Zusammenschlusses zur (kapitalfaschistischen)
Einheitsgewerkschaft zu bilden.
»Aber gerade dasjenige Dokument,
das die konzeptionelle Basis dieser Übereinkunft
abgeben sollte, demonstriert auch, in welchem Maße die
Vertreter der freien Gewerkschaften sich
bereits dem Diskurs des Völkischen und des Nationalen angepasst
hatten, in welchem Maß tatsächlich der Prozess ihrer
‘inneren Gleichschaltung’ mittlerweile
vorangetrieben war.« (S. 197)
[Eine notwendige und auch heute
noch überfällige Modifikation, vgl.]
Anmerkung
Siehe zur „Politik der
ideologischen Anbiederung“ und der „Praxis der erfolgreichen
Anpassung“ an die kapitalfaschistischen Vorgaben:
Beier, Gerhard: Das Lehrstück,
1975, S. 29. Zum Anpassungskurs der freien Gewerkschaften im
Frühjahr 1933 siehe: Reichhardt, Hans Joachim: Die
Deutsche Arbeitsfront, 1956, S. 18ff;
Schumann, Hans-Gerd: Nationalsozialismus und
Gewerkschaftsbewegung, 1958, S. 53ff;
Kosthorst, Erich: Von der Gewerkschaft zur Arbeitsfront, 1963,
S. 18f; Heer, Hannes: Burgfrieden oder
Klassenkampf. Zur Politik der sozialdemokratischen
Gewerkschaften 1930-1933. Neuwied, Berlin 1971, S. 101ff;
Bracher, Karl Dietrich: Stufen der Machtergreifung,
1974, S. 249ff; Beier, Gerhard: Das Lehrstück, 1975, S.
22ff; Mommsen, Hans: Die deutschen
Gewerkschaften zwischen Anpassung und Widerstand, 1975, S.
275ff; Schneider, Michael: Tolerierung -
Opposition - Auflösung. Die Stellung des Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbundes zu den Regierungen Brüning bis
Hitler. In: Sozialdemokratische
Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur
gesellschaftlichen Entwicklung 1927-1933.
Hrsg. Von W. Luthardt. 1. Bd. Frankfurt 1978, S. 160ff;
Matthias, Erich: Die Sozialdemokratische
Partei Deutschlands. In: Ders./R. Morsey (Hrsg.): Das Ende der
Parteien 1933. Darstellungen und
Dokumente. Mit Beitr. von Siegfried Bahne u.a.. Unv. Nachdr. Des
erstmals 1960 erschienen Werkes. Königstein/Ts.,
Düsseldorf 1979, S. 175ff; Schlingensiepen,
Alexandra: Vom 2. Mai 1933, in: Esters, Helmut/Hans
Pelger: Gewerkschafter im Widerstand,
1983, S. IXff; Fehler, Versagen, Schuld? Ein Streitgespräch über
die Rolle von SPD, KPD und Gewerkschaften
am Ende der Weimarer Republik zwischen Ulrich Borsdorf, Frank
Deppe, Michael Schneider und Hermann
Weber. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 24, 1983, S.
285ff; Skrzypczak, Henryk: das Ende der Gewerkschaften.
In: W. Michalka (Hrsg.): Die
nationalsozialistische Machtergreifung, Paderborn 1984, S. 97ff;
Jahn, Peter: Gewerkschaften in der Krise.
Zur Politik des ADGB in der Ära der Präsidialkabinette 1930 bis
1933. In: E. Matthias/K. Schönhoven
(Hrsg.): Solidarität und Menschenwürde, 1984, S. 249ff; Winkler,
Heinrich August: Der Weg in die Katastrophe, 1987, S.
893ff: Schönhoven, Klaus: Die deutschen
Gewerkschaften, Frankfurt 1987, S. 179ff; Schneider, Michael:
Höhen, Krisen und Tiefen. Die
Gewerkschaften in der Weimarer Republik 1918 bis 1933. In: Klaus
Tenfelde u. a.: Geschichte der deutschen
Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945. Köln 1987, S. 434ff;
Dokumente in: Deppe, Frank/Witich Roßmann:
Wirtschaftskrise, Faschismus, Gewerkschaften.
Dokumente für Gewerkschaftspolitik 1929-1933. Köln 1981.
Als Versuche einer nichtokkasionistischen
Begründung für diese gewerkschaftliche Strategie der Anpassung:
Skrzyczak, Henryk: From Carl Legien to
Theodor Leipart, from Theodor Leipart to Robert Lex. Notes on
some
strategic and tactical problems of the German free trade union
movement during the Weimar Republic. In:
IWK. 7, 1971, H. 13, S. 26ff; ders.: Die Ausschaltung der Freien
Gewerkschaften, 1984; usw., vgl. Anm. u. a. S.193/194.
Quelle: Der umworbene Stand.
Die ideologische Integration der Arbeiter im
Nationalsozialismus 1933-1935 / Eberhard Heuel. -
Frankfurt am Main; New York: Campus
Verlag 1989 (Campus Forschung, Band 636)
25.08.2014, Reinhold Schramm (Bereitstellung)
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