Wo sind die Falter in meinem Bauch…
Im Augenblick unserer Auflösung blicken wir zurück auf die
letzten 11 Jahre, in denen wir linksradikale und
antifaschistische Politik in Berlin und in der Bundesrepublik
mitgestaltet haben. Zusammen mit euch haben wir gegen den
G8-Gipfel im Jahr 2007 demonstriert, sowohl auf der teilweise
militanten Großdemonstration am 2. Juni 2007 in Rostock als auch
wenige Tage später in den Feldern von Heiligendamm. Wir sahen
uns jedes Jahr im November im Gedenken an Silvio Meier und alle
anderen Opfer von neonazistischer Gewalt auf der Straße in
Friedrichshain. Zusammen mit euch haben wir in endlosen
Buskolonnen nach Dresden gesessen, die Nacht vorher vor
Aufregung kaum geschlafen, Polizeiketten durchflossen und den
größten Neonazi-Aufmarsch in Europa blockiert und unmöglich
gemacht. Wir waren auf der Straße gegen die Einführung der
Arbeitsmarkt-Reform Hartz IV, haben dort Neonazis von den Demos
geworfen, haben x-mal gegen Gentrifizierung, gegen Zwangsumzüge
und gegen die soziale Misere hier und in Europa protestiert. Mit
Blockupy versuchten wir in Frankfurt mit vielen Anderen, ein
wirkungsvolles Zeichen gegen die EZB zu setzen. Wir haben mit
Zeitzeug*innen gesprochen und sie von ihrem Widerstand gegen den
Nationalsozialismus in Deutschland, Italien, Spanien und
Jugoslawien berichten lassen. Wir haben in Veranstaltungsreihen
zum Neonazi-Netzwerk NSU versucht, das Unglaubliche, nämlich
mordende Neonazi mit Unterstützung des deutschen Staates und
seiner Behörden, in Worte zu fassen. In Berlin und darüber
hinaus schmiedeten wir Bündnisse gegen Neonazi-Großaufmärsche –
so zum 1. Mai 2010 oder zum 8. Mai 2005. Wir sahen uns
staatlicher Repression ausgesetzt, weil wir versuchten, in der
Presse die Zusammenhänge von kapitalistischer Unterdrückung und
dem militanten Widerstand dagegen zu erklären. Wir haben
Angriffe gegen unsere Gruppe und gegen Aktivist*innen der
linksradikalen Szene zusammen mit Anderen entschlossen
abgewehrt. Wir haben mit der LL-Demonstration jedes Jahr im
Januar versucht, eine eigene linke Geschichtsschreibung zu
etablieren und zu reflektieren. Wir scheuten uns nicht vor
großen Bündnissen, beispielsweise gegen Neonazis und soziale
Ausgrenzung, und haben in diesen Bündnissen versucht, radikale
Standpunkte und Aktionsformen zu vertreten und wirksam werden zu
lassen. Wir haben versucht, über die Verbindung von Kultur und
Politik, Menschen außerhalb unserer Bewegung für linksradikale
und antagonistische Politik zu begeistern und zu politisieren.
Wir haben jedes Jahr wieder am 1. Mai in Kreuzberg für die
Rechte der Arbeiter*innen, gegen Krieg, gegen Unterdrückung und
den kapitalistischen Normalzustand demonstriert. Vieles andere
mehr haben wir zusammen mit euch geträumt und organisiert:
Deswegen sind an dieser Stelle auch nur ein paar Schlaglichter
niedergeschrieben.
Das Maß scheint voll und das Glas ist scheinbar leer…
Unsere Gruppe war nie ein homogener Zusammenschluss, wie es
vielleicht für Außenstehende aussah. Was einerseits Stärke
ausmachte, brachte durchaus auch Probleme und Differenzen mit
sich. Wir haben uns nicht im Streit zur Auflösung der [ALB]
entschlossen, doch mittlerweile sind die Ideen, Strategien und
Ziele zu unterschiedlich, die wir hinsichtlich einer
linksradikalen Praxis, Organisierung und Perspektive haben.
Organisierung und Organisation erfordern Verbindlichkeit und
bedürfen Zeit und Aufwand, mitunter brauchen sie auch
inhaltliche Korrekturen und zähe Debatten - um den richtigen und
falschen Begriff vom Kapitalismus, um die Ausrichtung der
Aktionen, um die Politik gegen die Festung Europa und gegen
Neonazis, um die „Farbe der Regenjacke“, um die Notwendigkeit
linksradikaler Aktionsformen und ihre Vermittelbarkeit.
Festhalten können wir, dass wir es bereits seit einiger Zeit
nicht mehr geschafft haben, die unterschiedlichen Antworten auf
diese Fragen in Kraft und Enthusiasmus zu kanalisieren, sondern
leider in Ratlosigkeit, Resignation und Austritten.
Dies ordnet sich unseres Erachtens in einen größeren
Zusammenhang ein: Die radikale Linke in Deutschland und weiten
Teilen Europas scheint sich in einer Krise zu befinden. Ehemals
bewährte Konzepte und Ansätze eignen sich nur noch bedingt für
die politischen Fragen unserer Zeit. Bei manchen Entwicklungen -
vor allem Flüchtlingsproteste, Krieg und Frieden und Überwachung
- befindet sich die radikale Linke in einer Schockstarre, und
braucht manchmal Wochen, um sich überhaupt zu äußern. Und ob
auch dann die passende Antwort und Anschlussfähigkeit gefunden
wird, sei dahingestellt.
Symptomatisch wollen wir in diesem Zusammenhang einige Punkte
kurz erwähnen, die uns als [ALB] in der letzten Zeit bewegt
haben:
Als [ALB] haben wir uns politisch vor allem in den Bereichen
Antifaschismus und soziale Kämpfe verortet.
Unseres Erachtens befindet sich die klassische Antifa-Bewegung
in einer Krise. Auch hier müssen neue Perspektiven entwickelt
werden. Der Rassismus der Mitte, der europaweite Erfolg rechter
und rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen und auch der
Sozialchauvinismus in weiten Teilen der Bevölkerung bedürfen
neuer Ansätze und Antworten durch die antifaschistische
Bewegung. Das alte „Antifa heißt Angriff“ ist in diesem
Zusammenhang eher als Stillstand und Phrasendrescherei zu
werten. Auch hier greifen tradierte Konzepte nur noch bedingt.
Ebenso spielt der Wandel in Teilen der extrem rechten Bewegung
dabei eine Rolle: Die Fokussierung auf den Kameradschafts- und
NPD-Nazi bedarf in Berlin und in anderen Großstädten teilweise
einer Neubewertung. Außer Acht gelassen werden darf diese
Formierung innerhalb der neonazistischen Szene natürlich nicht.
Eine Antifa-Bewegung, die erfolgreich sein will, muss sich in
einen Reflexionsprozess begeben und ihre Aktionen und
Aktionsformen an eine veränderte extreme Rechte anpassen. Der
Kongress „Antifa in der Krise“ im Frühjahr des Jahres 2014
zeigte diese Entwicklung. Leider konnten wir, trotz richtiger
Fragestellung und Problembewusstsein, keine adäquate Antwort im
Sinne einer politisch-organisatorischen Perspektive entwickeln.
Mehr noch als vor einigen Jahren gibt es derzeit die
Möglichkeit, aktuelle selbstorganisierte Geflüchteten-Proteste
zu unterstützen und zusammen mit den Refugees den Kampf gegen
gesellschaftlichen Rassismus und das europäische Grenzregime zu
führen. Hier liegt derzeit ein zentrales gesellschaftliches
Konfliktfeld, wo es die Perspektive geben könnte, als radikale
Linke wieder wirkungsmächtig zu werden. Es bietet sich für die
radikale Linke die Möglichkeit, an entscheidenden Fragen der
Zeit zu intervenieren und größere Zusammenhänge – beispielsweise
zu imperialer Politik, zum Militarismus des Westens, zu
Neokolonalismus, zu Sozialchauvinismus und kapitalistischer
Ausbeutung – zu erklären. Das haben wir – und viele andere –
verpasst. Auch hier bedarf es neuer Ansätze, Aktionsformen und
Diskussionen. Der Enthusiasmus, das Aktionswissen und auch die
Fähigkeit, unsere Positionen in breiten Bündnissen auf weitere
gesellschaftliche Akteure zu übertragen und damit
gesellschaftlich wirksam zu werden, die wir in linksradikalen
und antifaschistischen Bündnissen in den letzten Jahren
etabliert haben, hätten wir hier intensiv nutzen müssen.
Gerade im Bereich der sozialen Kämpfe, dem zweiten für uns
zentralen Arbeitsfeld, gibt es zurzeit gesellschaftliche
Bruchstellen. Hier muss die radikale Linke versuchen zu
intervenieren, eigene Positionen zu beziehen und Perspektiven
aufzuzeigen. Dabei muss über die Szene hinaus mobilisiert und
analysiert werden. Das passiert leider immer noch viel zu wenig.
Auch haben wir es letztlich nicht geschafft, wirkungsvolle
Sozialproteste zusammen mit den Betroffenen der Krise zu
formulieren. Auch Blockupy erschien zuletzt Einigen von uns in
diesem Zusammenhang mitunter mehr als eine richtige
Fragestellung denn als eine wirkungsmächtige Antwort. So konnten
in den letzten Jahren zwar mehrere tausend Menschen mobilisiert,
ein europäisches Netzwerk aus Aktivist*innen errichtet und
verschiedene Aktionen organisiert werden, die sich trotz
Repression nicht von Staat und Polizei die Spielregeln haben
diktieren lassen. Doch bezüglich der eigentlich wichtigen Frage,
wie zukünftig nachhaltige und wirksame soziale Kämpfe auch lokal
und im Alltag organisiert werden können, haben wir keine
gemeinsamen Antworten finden können.
All diese Aspekte und Entwicklungen zeigen uns, dass ein „Weiter
so“ als [ALB] keine gemeinsame Perspektive mehr darstellt. Mehr
denn je bedarf es für die radikale Linke einer Neubewertung der
Verfasstheit ihrer Strukturen, ihrer Wirkungsmacht und einer
linksradikalen Perspektive, die ihren Namen noch verdient.
the show must go on…
Eigene Genoss*innen werden sich weiter in der
Interventionistischen Linken (IL) organisieren. Anderen
Genoss*innen ist derzeit dieser Ansatz nicht radikal und
antagonistisch genug. Einige Genoss*innen aus unserer Struktur
wollen einen neuen Zusammenhang gründen und an typische Aktionen
und „Politikstil“ anknüpfen. Einige Genoss*innen werden sich
bestehenden linksradikalen Strukturen anschließen. Die
allermeisten von uns wollen auch weiterhin politisch aktiv sein!
Wir wünschen allen ehemaligen Mitgliedern der [ALB]
viel Erfolg, Kraft und Mut - sei es in der „postautonomen“
Großorganisation, in der klassischen linksradikalen Gruppe oder
in anderen autonomen, antifaschistischen oder linksradikalen
Zusammenhängen.
Zum Abschluss: Wir möchten am 2.Oktober 2014 mit
Freund*innen und Genoss*innen in Kreuzberg im Clash feiern und
für einen würdigen Abgang sorgen. Das Geld geht an vier
Antifaschist*innen, die 2013 versuchten, einen Naziaufmarsch in
Berlin mittels einer Betonpyramide zu stoppen.
In diesem Sinne:
Ever tried. Ever failed.
No matter. Try again.
Fail again. Fail better.
(Samuel Beckett)
Quelle:
http://www.antifa.de/cms/content/view/2383/1/
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