Die irakischen Bedingungen des
ISIS-Vormarsches

von Attila Steinberger

09-2014

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Am 9. Juni 2014 hat die irakische Armee Mosul, die zweitgrößte Stadt des Landes nach Baghdad, verlassen. Vorausgegangen waren drei Tage Kampf mit Einheiten der salafistischen ISIS und Desertion von großen Truppenteilen. Der regionale Al Qaida-Ableger „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (Dawla al Islamiyya fi‘l Iraq wal Sham), kurz ISIL bzw. ISIS, hat die Eroberung der Stadt propagandistisch genutzt und wies auf seine Kampfkraft und die 15fache Überlegenheit der irakischen Armee hin. Jedoch verbirgt sich dahinter ein Mythos: Weder war es ISIS alleine, noch kämpfte sie gegen einen übermächtigen Gegner. Der wesentliche Grund für die Eroberung der Stadt war die Arbeit der Anhänger Saddam Husseins, anderer sunnitischer Gruppen und der Grad politischer Gewalt und ethnischer Ausgrenzung im Irak, die zu dieser Situation geführt hat und bis heute fortwährt und somit hinter dem Konflikt steht, der als Vormarsch von ISIS betrachtet wird.

1. Wie Mosul wirklich fiel

Seit Ende 2013 herrschen in den irakischen Provinzen Anbar, Ninive, Salah ad Din, Kirkuk und Diyala Kämpfe zwischen ISIS, Ansar al Islam, den „Männern des Naqschbandiya Ordens“ und dem irakischen Widerstand auf der einen Seite und der irakischen Armee und lokalen sunnitischen Milizen, besonders „Söhne des Irak“ auf der anderen. Besonders umkämpft waren die Städte Falludscha, Mosul, Ramadi, Samarra, Baquba und Kirkuk. In Baquba sitzt das Hauptquartier von ISIS, eine Stadt kaum 100km von Baghdad entfernt. Überlandfahrten in diesen Provinzen waren durch Angriffe kaum möglich, so dass die Truppen in Mosul seit Monaten weitgehend aus der Luft versorgt wurden. Wie im gesamten irakischen Staat waren Korruption und Veruntreuung in der Armee grassierend, so dass die Versorgungsgüter nicht oder nur unzureichend ankamen. Ausschlaggebend war jedoch, dass das Oberkommando der stationierten irakischen Armee unter Generalleutnant Mahdi al Gharawi die Stadt verließ und nach Baghdad flüchtete. Ein kleiner Teil der mittleren Offiziersebene desertierte und floh in umliegende Landesteile, aber ein großer Teil schloss sich den Baathisten an. Insgesamt sind vermutlich über 10.000 Soldaten übergelaufen. Die restlichen Truppen der irakischen Armee kamen somit unter Feuer von ISIS, des irakischen Widerstands und eben noch bestehender Truppenteile. In dieser Situation hat sich die irakische Armee aus der Stadt zurückgezogen um nicht völlig aufgerieben zu werden. Dass dieser Rückzug mehr oder weniger geordnet und ohne große Verluste ablief, war der verbliebenen mittleren und unteren Offizieren zu verdanken. Kriegsmaterialien in großen Mengen wurden allerdings zurückgelassen und die Versorgung und Unterstützung militärischer Stützpunkte in der Provinz Ninive war nicht mehr möglich. Daher zogen sich auch dort die Soldaten fluchtartig zurück, zum Teil in die autonome Provinz Kurdistan. Dennoch gerieten mehrere tausend Soldaten in Gefangenschaft. Von diesen Gefangenen sollen nun fast 2.000 erschossen worden sein.

Die Eroberung der Stadt lag also nicht an der Kampfkraft von einigen tausend Salafisten, sondern an der Arbeit der Baathisten und der Inkompetenz der irakischen Armeeführung.

2. Umkämpfte Regionen

Die Provinzen Ninive, Kirkuk und Diyala sowie die autonome Provinz Kurdistan, die aus den vier Provinzen Dohuk, Arbil, Sulaimaniya und Halabja besteht, waren schon seit den 40er Jahren umkämpft. Kurdische Bewegungen forderten regionale Autonomie oder sogar Abspaltung, weil sie unterdrückt wurden, v.a. wurden die Regionen zentral aus Baghdad verwaltet und die einzige offizielle Sprache war das Arabische, wohingegen Regionalsprachen unterdrückt wurden. Andere ethnische Minderheiten wie die Turkmenen wurden auch nicht anerkannt und mussten ebenfalls das Arabische erlernen.1Insbesondere unter der Regierung Saddam Husseins wurde die arabische Nationalisierung vorangetrieben, obwohl auch er anfangs zusagte, dass die Minderheiten ihre regionalen Rechte erhalten sollten. Die irakische Armee zerschlug in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach jeden Versuch sich gegen Baghdad zu wehren bis die Kurden nach dem 2. Golfkrieg eine de facto autonome Region im Norden des Landes etablieren konnten. Unter der neuen irakischen Regierung ab 2005 strebte der Konflikt mit den Kurden und anderen ethnischen Minderheiten einer Lösung zu. Die autonome Region Kurdistan wurde offiziell anerkannt, fraglich blieb jedoch, ob weitere Provinzen (u.a. Ninive, Kirkuk und Diyala) oder zumindest Gebiete hiervon ebenfalls der autonomen Region beitreten sollten.

Diese irakische Konfliktregion verschob sich nach dem Einmarsch der „Koalition der Willigen“ auf die Provinzen Anbar, Ninive, Kirkuk, Salah ad Din und Diyala, die westlich und nördlich von Baghdad liegen. Die Städte Ramadi, Tikrit, Baquba und Falludja wurden zu Zentren des Widerstands. 2005 erhielt der Konflikt eine Bürgerkriegsdimension als durch Wahlen eine neue Regierung legitimiert wurde. Die Parteien, die daran teilnahmen, besonders die Schiiten wurden von den Aufständischen, gleich ob Baathisten oder Salafisten, wahlweise der Parteinahme für den Iran oder für die USA beschuldigt wurden. Die Widerstandsgruppen bestanden anfangs mehrheitlich aus sunnitischen Baathisten und ehemaligen Soldaten der irakischen Armee, was sich aber im Laufe des Konflikts zu islamistischen und salafistischen Organisationen verschob. Lautete eine amerikanische Verschwörungstheorie, dass Saddam Hussein al Qaida unterstützen würde, so machte erst der Einmarsch dies wahr. Im Verlauf des Konflikts zog es mehr und mehr Salafisten aus dem Ausland an um gegen ihren ehemaligen Sponsor USA und dessen Verbündeten zu kämpfen. Jordanische, ägyptische, sudanesische und saudische Kämpfer stellten die Mehrheit. Aber auch kleinere Abteilungen aus Syrien, Libanon dem Maghreb, Pakistan und sogar Tschetschenien waren aktiv.

3. Salafistische Brigaden im Irak

Die erste größere salafistische Gruppierung im Irak war Ansar al Islam, die sich in den Kurdengebieten aus lokalen Gruppen zusammenschloss. Gemeinsames Ziel war die Gründung eines islamischen Staates und Bekämpfung linker Gruppen, die sie immer noch als kommunistische Ketzer bezeichnen. In der Nähe der Stadt Halabja, der Hochburg der „islamischen Bewegung Kurdistans“, deren bewaffneter Arm sich Ansar al Islam anschloss, kam es zu Kämpfen mit Mitgliedern der sozialdemokratischen PUK (Patriotische Union Kurdistans). Unter iranischer Mitwirkung wurde allerdings ein Abkommen vereinbart, in welchem die „islamische Bewegung“ in die kurdische Regionalregierung integriert wurde. Die Kämpfe gegen Ansar al Islam verliefen dagegen siegreich, so dass diese Gruppe in die benachbarten Provinzen Salah ad Din, Diyala und Anbar absetzen musste. Der ehemalige Führer von Ansar al Islam, Mullah Krekar, floh sogar nach Norwegen, wo er augenblicklich eine Haftstrafe wegen Morddrohungen absitzt.

Die bekannteste salafistische Einheit ist der irakische Ableger von al Qaida, Jamaat al Tawhid wal Jihad (Gemeinschaft für Monotheismus und religiösen Krieg), zunächst unter Führung von Abu Musab az Zarqawi, aus der später der „islamische Staat im Irak“ (ISI) und 2011 der „islamische Staat im Irak und der Levante“ (ISIS bzw. ISIL). Zarqawi stammte aus Jordanien und kämpfte für die USA in den 80er Jahren in Afghanistan. Sein geistiger Mentor wurde al Maqdisi (link zu al wala wal bara) und er gründete in Herat ein Ausbildungs- und Rekrutierungslager um die jordanische Regierung zu stürzen. Nach dem Einmarsch der NATO in Afghanistan 2011, wurde sein Lager in einer militärischen Offensive der iranischen und US-Armee erobert und er verließ das Land in Richtung Irak um im Norden des Landes, wo aufgrund der Flugverbotszone kein irakisches Militär aktiv war, Unterschlupf bei lokalen Salafisten zu finden, u.a. bei „Ansar al Islam“. Erste gemeinsame Aktionen führten sie gegen die Kurden in der heutigen Provinz Halabja. Zarqawi schloss sich nach der Niederlage gegen das kurdische Militär 2004 nominell Al Qaida an, behielt aber seine Eigenständigkeit. Dies sollte es ihm ermöglichen durch größere Prominenz eine größere Rolle im Irak zu spielen und religiöse sunnitische Organisationen hinter bzw. unter sich zu scharen. Außerdem sollte seine Isolation im Irak beendet werden und seine Organisation um irakische Kämpfer erweitert werden. Dazu gründete er 2006 eine Dachorganisation namens „Mujahideen Shura Majlis fi al Iraq“, der einige Monate später in den „islamischen Staat im Irak“, kurz ISI, überging. Wie der Gruppenname schon andeutet, forderte Zarqawi einen Alleinvertretungsanspruch ein, da nur einen islamischen Staat existieren kann und alles, was diesem Staat nicht entspricht, eine Sünde ist. Für Zarqawi handelte es sich hierbei um eine so große Sünde, dass er sie sogar als Ketzerei betrachtete, worauf nach ihm die Todesstrafe stünde. Danach kam es zu Konflikten mit anderen Gruppen im Irak, u.a. mit der „islamischen Armee im Irak“, einer sunnitisch-nationalistischen Gruppe ehemaliger Soldaten, der „Hamas im Irak“ – nicht verwandt mit der palästinensischen Organisation – und den „1920er Brigaden“. Obwohl Zarqawi im Juni 2006 getötet wurde, konnte die Führungsebene der „islamischen Armee“ vernichtet werden. Die Reste der „islamischen Armee“ lösten sich in anderen Gruppen auf oder wechselten sogar die Seiten und kämpften als Miliz an Seite der irakischen Regierung gegen die ISI. Dieselbe Taktik wendete ISIS ja dann auch ab 2013 in Syrien gegen die Nusra-Front an. Im Irak kam es ab 2006 zu intensiven Auseinandersetzungen im sunnitischen Teil Baghdads, in Falludja, Baquba und Samarra. In der Anbar Provinz ermordete ISI Abdul Sattar Abu Risha al Rishawi, Scheich des Dulaimi-Stammes und gleichzeitig Anführer der „Anbar Renaissance“ (Sahawat al Anbar) in der Anbar Provinz. Aus der „Anbar Renaissance“ ging die Organisation „Nationaler Rat für die Rettung des Irak“ oder kurz „Söhne des Irak“ hervor. Al Rishawis Gründe für seinen Kampf gegen ISI waren einerseits machtpolitischer Natur, andererseits ideologischer. Zum einen forderte ISI seine Unterwerfung und seinen Verzicht auf seine Macht, zum anderen betrachtete er ISI als Agenten der Saudis und eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, durch ihre Methoden der Geldgewinnung, v.a. Raub, Zuhälterei und Erpressung.Besonders den Aktionen der „Söhne des Irak“ war es zu verdanken, dass sich der ISI ab 2008 in einer ernsthaften Krise befand und erst wieder durch den syrischen Bürgerkrieg ab 2012 Zulauf bekam. Die militärische Taktik von ISI beschränkte sich bis auf auf Angriffe, zunächst auf NATO-Truppen, dann zunehmend auf irakische Ziele wie Militär, Behörden und mit immer größerer Beliebtheit Märkte und Einkaufscenter. In Zarqawis Auslegung von „al wala wal bara“ war selbst die Teilnahme an demokratischen Wahlen wie im Irak ein Zeichen für Ketzerei, so dass jeder Wähler zum Ungläubigen erklärt wurde. Sein zweites Feindbild waren die Schiiten, die als Abweichler (Rafidhi) abfällig bezeichnet wurden und ihnen deswegen ebenfalls Ketzerei unterstellt wurde, worauf die Todesstrafe steht. Zarqawi benannte deshalb seine Gruppe im Jahr 2004 auch um in „Tanzim al Qaida wa‘l Jihad fi Balad al Rafidhayan“ (Al Qaida Organisation und Jihad im Land der Abweichler), wobei westliche Medien die Gruppe abkürzen zu „al Qaida im Irak“ oder „al Qaida im Zweistromland“, aber den rassistischen Zusatz ignorieren.

4. Irakischer Bürgerkrieg

Der Irakkrieg hat zwei Konfliktlinien: (1) der Kampf gegen die Besatzung und (2) der Bürgerkrieg unter enormen regionalen Einflüssen und Auswirkungen. Grundlage für den jetzigen Vormarsch von ISIS ist der Bürgerkrieg. Der Konflikt mit all seinen Akteuren hat einen längeren Vorlauf als man es am Sturz Saddam Husseins 2003 festmachen könnte und auch Ansichten von jahrhundertealten Kriegen sind nicht zutreffend. Der Hauptkonfliktpunkt besteht momentan zwischen einigen sunnitischen und schiitischen Gruppen. Als dritte Gruppe versuchen sich antisektiererische Gruppen zu etablieren, die gegen ethnische und religiöse Trennung vorgehen wie z.B. das Bündnis al Iraqiya von Iyad Allawi. Allerdings zerbrach es 2012 in Einzelparteien und –bündnisse, wobei neue Allianzen wie al Arabiya und Muttahidun entstanden, die regionale, sunnitische Interessen vertreten. 2013 gewannen sie die Wahlen zu den Provinzparlamenten in Anbar und Ninive. Das belegt, dass im Irakdie entsprechende Frustrationen über die Politik der Zentralregierung zur Hinwendung zu Regionalpolitik geführt hat.

Historisch betrachtet begann der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten nach dem Ableben Mohammeds. Man wurde sich nicht einig über die Nachfolge, weswegen sich Mohammeds Schwiegersohn Ali benachteiligt fühlte bzw. wurde. Der Konflikt entwickelte sich zu einem Bürgerkrieg (Fitna), bei dem sich die rechtschaffenen Kalifen gegenseitig umbrachten, der aber von der nachfolgenden Dynastie der Ummayyaden unter den Kalifen Yazid und Moawiya für sich entschied wurde. In späteren Jahrhunderten haben sich dennoch mehrere schiitische Dynastien entwickelt (u.a. die Fatimiden in Ägypten, Rassiden im Jemen und die Safawiden im heutigen Iran und Kaukasus), wobei auch diese Konflikte massiv ideologisiert wurden. Im Mittelalter tat sich insbesondere der hanbalitische Theologie Ibn Taymiyya mit Hetzschriften gegen Schiiten hervor wie dem achtbändigen Minhaj as Sunnah. Konversionen in die eine oder andere Richtung wurden gerade im irakischen und iranischen Raum gewaltsam geführt – im heutigen Jemen, Indien und Pakistan oder im Maghreb dagegen kaum. Diese Konflikte endeten aber vor fast 400 Jahren. Selbst die Kriege zwischen dem Osmanischen und dem Safawidischen Reich ab dem 16. Jahrhundert waren nicht von Konversionen in größerer Dimension begleitet. Schiitische Heiligtümer in Najaf, Kerbela, Baghdad und Samarra im heutigen Irak blieben unter osmanischer Herrschaft unangetastet. Eine Ausnahme hiervon bildeten die Saudis, die sowohl in Mekka und Medina wüteten und dabei die Gräber von Mohammed und Fatima schändeten. Diese abnehmende sektiererische Gewalt zeigte sich im Irak nach dem 1. Weltkriege als das Land unter britische Herrschaft geriet und diese eine hashemitische Marionette als König des Irak installierten. Schiiten und Sunniten kämpften gemeinsam gegen die Kolonialherren.

Erst unter Saddam Hussein – also 400 Jahre später – wurden politische Konflikte wieder massiv ethnifiziert, auf einem niedrigen Niveau bestand es trotzdem fort. Zunächst versuchten Schiiten überkonfessionslose Ideologien wie den irakischen und arabischen Nationalismus, den Baathismus und Kommunismus ein Ende ihrer Diskriminierung zu erreichen, in dem der ganze Irak oder sogar die ganze arabische Welt aufgehen sollte und andere Unterschiede bedeutungslos machen. Dies scheiterte an Saddam Husseins autoritärer Herrschaft, der ja auch die Kurden und Turkmenen zum Opfer fielen, nach dem sie zuerst mit Autonomie ruhig gestellt wurden. Saddam Hussein zerstörte auch alle unabhängigen politischen Gruppierungen, z.B. die kommunistische Partei. Mit dem Mangel gesamtirakischer Alternativen gewannen regionale und religiöse Gruppen an Einfluss. In der Folge wurden die schiitischen Interessenvertretung, besonders die religiösen Gruppen, stärker. Ayatollah Muhammed Baqir as Sadr gründete die „Hizb al Dawa al Islamiyya“ (Islamische Missionspartei) und Ayatollah Mohammed Baqir al Hakim den „Majlis al A’ala al Islami al Iraq“ (Oberster islamischer Rat des Irak). Bereits in den 70er Jahren kam es zwischen Dawa und Saddam Hussein zu Konflikten. Das gipfelte auch in religiösen Einschränkungen für Schiiten. So wurden zeitweise Elemente der schiitischen Passionsspiele (Ashura) in Najaf und Kerbela verboten. Dennoch überwog noch im 1. Golfkrieg von 1980 – 1988 zwischen Iran und Irak der irakischen Nationalismus und Schiiten kämpften für den Irak gegen die Iraner. Im Laufe des Golfkrieges wurde Saddams Rhetorik deutlich anti-iranischer und anti-schiitischer und er verglich sich mit Saladin, da dieser die Fatimiden in Ägypten besiegte, oder mit Yazid oder Moawiya, die die ersten Schiiten bekämpften. Schiiten unterstellte er zusehends Agenten der Iraner zu sein und den Irak an fremde Mächte ausliefern zu wollen. In der Baath Partei wurden regelmäßig Schiiten liquidiert wie auch im Offizierskorps der Armee, obwohl das Gros der Mannschaften von ihnen gestellt wurde.2 Kaum verwunderlich kam es deshalb nach dem 2. Golfkrieg 1991 zum Aufstand im Süden des Landes, der aber niedergeschlagen wurde. Nicht viel besser erging es den kurdischen Bewegungen um Autonomie. In den 70er Jahren versprach Saddam Hussein den Kurden Regionalautonomie, nach dem er aber seine Macht konsolidiert hatte, unterdrückte er sie wieder. Während und vor allem im Anschluss an den 1. Golfkrieg mit dem Iran verstärkte er die Unterdrückung. Auch den Kurden warf Saddam Hussein Verrat vor – auf der anderen Kriegsseite war es übrigens genauso, auch Khomeini warf den iranischen Kurden Verrat vor. Besonders der Giftgasangriff von Halabja wurde zum internationalen Symbol für die Unterdrückung, wobei dieser Angriff z.B. von den USA bis heute dem Iran angelastet wird.

Nach dem Einmarsch der „Koalition der Willigen“ 2003, wurden demokratische Wahlen 2005 anberaumt. Die schiitischen Parteien, die von oben genannten Ayatollahs gegründet und geführt wurden, gingen als Gewinner aus den ersten Wahlen 2005 hervor. Auch 2010 gewannen sie die Wahlen. Entgegen der „Analysen“ westlicher Journalisten haben sie aber die Sunniten nicht ausgeschlossen, sondern bildeten große Koalitionen unter Einschluss der kurdischen Parteien, der Überkonfessionellen und einiger sunnitischer Parteien, u.a. der „Hizb al Islami al Iraq“ (irakische Islampartei), Tawafuq (Vereinigung). Die Baath-Partei wurde 2005 als rassistische Organisation verboten.

Die erste Legislaturperiode war geprägt vom Aufbau staatlicher Strukturen, der Säuberung von tatsächlichen und angeblichen Anhängern der Baath-Partei und besonders dem Krieg. Dieser wandelte sich ab 2005 in einen ausgeprägte ethnischen Konflikt zwischen schiitisch-islamistischen auf der einen und sunnitischen und salafistischen Organisationen auf der anderen Seite. Besonders die Mahdi-Armee der Sadr Bewegung unter Muqtada as Sadr behauptete von sich die „Verteidigung der schiitischen Sache“. Teilweise kämpften sie auch gegen die Besatzungstruppen, aber auch gegen andere schiitische Gruppen um den Alleinvertretungsansprach der Schiiten. Dies scheiterte jedoch kläglich. Ab 2006 wurde seine Partei in die Regierung integriert und so domestiziert. Jedoch betrieb seine Bewegung weiterhin Todesschwadronen, die sich gegen Sunniten richteten. In Baghdad wurden Stadtviertel „ethnisch gesäubert“ und so die Trennung zwischen Sunniten und Schiiten räumlich durchgeführt. Im wahrsten Sinne des Wortes wurde die Trennung durch hohe Betonmauern zementiert. In Basra übernahm die Sadr-Bewegung die Verwaltung als sich 2007 die Briten in einer Nacht-Nebel-Aktion vom Flughafen aus der Stadt machten. Jedoch setzte al Maliki dieser Regierung 2008 ein Ende und ließ durch die irakische Armee die Stadt erobern. Auch weitere von der Sadr-Bewegung besetzte Städte wurden wieder unter die Regierungsgewalt gestellt. Muqtada as Sadr floh schließlich in den Iran.

Baathisten und Salafisten begleiteten ihre Operationen mit der verstärkten Nutzung von Feindbildern gegenüber den USA als auch den Schiiten. Die Schiiten betrachten sie als Verräter, die den Irak an die USA verkauft und mit einer Marionettenrolle zufrieden gegeben haben. Eine andere Verschwörungstheorie geht weiter und behauptet, dass der Iran die USA dazu angestiftet hätte den Irak zu überfallen um eine schiitische Regierung einzusetzen, damit die Araber bzw. der Islam zerstört werden soll. Hintergrund dieser Verschwörungstheorien ist, dass Baathisten und Salafisten behaupten, dass die Iraner/Perser die Eroberung Mitte des 7. Jahrhundert nie verwunden hätten und sich nun mit der Schia gegen die Araber bzw. den Islam verbündet hätten um wieder eine Weltmacht zu werden und den Nahen Osten zu beherrschen. Hieraus leiten sich verschiedene diskriminierende Beschimpfungen für die Schiiten im Irak ab: Verräter, Perser, Safawiden (in Anspielung auf eine iranische Herrscherdynastie, die jahrhundertelang mit dem Osmanischen Reich um den Kaukasus und den heutigen Irak Krieg geführt hatte) und unter Salafisten sehr beliebt "Rafidhiya" (Abweichler). In der Quintessenz geht es darum, dass Baathisten und Salafisten behaupten, dass sie die Sunniten vor Schiiten und Iranern befreien müssen.

Wie sich im Nachhinein gezeigt hat, war diese sektierische Mobilisierung weitaus wirksamer als die Invasion der USA in Afghanistan oder Irak oder der Nahostkonflikt. Selbst der aktuelle Gazakrieg mobilisiert weit weniger Menschen im Nahen Osten als der irakische Bürgerkrieg, der syrische Bürgerkrieg oder der aktuelle Konflikt im Irak bewerkstelligen.

5. Der irakische Frühling

Maliki versuchte bis 2010 eine überkonfessionelle Politik zu betreiben, zumindest gab er sich dem Anschein. Er integrierte sunnitische Parteien in seine Regierung, gegen die Salafisten kooperierte er mit der Sahwa-Bewegung der Stämme. Gleichzeitigt führte er einen Kampf gegen die schiitischen Milizen, u.a. von Muqtada as Sadr und die „Spezialtruppen“, die in westlichen Medien oftmals fälschlich als „Sondereinheiten“ oder „Special Forces“ bezeichnet werden, aber nichts mit Polizei oder Militär zu tun haben. Das führte spürbar zur Beruhigung der Lage im Süden des Irak und der Zentralstaat ging gestärkt aus dem Bürgerkrieg hervor.

Dennoch griff Maliki die sektiererische Politik wieder auf, obwohl sie sogar von konservativen, schiitischen Ayatollahs in Najaf und Kerbela, z.B. von As Sistani, heftig kritisiert und eine Rückkehr zu überkonfessioneller Politik angemahnt wurde. Besonders nach dem Abzug der US-Truppen 2010 richtete Maliki sein Augenmerk auf sunnitische Politiker. Sogar Minister in seiner eigenen Regierung wurden angeklagt, wohingegen schiitische Militärs, denen massive Menschenrechtsverletzungen bei der Bekämpfung des irakischen Widerstandes nachgewiesen waren, wieder ins Amt gebracht wurden. Sunnitische Beamte im Land wurden unter dem Vorwand Ex-Baathisten zu sein aus ihren Positionen entfernt. Die Sahwa-Bewegung wurde entwaffnet und die Regierung der Anbar-Provinz wurde benachteiligt, u.a. bei Infrastrukturprojekten. Auf Staatsebene versuchte sich Maliki sich als guten Schiit darzustellen, der den Staat und die Schiiten beschützen würde. Früher hat er sich noch als Garant für die Einheit des Staates und eine Politik für alle Iraker, gleich welcher Religion oder Ethnie dargestellt.

2011 griff der arabische Frühling auch auf den Irak über und die bestehenden Probleme wurden öffentlich auf den Plätzen kritisiert und Verbesserungen gefordert, z.B. gegen Korruption, die mangelnde Sicherheit und das willkürliche Gebaren der Polizei und des Militärs. Anstatt auf diese Punkte einzugehen – bis dato forderten die Protestler ja nicht den Sturz, sondern nur, dass der Staat seinen Versprechen gerecht wird -, warf Al Maliki den Demonstranten vor, dass sie von Anhängern Saddam Husseins angestiftet wurden. Damit konnte er ihre Forderungen und Kritik aus dem Kreis des Erlaubten verbannen und ihre Punkte als undiskutierbar zurückweisen. Dieses Manöver wurde aber durchschaut von der örtlichen Polizei und Verwaltung, die sich weigerten gegen die Demonstranten vorzugehen oder regionale Medien zu verfolgen. In der Folge musste al Maliki die Armee gegen die Demonstranten einsetzen, besonders in den mehrheitlich sunnitischen Städten Ramadi, Mosul, Falludscha und Tikrit. Nach mehreren Toten weigerten sich aber Truppenteile dieses Vorgehen fortzuführen. So ist es auch nicht allzu verwunderlich, dass nun ausgerechnet diese Truppenteile bereitwillig im Juni 2014 desertierten oder gar überliefen.

Was besonders Malikis Verleumdungen der Proteste Hohn spottete, waren die Proteste von Schiiten in Baghdad, Basra und in der autonomen Kurdenprovinz. Hier versuchte er gar nicht erst die Armee einzusetzen. Stattdessen versprach er in der nächsten Regierung keinen Posten mehr zu besetzen und der korrupte Gouverneur von Basra wurde ausgewechselt. Die Unruhen in den Provinzen Ninive und Anbar seit Ende 2013 und Einmarsch von ISIS kamen ihm sehr gelegen um davon wieder Abstand zu nehmen, damit er das Land „retten“ kann, wie er nun sagt.

Anmerkungen

1Ähnlich verhält es sich ja auch mit anderen Staaten der Region, v.a. der Türkei, dem Iran unter dem Schah, Pakistan oder Israel. Konflikte um die Staatsidee gibt es bis heute und die Frage, ob der Staat Garant für das Wohlergehen der Bürger oder Garant für Türkentum, Aryanmehr, Islam (in Pakistan) oder Judentum ist.

2Deshalb desertierten 2003 beim Einmarsch der USA auch große Teile der Armee.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diee Ausgabe.