Offener Brief an die Projektleitung Konferenz „Zweite Generation“

von
Antonín Dick

09-2014

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onlinezeitung


Frau Anke Wolf und Herrn Thorsten Fehlberg
Projektleitung Konferenz „Zweite Generation“
BUNDESVERBAND INFORMATION & BERATUNG
FÜR NS-VERFOLGTE e. V.

Genovevastraße 72
51063 Köln

 

Ich danke Ihnen aber für Ihre freundliche Absicht, die zeigt,  dass nur solche Menschen, die sich selber in großer seelischer Not finden, Vergleichsmöglichkeiten besitzen, die ihnen erlauben, mitzuempfinden… Wappnen Sie sich mit der Stärke eines, der der dem Unglück mit offenen Augen entgegenkommt. Es gibt  kein Entrinnen. Es gibt bloß helfen, den Andern unverzagt helfen, indem man versucht, ihnen die Augen zu öffnen. Das Licht muss von innen kommen.“

Oskar Kokoschka, in einem Brief vom 24. Dezember 1945 aus  dem Londoner Exil an seinen Meisterschüler Hans Meyboden in Deutschland, der unter den Nazis als „entarteter“ Künstler verfemt war (1)

Sehr geehrte Frau Wolf, sehr geehrter Herr Fehlberg,

in Vorbereitung der Konferenz „Zweite Generation“, die der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte im Juni 2015 in Räumlichkeiten der Evangelischen Kirche Berlin ausrichten wird, leisten Sie als verantwortliche Projektleitung eine wichtige Vorarbeit für das Gelingen dieses gesellschaftlichen Anliegens mit gesamtgesellschaftlichem Anspruch. Dafür ist Ihnen seitens der Betroffenen, aller mittelbaren Opfer des deutschen Faschismus, zu denen ich gehöre, außerordentlich zu danken.

Hochgesteckte Erwartungen verbinden sich mit diesem Ereignis, dennoch ist, oder vielleicht gerade deshalb, wissenschaftliche Nüchternheit durchaus angebracht: Bekanntlich setzte hierzulande die bewusste Hinwendung zu den sozialen, politischen, kulturellen, familiären, psychischen und lebensgeschichtlichen Problemen der Kinder der Verfolgten des Naziregimes erst sehr spät ein. Es ist bezeichnend, dass es in New York ein eigenes Institut zur Erforschung dieser Folgen der Naziherrschaft gibt, in Deutschland jedoch nicht. Zu den Ursachen dieser verschleppten Erinnerung sagte der Präsident der Bundesrepublik Deutschland Joachim Gauck, Träger der Leo-Baeck-Medaille, verliehen wegen seiner herausragenden Verdienste um die deutsch-jüdische Aussöhnung, am 4. März 2014 auf dem Festakt 60 Jahre Yad Vashem in der Deutschen Oper Berlin: „Deutschland ist der Konfrontation mit den Opfern nationalsozialistischer Vernichtungspolitik in der Nachkriegsära weitgehend ausgewichen. Westdeutschland wollte vergessen, Schuld verdrängen, die Vergangenheit unter den Aufbauleistungen des Wirtschaftswunders begraben. Viele, die im NS-Regime Verantwortung getragen hatten, gingen straffrei aus, die meisten Widerstandskämpfer hingegen galten als Vaterlandsverräter. Und für die Opfer der deutschen Grausamkeiten fehlte damals das Mitgefühl.“ (2)

Das ist unsere Ausgangssituation, in der unsere Konferenz „Zweite Generation“ stattfinden wird. Ich sage mit Bedacht „unsere Konferenz“ und nicht „die Konferenz“, um deutlich zu machen, dass es sich hier um ein „Wir“ handelt, nämlich um einen gleichberechtigten Diskurs zwischen den Betroffenen, die erstmals in einer Öffentlichkeit dieser Dimension angehört werden, und Experten, die diese Anhörung organisieren, leiten, moderieren und evaluieren. Ein wahrhaft historisches Ereignis! Über ein halbes Jahrhundert nach meiner Geburt im englischen Exil, wohin meine Eltern aus politischen und rassischen Gründen aus dem Land der Mitläufer, Profiteure und Täter einer bislang nicht für möglich gehaltenen Barbarei, aus Deutschland, fliehen mussten! Im Vereinigten Königreich der Niederlande wäre ich als Kind von Verfolgten des Naziregimes längst in den Genuss einer Entschädigung gekommen! In seiner berühmten Amsterdamer Tischrede nach dem Krieg bezeichnete Thomas Mann, aus dem amerikanischen Exil kommend, das niederländische Volk als das einzig seelisch intakte Volk in Kontinentaleuropa, das in der Lage sei, Versuchen zur Wiederbelebung des Nazismus wirkungsvoll zu trotzen.

Es gibt unterschiedliche Situationen von solch historischer Tragweite. Schauen wir uns drei exemplarische Ausgangssituationen etwas näher an, um uns der jetzigen umso besser bewusst werden zu können, um uns auf die Zukunft bewusst vorzubereiten.
 

G e s p r ä c h s s i t u a t i o n 1:

Als auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone des von den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition zertrümmerten Kriegsreiches der Deutschen ab Januar 1946 die Kommissionen zur amtlichen Anerkennung als Opfer des Faschismus tagten, saßen sich an hastig zusammengeschobenen Tischen in einer zerbombten Amtsstube in Berlin-Mitte, Neue Schönhauser Straße 3, Leidensgenossen gegenüber: meine im Sommer 1946 aus dem englischen Exil zurückgekehrten Eltern auf der einen Seite der Tische, der Ausschuss „Opfer des Faschismus“ des Magistrats von Berlin unter Leitung des ehemaligen Häftlings des Konzentrationslagers Sachsenhausen Hellmut Bock auf der anderen Seite der Tische. Die Tische trennten nicht. Vor und hinter den Tischen saßen Gleiche, Leidensgenossen, die sich durch ein verstohlenes Lächeln gegenseitig dankbar versicherten, dass sie der Nazihölle entronnen waren. Geile Machtspiele wie heute waren den mit administrativer Vollmacht ausgestatteten Ausschussmitgliedern absolut fremd. Aber dieses herrschaftsfreie, vertrauensvolle und brüderliche Miteinander von gleichgesinnten Entronnenen war eine Insel in einem Meer voller Misstrauen, Neid, Strafangst, Abwehr und Feindseligkeit. Ich erinnere mich, noch sehr genau, ich traute mich damals kaum aus dem Haus. Meine Eltern waren für die Gezeichneten des Ausschusses höchst willkommen, denn sie waren selber Gezeichnete. Auf den Berliner Schwarzmärkten wurde zu Höchstpreisen mit „Judensternen“ gehandelt. Die Deutschen wollte auch zu den Gezeichneten gehören, Opferlebensmittelkarten in der Markttasche haben und in bewohnbaren Wohnungen mit Licht und Wasser wohnen.

Die den Bombenangriffen der Alliierten entkommene deutsche Bevölkerung hungerte. Es sprossen keine Gefühle des Verständnisses für die Naziverfolgten, der Empathie oder gar der Solidarität. Die Deutschen krochen geradewegs aus dem untergegangenen Nazireich, das durch bedingungslosen Gehorsam zusammengehalten wurde, nahmen für sich den Status von Überlebenden in Anspruch, weil sie aus Luftschutzkellern krochen. Emigranten waren für sie Feiglinge. Abgehauene. Sie selbst jedoch waren über Nacht zu Opfern geworden, von Herrenmenschen zu Opfern. Es kam für sie nicht in Frage, an den tödlichen Blick ins Antlitz der Medusa überhaupt nur zu denken. „Durchkommen, um jeden Preis durchkommen!“ hieß das Losungswort. Zwei Jahre zuvor hatte es noch geheißen: „Genieße den Krieg, der Frieden wird furchtbar werden!“ Jetzt galt es, sich die leeren Mägen zu füllen und die ihnen zustehenden Orgasmen, um nicht zu sagen Volksorgasmen, zu sichern unter den erschwerten Bedingungen chronischen Männermangels. Fuhr man nicht zum Bauern, Kartoffeln zu organisieren, gab es Sex in Ruinen, begleitet von einsamen Schüssen und Fürzen herumstreunender Werwölfe. Und emotional? Was lief da ab? Mehr oder weniger reduziert auf zwei Grundgefühle, um nicht zu sagen, auf zwei bedingte Reflexe, die immer schon den Ton in der deutschen Werteskala der Gefühle angegeben hatten, aber erst in der Nazidiktatur ihre volle Blüte entfalten konnten. Als die Briten im Jahre 1944 ihre Soldaten auf die Besetzung vorbereiteten, hieß es in den Instruktionen des Foreign Office zum deutschen Wesen: „Die Deutschen haben tiefsitzende Komplexe, dazu gehört die Herrschsucht. Gleichzeitig aber leiden sie unter ständigem Verfolgungswahn.“ (3)

Und meine Eltern? Was fühlten sie, als sie in den Wirbel des Totentanzes der Deutschen geworfen wurden? Sie waren doch die Überlebenden, nicht die anderen? Und obendrein Sieger der Geschichte, da sie doch mit den Siegern kamen? Ein höchst zwiespältiges Fühlen, das weiß ich noch, ohne hier alle affektiven Details rekonstruieren zu können, obwohl eine solche Rekonstruktion höchst interessant wäre für eine der Themensetzungen einer Konferenz über das Schicksal der Zweiten Generation von Naziverfolgten.

Im Jahre 1946 kamen nicht nur meine Eltern und andere Anti-Nazi-Emigranten ins zerstörte Deutschland, sondern auch ein neugieriger Gleichgesinnter aus Schweden, ein blutjunger Journalist, der im Auftrag der Zeitung Expressen die Lebensbedingungen und Haltungen der Menschen im kriegszerstörten Deutschland erforschte. Einfachste Alltagsszenen von unglaublicher dramatischer Wucht, Tiefenpsychogramme und präzise politische Lagebeschreibungen voll sprachlicher Meisterschaft. Sie wurden ein Jahr später unter dem Titel „Tysk Höst“ in Stockholm veröffentlicht, in Deutschland mit einer Verspätung von vierzig (!) Jahren unter dem Titel „Deutscher Herbst“. Ich kenne kein Buch über jene Jahre des Neubeginns von einer solchen Unbestechlichkeit. Eine Chronik der Gefühle nicht zuletzt auch der tapferen Überlebenden des Naziterrors, die nicht emigrieren konnten oder wollten. Die folgende ergreifende Analyse soll hier mitgeteilt werden, weil sie die ganze Hilflosigkeit von dagebliebenen Antifaschisten erfasst. Einen kleinen Teil dieser Hilflosigkeit erlebte ich auch an meinen Eltern nach zerbrechlicher Ankunft im zerstörten Berlin, die ich nie vergessen werde. Die vergleichbare Szene, die der junge Schwede überlieferte, ist zu Hamburg. Eine Antifaschistin begleitet ihn durch die Trümmerlandschaften einer am Boden liegenden Stadt. Die aufrichtige Frau hat durch Bombenangriffe der Briten ihr Zuhause verloren. Sie ist aber ohne rachsüchtigen Ingrimm. Sie sagt: ‚Angefangen hat es in Coventry.“ (4) Eine knappe Bahnstunde von Coventry entfernt, erblickte ich mitten im Krieg das Licht der Welt. Görings fanatisierte Botschafter in ihren aus dem Himmel stürzenden Maschinen vom Typ Heinkel He 111 (man zeigte sie den aufgegeilten Deutschen in der Wochenschau zu den schmissigen Klängen der Marschpolka „Denkste denn, denkste denn, Du Berliner Pflanze“, eines Liedes, das in einer augenzwinkernden Aufforderung zur Masturbation gipfelt, während im Film die deutschen Maschinen Bomben ejakulieren, und schon allein diese Kombination aus preußischem Militärkapellenschmiss, sexuellem Begehren und Transformation dieses Begehrens in kriegerisches Angriffsverhalten wäre es wert, zum Gegenstand einer psychoanalytische Studie über die psychische Disposition der Deutschen vor 75 Jahren erhoben zu werden!) hätten auch mich aus sicherer Höhe „ausradieren“ können, wenn wir in Coventry gelebt hätten. Mein Vater, ein emigrierter Widerstandskämpfer, ein einfacher Elektroschweißer, arbeitete in den Rüstungswerken von Coventry in einer Panzerfabrik, nachdem sie ihn bei der Royal Air Force, wo er sich als Pilot beworben hatte, nicht genommen hatten. Er arbeitete in einer Panzerfabrik gegen den Vernichtungskrieg der Deutschen. Der schwedische Journalist notierte im zerstörten Hamburg nach dem Coventry-Satz der Antifaschistin mit analytischer Schärfe deren geistig-politische Hilflosigkeit: „Die Replik klingt fast zu klassisch, um echt zu wirken, doch in ihrem Fall ist sie echt. Sie weiß, was im Krieg alles geschehen ist, und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, ist ihr Fall so tragisch.“ (5) Und um uns dann die ganze unauflösbare Tragik dieser tapferen Frau vor Augen zu führen: „Es gibt in Deutschland nämlich eine große Gruppe aufrichtiger Antifaschisten, die enttäuschter, heimatloser und besiegter sind als alle Nazi-Mitläufer, enttäuscht, weil die Befreiung nicht so radikal ausfiel, wie sie sie sich vorgestellt hatten, heimatlos, weil sie sich weder mit der deutschen Unzufriedenheit solidarisieren wollten, in deren Ingredienzen sie allzu viel versteckten Nazismus zu erkennen meinen, noch mit der alliierten Politik, deren Nachgiebigkeit den alten Nazis gegenüber sie mit Bestürzung beobachten, und schließlich besiegt, weil sie bezweifeln, dass sie als Deutsche Aktien am alliierten Endsieg besitzen könnten, während sie gleichzeitig durchaus nicht so überzeugt sind, als Antinazist keinen Anteil an der deutschen Niederlage zu haben. Sie haben sich selbst zu völliger Passivität verurteilt, weil Aktivität Zusammenarbeit mit jenen zweifelhaften Elementen hieße, die sie in zwölf Jahren Unterdrückung hassen gelernt haben. Diese Menschen sind die schönsten Ruinen Deutschlands, bis auf weiteres aber sind sie ebenso unbewohnbar wie die eingestürzten Häusermassen zwischen Hasselbrook und Landwehr, die in der feuchten Herbstdämmerung scharf und bitter nach erloschenen Bränden riechen.“ (6).

G e s p r ä c h s s i t u a t i o n 2:

Ein halbes Jahrhundert nach dieser charakteristischen Gesprächssituation nun eine völlig andere, ebenfalls charakteristische Gesprächssituation. Statt der Situation ‚Gesprächsrunde brüderlich – Umfeld spannungsgeladen‘ nun eine Situation mit gegenläufigen Tendenzen. Die Gesprächsrunde war spannungsgeladen, das miteinander solidarische Umfeld nicht ohne Skepsis, aber insgesamt neugierig bis wohlwollend interessiert.

Das Anderssein beginnt schon radikal anders damit, dass die Gespräche nicht im Täterland Deutschland stattfinden, sondern in Israel, wo viele Überlebende der Naziverfolgung leben. Und eine Seite der Gesprächsteilnehmer ist deutsch, die andere jüdisch. Kinder von Tätern, darunter Martin Bormann Junior und Hans Frank Junior, und Kinder von Opfern des Nationalsozialismus auf den Spuren der Nazibarbarei, auf den Spuren ihrer Persönlichkeitsbildung, auf den Spuren des angerichteten und ausgehaltenen Leids. Also ein höchst problematischer Dialog. Es war der israelische Psychologe und Holocaustforscher Dan Bar-On, der diesen „To reflect and trust“-Gesprächskreis, wie er ihn nannte, ins Leben gerufen hat. Eine riskantes Unternehmen, wie man sich vorstellen kann. Die Konfrontation ist ein Kraftakt. Wer kann sich auf einen solchen vergangenheitsbelasteten Prozess des Aufbaus gegenseitigen Vertrauens einlassen? Die Gesprächsteilnehmer sind aufgefordert, sich ihre Lebens- und Leidensgeschichten zu erzählen, Fragen zu stellen, auch in die Zukunft hinein, und sie sind verständlicherweise über weite Strecken überfordert. Erstaunlicherweise entdecken die Kinder beider Seiten im Zuge des komplizierten Vertrauensbildungsprozesses auch Gemeinsamkeiten.

„Ich habe als Historikerin über 15 Jahre in der NS-Forschung gearbeitet, und zusammen mit meiner Therapieausbildung habe ich das mehr und mehr in den Fokus genommen, wie die Menschen ihre eigene persönliche Familiengeschichte mit dem Kollektiv, mit der historischen Geschichte, in Zusammenhang bringen können,“ führte die aus der Schweiz stammende Psychologin Tanja Hetzer zu diesem Wagnis in einer Sendung des Kölner Deutschlandfunks am 8. Juni diesen Jahres aus (7). Ihr Forschungs- und Therapieansatz ist vorwärtsweisend – Synthese von Psychologie und Geschichte. Man sollte Tanja Hetzer unbedingt zur Konferenz „Zweite Generation“ einladen, meine ich, dies hörend, denn dieser Ansatz ist relativ neu und knüpft, bewusst oder unbewusst, an die fast verloren gegangenen Traditionen der Gesprächssituation 1 an. Dieser Ansatz ist geeignet, verkrustete Forschungsverfahren, hermetisch abgeschlossene Themensetzungen und wissenschaftspolitisches Hoheitsdenken aufzubrechen und dürfte entschieden dazu beitragen, dem versteckten anthropologisch-menschheitsgeschichtlichen Kern des damaligen Geschehens auf die Spur zu kommen, eine Arbeit, die noch Dutzende von Jahrzehnten in Anspruch nehmen wird. Zusammen mit ihrem Mann Achim Goeres leitet sie seit Jahren ein Institut in der Stadt, in der im nächsten Jahr die Konferenz „Zweite Generation“ stattfinden wird. Sie verfügt über einen reichen Fundus an internationalen Arbeitserfahrungen. Und sie publiziert kontinuierlich zum Konferenzthema. Gern würde ich mich dafür verwenden, sehr geehrte Frau Wolf und sehr geehrter Herr Fehlberg, eine Verbindung zwischen Ihnen und diesem Forscherehepaar herzustellen, um ihre aktive Teilnahme als Beiträger an der Konferenz „Zweite Generation“ in die Wege zu leiten. Es ist diese Offerte eine Überlegung eines engagierten Kindes von Opfern des Faschsimus zur weiteren Qualifizierung der Konferenzsubstanz, mehr nicht. Im positiven Falle erwartete ich von Ihnen ein entsprechendes Signal. Eine Kontaktaufnahme meinerseits ist bereits eingeleitet worden. Selbstredend werde ich mich nicht in Ihre Aufgaben einmischen, ich habe aus Arbeitsgründen auch gar keine Zeit dafür, und außerdem bin ich Betroffener. Alles Weitere läge daher in Ihrer Hand als mandatierte Projektleitung. „Ich glaube, die Empathiefähigkeit ist ein Schlüssel, dass so etwas wie das, was geschehen ist, dass so etwas wie Auschwitz, dass es nie wieder passiert. Und im Nationalsozialismus wurde systematisch und mit Absicht die Empathiefähigkeit ausgetrieben und abgewehrt“, führte Tanja Hetzer in jener Rundfunksendung über die dramatischen Begegnungen zwischen Kindern der Opfergeneration und Kindern der Mitläufer-, Profiteure- und Tätergeneration (8) weiter aus und knüpfte damit im Grunde an die eingangs zitierten Worte des Emigranten Oskar Kokoschka an, der in englischen Zufluchtsorten nicht nur herausragende Werke der Malerei schuf, sondern auch exzellente Studien zu den eigentlichen Quellen des Faschismus. Vor ein paar Tagen entschuldigte sich der Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtages, der das mörderische Treiben des Nationalsozialistischen Untergrunds und das Versagen unseres Staates analysierte, bei den Hinterbliebenen der Opfer für die mangelnde Empathie der deutschen Behörden. Eine Entschuldigung seitens der Behörden selbst erfolgte bislang nicht. Der ungeheure Verdacht auf Sabotage seitens der Dienststellen von Justiz und Polizei wurde durch den Untersuchungsausschuss erhoben. Er lastet schwer auf den Behörden, doch behördlicherseits sind an die Öffentlichkeit noch keinerlei Stellungnahmen gedrungen. Wir stehen im 81. Jahr der „Machtergreifung“ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in Deutschland.

Zurück zu den Gesprächen zwischen Opfer- und Täterkindern. Dort engagierte sich, wie schon erwähnt, auch Niklas Frank, einer der Söhne von Hans Frank, des „Schlächters von Polen“, des Chef des sogenannten „Generalgouvernements des besetzten Polen“. der später als Angeklagter bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zum Tode durch den Strang verurteilt wurde. Sein Sohn resümierte: „Wir Deutschen sind in der Zwischenzeit auf eine ganz furchtbare Weise ein auserwähltes Volk. Wir wissen nach den Massenmorden, die wir veranstaltet haben, wo mangelnde Zivilcourage hinführt, wo mangelnde Demokratie hinführen kann, nämlich bis in die Gasöfen von Auschwitz. Wir müssten eigentlich die Ersten sein, die, wenn man wieder in diese Richtung geht, dann müssten wir schon ganz stark dagegen sein. Aber das ist nicht der Fall, weil uns etwas ganz Entscheidendes fehlt, wir können uns nicht in die Opfer hineinversetzen.“ (9) Vor Menschen mit diesen Defiziten müsste man sich eigentlich hüten, schießt es mir, einem Kind von Überlebenden, sofort durch den Kopf, und ich sehne mich in solchen Augenblicken ganz stark nach den Menschen der Gesprächssituation meiner Eltern in der Stunde null. Doch die gibt es fast nicht mehr. Franks Sohn begründete seine Einschätzung detailreich, und stellte damit unmissverständlich klar, auf welcher Seite er steht. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob der Boden für diese einzigartigen Gespräche auch der deutsche hätte sein können. Nevertheless ist der von Tanja Hetzer und Achim Goeres entwickelte Forschungsansatz für die Erforschung der Lebensbedingungen, Leiden, Konflikte und seelischen Existenzkrisen der Kinder des Holocaust, die Geschichte und die Psychologie zusammenzudenken, auf jeden Fall bahnbrechend und schützt alle, die sich mit diesem sensiblen Thema beschäftigen, vor der immer wieder auftretenden Gefahr einer Privatisierung der Verfolgungserfahrungen, die nur dazu geeignet ist, vom existentiellen Kern des traumatisierten Lebens der Söhne und Töchter der Verfolgten des Naziregimes wegzuführen, womit sie dann wieder im summenden Schweigen der Versicherungen, Verkündigungen, Versprechungen und Vergewaltigungen des Erlebens der lebenden Opfer durch den Verstand angekommen wären. „Viele Nachkommen der Täter verharmlosen die Geschichte“, tönte es aus dem Lautsprecher am 18. Juni (10). Mein ganzes Leben, solange ich in Deutschland lebe, kämpfe ich dagegen an. Die Geschichte ist eingebrannt in mein Selbst. Ich trage den Krieg, die Verfolgung, die Emigration, den deutschen Nachkrieg, der sich nicht selten als deutscher Vorkrieg entpuppte, mit mir herum. Als festsitzendes, drückendes und quälendes Lebensgepäck. Und dazu noch den tagtäglich zu erlebenden rassistischen Diskriminierungsfurors der Deutschen heute. Als ich, ein promovierter Grundsicherungsempfänger, unter der Armutsgrenze lebend, vor kurzem eine Petition bei einer Berliner Bezirksverordnetenversammlung einreichte, so geschah dies nicht zuletzt deswegen, weil ich als Emigrantenkind einer schweren Diskriminierung ausgesetzt wurde. Ich wurde dafür, dass meine Eltern aus Deutschland fliehen mussten und mir das Leben auf den fernen britischen Inseln schenkten, abgestraft, indem man mich als Asylbewerber einstufte und nach dem diskriminierenden Asylbewerbergesetz behandelte. Soll ich entgegnen, ich bin unschuldig? Aber ich bin erkennbar. Ich habe ein dunkles, südeuropäisches Gesicht, wie es im Erfassungsdeutsch der deutschen Polizei heißt. Zum landesüblichen invasiven Identifizierungsabschuss freigegeben bereits beim Einkauf meiner Frühstücksbrötchen. „Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Sind Sie Deutscher?“ Meine Eltern haben gegen den Faschismus gekämpft. Die Sprache droht zu zerfallen, wenn ich, angekommen auf vergiftetem Boden, zurückdenke. Aber die inneren Bilder leuchten auf. Erhellen mein Leben gegen das dunkle Schweigen, das mich umgibt. Eine sanfte mittelenglische Landschaft. Mein Vater jagt Tauben. Wie die Engländer. Wir haben gleich der einheimischen Bevölkerung wenig Geld für kostspielige Fleischkost. Was wir leben, ist Ruhe auf der Flucht. Wir stehen auf den geheimen Listen der Engländer und Kommunisten zur Weiterflucht in die USA. Wie ich geboren werde, droht die Invasion. Des Führers Weisung Nr. 16 droht. Hasserfüllung zu Eis gefroren. Ein ganzes Volk Eis. Ein kompaktes „gesundes Volksempfinden“. Die deutsche Generalität hockt über Karten zur Vorbereitung der Besetzung der britischen Inseln. „Volkszorn“. „Volkswille“. Der Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Deutschen Luftwaffe Hermann Göring bereitet den friedlichen Bewohnern dieser Landschaft einen grauenvollen Garaus. Coventry wird „ausradiert“. Ich erinnere mich noch heute an die Flucht meiner Mutter vor dem „German blitz“ mit mir auf dem Arm in den Keller. Die Ängste wuchern tief in meinem Unterbewussten. Brüllende Bomber über friedlichen Straßen. Ausfall ganzer Hörfrequenzen. Meine Mutter hat Mühe, die Ernährung zu sichern. Trotz englischer Wohlfahrtshilfe Mangelernährung. Chronische Bronchitis. Beginn von Rachitis. Erste Operationen. Krankenhausaufenthalte. Dann die lange Reise nach Prag. Zerstörte deutsche Städte schleichen am Fenster des Zugabteils vorbei. Mein Vater ist ein deutsch-tschechischer Widerstandskämpfer, der mit der Waffe in der Hand die Republik der Tschechen und Slowaken gegen die Henlein-Faschisten verteidigt hatte. Auf die Deutschen ist die hiesige Bevölkerung nicht gut zu sprechen. Die Besetzung unter dem deutschen Reichsprotektor SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, dem Schlächter von Prag. Wir gelten als Deutsche. Obgleich wir Emigranten sind, geflohen vor den Deutschen. Wir müssen weg hier. Podmokly-Dečin, ein Grenzort an der Elbe, wird die dritte Heimat für mich. Ich lerne tschechisch. Doch plötzlich, auf Grund einer Denunziation, steht die Polizei in der Wohnung. Ausweisung. Wir spüren, dass mehr dahintersteckt, und wir kriegen es zu spüren. Juden. Was für eine Schmach für Menschen, die aktiv gegen Hitler gekämpft haben. Elbe aufwärts also ins zerstörte Deutschland. Im Bauch eines ausgedienten Salzdampfers. Zusammengepfercht mit beleidigten und brüllenden Nazis. Dann ein wüstes Camp für Displaced Persons. Ein ehemaliges Konzentrationslager bei Schönebeck an der Elbe. Ein ehemaliges Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, in dem Arbeitssklaven für die nahe gelegenen Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG schuften mussten. Ja, die gefeierte „Tante JU 52“ mit dem Kriegsbauch für schwarzgekleidete Himmelsspringer. Mit dem metallischen Grinsen. Baracken. Zelte. Graupen. Krankheiten. Häftlinge. Nazis. Heimatlose. Kriegsgefangene. Ruhr. Über Wochen hausen wir in einem Zelt auf nackter Erde. Dann Berlin. Vaterstadt meiner Mutter. Vierte Heimat. Ein Trümmerhaufen. 1946 das schlimme Jahr. Der Reichsmarschall soll von den Alliierten hingerichtet werden. Selbstmord. Als ob das Fallbeil nun uns treffen soll. Es muss fallen, denn es war nun einmal erhoben. Meine Eltern trennen sich in der gespaltenen Stadt. Wieder ein Überleben. Hungerwinter. Eiswinter. Todeswinter. Klirrende arktische Kälte. Nur mit englischer und jüdischer Hilfe aus dem Ausland kommen wir durch. Die Leute sterben wie die Fliegen. Wieder Bronchitis. Hautkrankheiten. Zahnerkrankungen. Erkrankungen des Stützsystems. Wachstumsschwierigkeiten. Dazu die Fremde. Deutsche. Die Nähe. Englische Besatzungssoldaten. Wir sind heimgesuchte Fremde in der Nähe. Heimgekehrte Emigranten in der Fremde. Fremdgekehrte Emigranten in der Heimat. Aus den Verstecken kriechen Juden. Völlige Abwesenheit von Scham in der deutschen Bevölkerung. Wie zu nachträglicher Bestätigung ist gerade ein Buch über das allmähliche Verschwinden des Schamgefühls und seine Ersetzung durch das Peinlichkeitsgefühl erschienen. (11) Auschwitz ist den Deutschen peinlich. Diese Umwälzung hat Hitler eingeleitet. „Scham ist Trauer, begleitet von der Idee einer von uns verrichteten Handlung, von der wir uns vorstellen, dass andere sie tadeln,“ sagt Baruch de Spinoza in seiner „Ethik“. (12). Empathie, Barmherzigkeit, nach der Niklas Frank schreit, ist also gar nicht möglich, denn sie setzt ja die Fähigkeit zu trauern voraus, aber die gibt es nicht. Die Nachkriegsvolksgemeinschaft stampfte über solche feinen Distinktionen hinweg. Hitlers später Sieg ist die Monokultur der Gefühle. Stampfen und Spaß haben, die anderen Gefühle wegrasiert. Auch die wilden Erregungen des Aufbegehrens gefügig gemacht durch Gefügigmacher, die nicht mehr leben. Und im Schatten dieses Darüberhinwegstampfens das Nichtredenkönnen meiner Mutter. Die Familie ermordet. Verschollen. Kein Zeichen. Ich werde geschützt. Ich soll nichts merken. Stattdessen zu den Besten in der Schule gehören. Seelische Verwirrungen auf Schritt und Tritt. Und wenn ich innehalte, spüre ich, eingezwängt zu sein in die sozialen Verteilungskämpfe der anderen Heranwachsenden. Barbarenkinder. Und im Viertel, wo ich aufwachse, fast nur blonde Kinder. Kaum Freunde. Stattdessen übersteigerte Anhänglichkeit an meine Mutter. Liebe in einer lieblosen Zeit. Besatzungsfrieden. Hölle der sauberen Nachkriegsdeutschen. Fast tödliche Lungenentzündung. Im Kopf tobt der britische Verteidigungskrieg gegen die Hunnen, wie sie die Deutschen nennen. Die Wahrheit gibt es nicht auf Lebensmittelkarten. Sie tönt aus einer Goebbelsschnauze. Volksempfänger. British Broadcasting Corporation. Meine Mutter muss mir zum Geburtstag einen Radiodetektor mit Militärkopfhörern kaufen. Meine Sehnsüchte unerfüllbar. Erfüllbar nur die Sehnsucht nach einem festen Platz in der Gesellschaft, und dies ist gar keine Sehnsucht, sondern Anpassung, geradezu axiomatisiert, internalisiert, als sei das ein Gesetz des Überlebens, also immer in dieser Alternative schwebend, „Sehnsucht empfinden zu können, oder der krampfhaften Mode anhängen, zu meinen, (man) hätte eine Aufgabe“, wie der unbestechliche Stig Dagerman herauskristallisiert. (13) Und nicht selten mitschwingend die Angst, die Türen könnten aus irgendeinem Grund vor einem zugeschlagen werden. Oder aus Versehen leise zuschnappen. Eine stets gegenwärtige Sorge bereits lange vor dem bedrohlichen Türspaltgefühl. Sehnsucht und Schutzbedürfnis in einer eigenartig galoppierenden Wechselspannung, die lähmen oder hyperaktivieren kann. Das Schutzbedürfnis naturwüchsig, kindhaft, ein paar ausgestreckte Ärmchen, eine Art Naturkonstante im Verhalten eines jedes Emigranten, wovon Sigmund Freud sprach, als er, im hohen Alter die bittere Frucht des Exils schluckend, in einer Studie über Moses versank. Menschen, so führt er aus, sind sie einmal Emigranten geworden, bleiben „infantil und schutzbedürftig.“ (14)

G e s p r ä c h s s i t u a t i o n 3:

Diese Situation ist fiktiv, weil es ein Entschädigungsgesetz für die Angehörigen der Zweiten Generation der Naziverfolgten noch nicht gibt. Ich sitze in einem Raum in der Neuen Schönhauser Allee 3, wo vor knapp 70 Jahren meine Eltern den Mitgliedern des Ausschusses für die Opfer des Faschismus gegenübersaßen. Ich sitze einem Gutachter gegenüber, einem freundlichen Herrn mittleren Alters mit großen klugen Augen und vollführe im Stillen, ohne mir etwas anmerken zu lassen, meinen Check-up für Personen, die in irgendeiner Weise, haupt- oder ehrenamtlich, mit Anträgen, Problemen und Fragen der unmittelbaren und mittelbaren Opfer des Faschismus zu tun haben. Das mache ich immer bei Begegnungen mit Menschen mit Erinnerungsaufgaben. Ich kreuze einen unsichtbaren Fragebogen an: Könnte mein Gegenüber zur Enkelgeneration von Opfern des Naziregimes gehören oder eher nicht? Wenn nein, und das ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle so, dann die nächste Ankreuzfrage: Ist diese Person Enkel von Mitläufern, Enkel von Profiteuren oder Enkel von Tätern im System des Nationalsozialismus. Ich entscheide gewöhnlich rasch, weil ich konzentriert zu arbeiten gewohnt bin, fast schlafwandlerisch, weil ich jahrelang darin geübt bin, doch dieses Mal erreiche ich mein Ziel nicht einmal im Ansatz, denn mich erwischt für Bruchteile von Sekunden ein Blackout, das mich vollständig lähmt. Der freundliche Beamte des Senats holt lächelnd einen kleinen Ball hervor und legt ihn auf den Tisch, ohne etwas dazu zu sagen. Erst jetzt merke ich, dass der Tisch leer ist, keine Akten, keine Schreibutensilien, keine Zeitungen, kein Telefon. Und dass hier alles sehr improvisiert aussieht, zusammengeschoben. Die Tische passen nicht zusammen. Wie damals, schießt es mir durch den Kopf, wie kurz nach unserer Ankunft. Ein leerer Tisch. Aber jetzt darauf ein Ball. Hier bricht der Tagtraum ab.

*

Ich bin sowohl ein Kind des Holocaust als auch ein Kind des Widerstands. Und ich bin ein Kind des Exils. Seit Jahrzehnten arbeite ich mich an dieser dreifachen existentiellen Bürde ab. Als Theaterregisseur inszenierte ich Georg Kreislers Exilrevue „Heute Abend: Lola Blau“, die Geschichte einer jüdischen Schauspielerin, die 1938 aus Wien vor den Nazis fliehen musste, die „Ballade vom Emigranten“, ein selbstentwickeltes Theaterstück über einen aus dem „Dritten Reich“ flüchtenden Arbeiter nach Texten mehrerer Exilautoren, „Ich, Susanne Salomon“, ein Theaterstück über eine junge Frau der dritten Generation von Überlebenden des Holocaust, das ich zusammen mit ihr entwickelt habe, ein Dokumentarstück über die sogenannten „jüdischen Sonderkommandos“ in der Todesfabrik von Auschwitz-Birkenau, einen Monolog über den frühexpressionistischen jüdischen Dichter Jakob van Hoddis, der von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde, sowie einen theaterpädagogischen Workshop zum Thema „Exil und Emigration aus Nazideutschland“, und dies alles eines Tages anerkannt und schließlich gefördert vom Hauptstadtkulturfonds. Gleichzeitig publiziere ich seit Jahren wissenschaftlich über Themen der internationalen Exilforschung, des deutsch-jüdischen kulturellen Erbes und der Auseinandersetzung mit dem Neofaschismus. Es geht um die Erforschung der Quellen des Faschismus, die unsichtbar weiterfließen trotz aller offiziöser Verlautbarungen über die gelungene Aufarbeitung. Gegenwärtig arbeite ich am Exilreport meiner Mutter Dora Dick unter dem Titel „Es war mir in Deutschland zu still“, an einem gemeinsamen Gedichtband unter dem Titel „Glut Emigranten Staub der Zeit“ sowie an einem Exposé für einen Roman über einen Exilgeborenen in den dramatischen Tagen des Baus der Berliner Mauer.

In der gemeinsam mit einem anderen Kind von Überlebenden des Naziterrors verfassten Entschädigungsinitiative ist eine der Aufgabenstellungen vieler Verfolgtenkinder knapp formuliert worden. Es geht um die „ … die Spuren hinterlassende Schwerstarbeit an der Integrität der verletzten Persönlichkeit.“ (15) Dahinter verbirgt sich ein unbekannter, schier unendlicher Kontinent, der zu Fuß, ohne Hilfsmittel und Helfer, zu durchschreiten ist. Überflüssig festzustellen, dass diese Lebensaufgabe von der Gesellschaft unterstützt, ja, dass zunächst einmal sichergestellt werden muss, dass die Träger dieser Lebensaufgabe zu sozialen Normalstandards existieren können, weil sie etwas der Gesellschaft zu geben vermögen, was kein anderer zu geben vermag. Deswegen die sechs Forderungen der mittelbaren Opfer des Faschismus an die deutsche Gesellschaft, wie wir sie in der Entschädigungsinitiative herausgearbeitet haben. (16)

Es gibt einen psychiatrischen Gutachter, der sich speziell mit Entschädigungsfragen der Zweiten Generation eingehend beschäftigt, der die Quellen jener wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Energien freigelegt hat und sie zu beschreiben in der Lage ist. Mit großem Staunen stelle ich fest, dass er mit wenigen Strichen auch mich mit meiner speziellen Schwerstarbeit beschrieben hat, obwohl wir uns noch nie begegnet sind. Der Gutachter heißt Ralf Seidel, und er beschreibt meine spezielle Situation als mittelbares Opfer des Faschismus treffend so: „Der leider so früh verstorbene israelische Psychiater und Schriftsteller Yossi Hadar, selbst Sohn von Überlebenden des Holocaust, hat einmal darauf hingewiesen, dass Angehörige der Zweiten Generation auf einer ständigen Suche nach der ‚verlorenen Zeit‘ seien, ähnlich wie Marcel Proust in seinem gleichnamigen Roman. Auch Proust fühlte sich ‚von seinem Selbst getrennt‘, als er vom Land nach Paris zurückkehrte und so gezwungen war, sein eigenes Leben niederzuschreiben, um so seine unterbrochene ‚biographische Kontinuität‘ wieder zu erlangen. So fehlt den Kindern der Überlebenden oft das, was man ‚innere Zeit‘ nennt. Diese ist für das Aufrechterhalten eines integrierten ‚gesunden Selbst‘ unabdingbar. So befinden sie sich stetig auf einer schonungslosen Suche nach der inneren Zeitachse. Indem sie auf die Suche nach dem Sinn ihrer Existenz gehen, sind sie unablässig dabei, die zerrissenen Enden des unterbrochenen Zeitfadens aneinander zu knüpfen.“ (17)

Tanja Hetzer fordert die Synthese von Psychologie und Geschichte, und vor dem Hintergrund der wichtigen Entschädigungsfrage gesehen, mit vollstem Recht, denn die Gefühle der im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 geborenen Angehörigen der Zweiten Generation sind geradezu dramatisch geprägt von der politischer Geschichte. Auf der einen Seite der inneren Münze steht das Wort ‚Verbannung‘, auf der anderen Seite das Wort ‚Bann‘ Hier ist nichts zu wählen oder zu werfen. Ich trage diese Prägung in mir.

Die Psyche eines solchen Menschen ist schwer durcheinandergewirbelt, aus dem Lot gebracht, der Verwirrung entronnen, wir sind Schiffbrüchige wie aus Shakespeares Dramen, von Geschichte durchtränkt, so schwer, dass es fast eines Zaubers bedarf, sie zu lösen. Heilung und Entschädigung haben hier eine spezifische, fast existentialistische Bedeutung, denn es treffen hier Fachleute und Geschichtsdurchtränkte aufeinander, als würden Sesshafte und schiffbrüchige Heimatlose aufeinandertreffen. Die Geschichte ist das gesunkene Schiff, die halbnackten, an Land Gespülten sind wir. Die Beweismittel liegen auf dem Meeresboden, im Schlamm versunken. Also bleiben wir als Beweise übrig, die es zu begutachten und zu evaluieren gilt? Aber sind Menschen logisch in sich schlüssige Beweise und Beweisketten? Mittel zu irgendeinem Zweck? Haben wir etwa nicht, wie andere Menschen auch, unseren Zweck in uns? Und sind wir nicht natürlicherweise bestrebt, uns dieser kalten Zweck-Mittel-Relation zu entziehen, getrieben vom erneuten Verlangen, uns zu retten? Ja und ja, und völlig zu Recht, und mit der ihm eigenen Treffsicherheit führt daher Ralf Seidel zu diesem Kernpunkt der entschädigungspolitischen Debatte erhellend aus: „Fast alle Publikationen der letzten Jahre weisen darauf hin, dass Therapeuten den Angehörigen dieser Gruppe mit dem ihnen zur Verfügung stehenden professionellen Instrumentarium nicht wirklich behilflich sein können. Es geht eben weniger um eine Störung im psychiatrisch definierten Sinn, als um eine ‚gelebte existenzielle Erfahrung‘, und daher im Umgang weniger um Behandlung, als um Begleitung.“ (18) Die sechs Entschädigungsforderungen aus der im Frühjahr eingereichten Entschädigungsinitiative basieren exakt auf dieser Grundeinstellung gegenüber Angehörigen unserer Gruppe der Zweiten Generation. In einer Situation einer entschädigungspolitischen Aporie schlägt sich Ralf Seidel auf die Seite des bedrängten Menschen.

Geschrieben am Vorabend des fünfundsiebzigsten Jahrestages des von den Nazideutschen entfesselten Weltenbrandes. Im Mai 1939 retteten sich meine Eltern nach Jahren der faschistischen Verfolgung glücklich auf die britischen Inseln.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Antonín Dick
 

Quellennachweis:

1. Oskar Kokoschka, Briefe III 1934-1953, Düsseldorf 1986, Seite 162-163
2. www.bundespräsident.de
3. Ursula Weidenfeld: Ein Zwischenruf zum Hitlerbart, in: Berliner Tagesspiegel vom 31. 03. 2013
4. Stig Dagerman: Deutscher Herbst, Frankfurt am Main 1987, Seite 26
5. Ebenda, Seite 2.
6. Ebenda, Seite 26–27
7. Michel Hollenbach: Das Erbe der Nazis, Beitrag vom 08. 06. 2014, Deutschlandfunk Köln
8. Ebenda
9. Ebenda
10. Ebenda
11. Ulrich Greiner: Schamverlust – vom Wandel der Gefühlskultur. Hamburg 2014
12. Baruch de Spinoza, Die Ethik , Hamburg 1979, Seite 128
13. Stig Dagerman, ebenda, Seite 46
14. Ilse Grubrich-Simitis: Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein biographischer Essay. Weinheim 1991, Seite 76.
15. Antonín Dick / Alice Schloesser: Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten, in: TREND, Onlinezeitung, 04 / 2014
16. Ebenda
17. Ralf Seidel: Verfolgung, Entfremdung. Aneignung. Über Entschädigungsverfahren und das Fortwirken von Traumen in der Zweiten Generation, in: Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte: Fachtagung zum Thema „Zweite Generation“ am 22. Oktober 2009 in Köln, Seite 37
18. Ebenda, Seite 38

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Brief vom Autor für diese Ausgabe. Antonìn Dick bezieht sich mit seinem Brief auf die Initiative für eine


Quelle: http://www.nsberatung.de/pdf/2013/ueberleben%2016%202013.pdf

die im Frühjahr 2015 durchgeführt werden soll. Weiteres siehe: http://www.nsberatung.de