…..
Während Oberarzt Heim häufiger die Nähe zu seinem
internistischen Kollegen, dem Widerstandskämpfer Georg
Groscurth, suchte, pflegte Prof. Erwin Gohrbandt enge Kontakte
zu Herrmann Göring. Gohrbandt war Generalarzt und Referent für
Luftfahrtmedizin bei der Sanitätsinspektion der Luftwaffe. Schon
frühzeitig war er als Befürworter der Zwangssterilisierung
hervorgetreten. Wie nahe ein Militärarzt und Professor der
Universität in das Umfeld medizinischer Verbrechen geriet,
zeigen folgende Tatsachen:
Der Siegeslauf der
Wehrmacht im Rußlandfeldzug war Ende 1941 im russischen Winter
steckengeblieben. Infolge der mangelnden Ausrüstung erfroren
deutsche Soldaten in ihren Schützengräben. Mit Stalingrad Ende
1942 kam die Katastrophe und Wende des Krieges. Ganze
Lazarettzüge voller Soldaten mit schweren Erfrierungen rollten
von der Ostfront nach Berlin und überfüllten die Krankenhäuser.
Fieberhaft wurde nach neuen Behandlungsmethoden gesucht. In der
III. Chirurgischen Universitätsklinik am Krankenhaus Moabit
wurde viel über Erfrierungen gearbeitet. Im Rahmen dessen weilte
Prof. Gohrbandt am 26. und 27. Oktober 1942 auf einer
wissenschaftlichen Besprechung über ärztliche Fragen bei Seenot
und Winternot in Nürnberg, veranstaltet vom Inspekteur des
Sanitätswesens der Luftwaffe (284). Auf dieser Tagung
referierten Prof. Dr. Ernst Holzlöhner, Physiologe aus Kiel, und
Dr. Sigmund Rascher, Stabsarzt und SS-Untersturmführer, über
»Verhütung und Behandlung der Auskühlung im Wasser«. In diesem
Referat wurden die Ergebnisse der Unterkühlungsversuche
vorgetragen, die Rascher im Auftrag Himmlers und der Luftwaffe
im KZ Dachau an etwa 80 Häftlingen ausgeführt hatte. Bei diesen
Versuchen wurden die Versuchspersonen in voller Fliegeruniform
in Eiswasser gelegt und ihre Körperfunktionen bis zum Eintritt
des Todes genau gemessen. An den Überlebenden wurden
Wiederbelebungsversuche erprobt. Bei den Versuchen Raschers
starben nachweislich 18 Häftlinge. Aus dem Wortlaut des Vortrags
in Nürnberg war eindeutig ersichtlich, daß es sich um
Menschenversuche mit Todesfolge handelte (285,286). Am Rande
derTagung äußerten einige der anwesenden Professoren, die dort
aus den Zentren der deutschen Wissenschaft versammelt waren,
ihre Empörung und Bedenken über diese Versuche. Öffentlicher
Protest erhob sich jedoch nicht (286). Im Zentralblatt für
Chirurgie Nr. 44 vom 30. Oktober 1943 referierte Gohrbandt in
einer Arbeit mit dem Titel »Auskühlung« die Versuche Holzlöhners
und Raschers. Z. T. wörtlich gab er deren in Nürnberg gemachte
Ausführungen wieder:
»Unsere Kenntnisse
über das Krankheitsgeschehen auch beim Menschen verdanken wir in
erster Linie den grundlegenden Arbeiten von Holzlöhner,
Rascher... Bei langsamer Auskühlung geht der Kontraktion der
Gefäße das schon erwähnte Stadium der reaktiven Hyperämie
voraus, während es bei schnell einsetzender Auskühlung kaum in
Erscheinung tritt und von vornherein eine blasse, bläulichgrau
marmorierte, kalte und unempfindliche Haut auffällt. So kann bei
langsamer Auskühlung anfangs eine Beschleunigung des Pulses
erfolgen, während bei schneller Auskühlung eine wesentliche
Verlangsamung auftritt. Bei Absinken der Kerntemperatur auf
29-30° setzt stets eine Arrhythmia perpetua (dauernde
Herzrhythmusstörung, d.V.) ein. Besonders auffallend ist der
rein reflektorische und nicht durch Kältekontraktion bedingte
Rigor der Skelettmuskulatur (Muskelstarre, d. V.)... Im Blutbild
finden wir eine Vermehrung des Hämoglobins. Schon bei 35° tritt
eine starke Steigerung der Viskosität ein, die eine
Mehrbelastung des Herzens bedingt. Gleichzeitig mit dem Absinken
der Kerntemperatur, die nach Raschers Untersuchungen der
Rektaltemperatur gleichzuwerten ist, tritt eine Mattigkeit,
Müdigkeit und Interesselosigkeit, eine absolute Bewegungs- und
Gedankenunlust ein. Schicksalsergeben döst der Ausgekühlte vor
sich hin, völlig abgestumpft gegen seine Umgebung sowie
irgendwelche Ereignisse oder Gefahren. Bei immer stärker
werdender Apathie verfällt der Ausgekühlte ungefähr bei 30°der
Kältenarkose. Sinkt die Kerntemperatur noch weiter ab, werden
Puls und Atmung immer langsamer, bis bei ungefähr 25° (vielfach
aber schon früher oder selten später) der Tod infolge völliger
Unerregbarkeit lebenswichtiger Zentren eintritt.«(287)
Dieser Bericht
offenbart, daß es sich um Menschenversuche handelte. Solche
detaillierten klinischen Berichte konnten unmöglich auf Grund
vereinzelter Rettungsfälle aus Seenot verfaßt sein(286).
Gohrbandt war nicht direkt an diesen Versuchen beteiligt, er hat
sie aber offensichtlich gebilligt und als fachliche Autorität
derdeutschen Ärzteschaft als seriöse Wissenschaft in aller
Öffentlichkeit präsentiert. In Nürnberg selbst fungierten die
Versuche Holzlöhners und Raschers als »geheime Kommandosache«.
Zusammen mit Gohrbandt
nahm auch ein anderer Moabiter Kollege an jener Nürnberger
Tagung teil:
Herrmann Becker-Freyseng, Assistenzarzt der I.
Inneren Abteilung sowie Stabsarzt und Referent für
Luftfahrtmedizin bei der Sanitätsinspektion der Luftwaffe.
Becker-Freyseng arbeitete schon seit geraumer Zeit im
Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstitut des
Reichsluftfahrtministeriums in Berlin an Höhenversuchen(288).
Angeregt durch die Vorträge Raschers und Holzlöhners in Nürnberg
schlug Becker-Freyseng im Sommer 1944 seinen Vorgesetzten vor,
für Versuche zur Trinkbarma-chung von Meerwasser Häftlinge des
KZ Dachau zu verwenden, da in Berlin durch den Krieg und die
Luftangriffe keine geeigneten Versuchspersonen mehr aufzutreiben
und in Dachau geeignete Laborräume vorhanden seien. Das geschah
dann auch. Unter Becker-Freysengs Kommando wurden 44 Zigeuner
aus dem KZ Buchenwald ausgewählt und nach Dachau überstellt.
Dort wurden sie in verschiedene Gruppen aufgeteilt, die über
mehrere Tage dursten mußten und reines Meerwasser oder mit
chemischen Zusätzen versehenes Meerwasser zu trinken bekamen. Es
sollte damit ausgetestet werden, wie lange ein in Seenot
geratener Flugzeugpilot z. B. ohne Süßwasser auskommen konnte
und ob die erwähnten chemischen Zusätze das Meerwasser besser
verträglich machten. Die Versuchspersonen kamen dabei nicht zu
Tode, erlitten bei den Versuchen jedoch beträchtliche Qualen und
von freiwilliger Teilnahme konnte nach Erkenntnissen des
Amerikanischen Militärgerichtshofs in Nürnberg keine Rede sein.
Dr. Becker-Freyseng wurde in Nürnberg am 20. August 1947 wegen
Kriegsverbrechens und Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu 20
Jahren Haft verurteilt (289). Nach Erinnerungen ehemaliger
Mitarbeiter war Becker-Freyseng ein harmloser netter Kollege,
und die meisten waren völlig verdutzt und schockiert, als sie
nach dem Krieg von seiner Beteiligung an den Menschenversuchen
erfuhren. Becker-Freyseng hatte auch zum entfernteren
Freundeskreis der Nazigegner am Krankenhaus gehört. Man suchte
eine Erklärung darin, daß Ehrgeiz und Karrieresucht ihn zu
diesen Handlungen getrieben haben mußten. Ilse Kunze, MTA und
späterÄrztin am Krankenhaus Moabit, erlebte, mit welcher
Selbstverständlichkeit die Verwendung von Häftlingen für
medizinische Experimente damals gehandhabt wurde:
»Ich machte meine
Doktorarbeit über Durstversuche. Ich hatte freiwillige
Versuchspersonen ausgesucht, ich selbst habe auch mitgemacht.
Ich entsinne mich, eines Tages saß ich mit meinem Doktorvater im
Labor, da kam ein Luftwaffenarzt dazu, der in Nordafrika gewesen
war. Der sagte: »Sind Sie verrückt, selber zu hungern und zu
dursten, dafür gibt es doch die Kzs..« (290)
Fußnoten
284) Mitteilungen aus
dem Gebiet der Luftfahrtmedizin, hrsg. vom Inspekteur des
Sanitätswesens der Luftwaffe, Tagungsbericht 7/43, Inst. f.
Zeitgeschichte München
285) Mitteilungen aus
dem Gebiet der Luftfahrtmedizin, a. a. O., S. 43
286) Mitscherlich, A.,
Medizin ohne Menschlichkeit, Frankfurt 1978, S. 57 f.
287) Gohrbandt, E.,
Auskühlung, Zbl. Chir. 70 (1943) S. 1553
288)Brauer, L, Rein,
K, Strughold, H, Luftfahrtmedizin, Berlin 1943, S.160,180
289) Mitscherlich,
a.a.O., S.72f.
290) Interview Ilse
Bürgel, geb. Kunze, Berlin 12. 7.1983
Editorische
Hinweise
Der Text wurde entnommen:
Christian Pross und Rolf Winau (Hg.), Nicht mißhandeln, Das
Krankenhaus Moabit, Westberlin 1984, S. 224-226
|