75 Jahre Zweiter Weltkrieg
Forschung im Auftrag der Luftwaffe
Aus der Geschichte des Krankenhauses Berlin-Moabit

von Christian Pross und Rolf Winau (Hg.)

09-2014

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.. Während Oberarzt Heim häufiger die Nähe zu seinem internistischen Kollegen, dem Widerstandskämpfer Georg Groscurth, suchte, pflegte Prof. Erwin Gohrbandt enge Kontakte zu Herrmann Göring. Gohrbandt war Generalarzt und Referent für Luftfahrtmedizin bei der Sanitätsinspektion der Luftwaffe. Schon frühzeitig war er als Befürworter der Zwangssterilisierung hervorgetreten. Wie nahe ein Militärarzt und Professor der Universität in das Umfeld medizinischer Verbrechen geriet, zeigen folgende Tatsachen:

Der Siegeslauf der Wehrmacht im Rußlandfeldzug war Ende 1941 im russischen Winter steckengeblieben. Infolge der mangelnden Ausrüstung erfroren deutsche Soldaten in ihren Schützengräben. Mit Stalingrad Ende 1942 kam die Katastrophe und Wende des Krieges. Ganze Lazarettzüge voller Soldaten mit schweren Erfrierungen rollten von der Ostfront nach Berlin und überfüllten die Krankenhäuser. Fieberhaft wurde nach neuen Behandlungsmethoden gesucht. In der III. Chirurgischen Universitätsklinik am Krankenhaus Moabit wurde viel über Erfrierungen gearbeitet. Im Rahmen dessen weilte Prof. Gohrbandt am 26. und 27. Oktober 1942 auf einer wissenschaftlichen Besprechung über ärztliche Fragen bei Seenot und Winternot in Nürnberg, veranstaltet vom Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe (284). Auf dieser Tagung referierten Prof. Dr. Ernst Holzlöhner, Physiologe aus Kiel, und Dr. Sigmund Rascher, Stabsarzt und SS-Untersturmführer, über »Verhütung und Behandlung der Auskühlung im Wasser«. In diesem Referat wurden die Ergebnisse der Unterkühlungsversuche vorgetragen, die Rascher im Auftrag Himmlers und der Luftwaffe im KZ Dachau an etwa 80 Häftlingen ausgeführt hatte. Bei diesen Versuchen wurden die Versuchspersonen in voller Fliegeruniform in Eiswasser gelegt und ihre Körperfunktionen bis zum Eintritt des Todes genau gemessen. An den Überlebenden wurden Wiederbelebungsversuche erprobt. Bei den Versuchen Raschers starben nachweislich 18 Häftlinge. Aus dem Wortlaut des Vortrags in Nürnberg war eindeutig ersichtlich, daß es sich um Menschenversuche mit Todesfolge handelte (285,286). Am Rande derTagung äußerten einige der anwesenden Professoren, die dort aus den Zentren der deutschen Wissenschaft versammelt waren, ihre Empörung und Bedenken über diese Versuche. Öffentlicher Protest erhob sich jedoch nicht (286). Im Zentralblatt für Chirurgie Nr. 44 vom 30. Oktober 1943 referierte Gohrbandt in einer Arbeit mit dem Titel »Auskühlung« die Versuche Holzlöhners und Raschers. Z. T. wörtlich gab er deren in Nürnberg gemachte Ausführungen wieder:

»Unsere Kenntnisse über das Krankheitsgeschehen auch beim Menschen verdanken wir in erster Linie den grundlegenden Arbeiten von Holzlöhner, Rascher... Bei langsamer Auskühlung geht der Kontraktion der Gefäße das schon erwähnte Stadium der reaktiven Hyperämie voraus, während es bei schnell einsetzender Auskühlung kaum in Erscheinung tritt und von vornherein eine blasse, bläulichgrau marmorierte, kalte und unempfindliche Haut auffällt. So kann bei langsamer Auskühlung anfangs eine Beschleunigung des Pulses erfolgen, während bei schneller Auskühlung eine wesentliche Verlangsamung auftritt. Bei Absinken der Kerntemperatur auf 29-30° setzt stets eine Arrhythmia perpetua (dauernde Herzrhythmusstörung, d.V.) ein. Besonders auffallend ist der rein reflektorische und nicht durch Kältekontraktion bedingte Rigor der Skelettmuskulatur (Muskelstarre, d. V.)... Im Blutbild finden wir eine Vermehrung des Hämoglobins. Schon bei 35° tritt eine starke Steigerung der Viskosität ein, die eine Mehrbelastung des Herzens bedingt. Gleichzeitig mit dem Absinken der Kerntemperatur, die nach Raschers Untersuchungen der Rektaltemperatur gleichzuwerten ist, tritt eine Mattigkeit, Müdigkeit und Interesselosigkeit, eine absolute Bewegungs- und Gedankenunlust ein. Schicksalsergeben döst der Ausgekühlte vor sich hin, völlig abgestumpft gegen seine Umgebung sowie irgendwelche Ereignisse oder Gefahren. Bei immer stärker werdender Apathie verfällt der Ausgekühlte ungefähr bei 30°der Kältenarkose. Sinkt die Kerntemperatur noch weiter ab, werden Puls und Atmung immer langsamer, bis bei ungefähr 25° (vielfach aber schon früher oder selten später) der Tod infolge völliger Unerregbarkeit lebenswichtiger Zentren eintritt.«(287)

Dieser Bericht offenbart, daß es sich um Menschenversuche handelte. Solche detaillierten klinischen Berichte konnten unmöglich auf Grund vereinzelter Rettungsfälle aus Seenot verfaßt sein(286). Gohrbandt war nicht direkt an diesen Versuchen beteiligt, er hat sie aber offensichtlich gebilligt und als fachliche Autorität derdeutschen Ärzteschaft als seriöse Wissenschaft in aller Öffentlichkeit präsentiert. In Nürnberg selbst fungierten die Versuche Holzlöhners und Raschers als »geheime Kommandosache«.

Zusammen mit Gohrbandt nahm auch ein anderer Moabiter Kollege an jener Nürnberger Tagung teil:

Herrmann Becker-Freyseng, Assistenzarzt der I. Inneren Abteilung sowie Stabsarzt und Referent für Luftfahrtmedizin bei der Sanitätsinspektion der Luftwaffe. Becker-Freyseng arbeitete schon seit geraumer Zeit im Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstitut des Reichsluftfahrtministeriums in Berlin an Höhenversuchen(288). Angeregt durch die Vorträge Raschers und Holzlöhners in Nürnberg schlug Becker-Freyseng im Sommer 1944 seinen Vorgesetzten vor, für Versuche zur Trinkbarma-chung von Meerwasser Häftlinge des KZ Dachau zu verwenden, da in Berlin durch den Krieg und die Luftangriffe keine geeigneten Versuchspersonen mehr aufzutreiben und in Dachau geeignete Laborräume vorhanden seien. Das geschah dann auch. Unter Becker-Freysengs Kommando wurden 44 Zigeuner aus dem KZ Buchenwald ausgewählt und nach Dachau überstellt. Dort wurden sie in verschiedene Gruppen aufgeteilt, die über mehrere Tage dursten mußten und reines Meerwasser oder mit chemischen Zusätzen versehenes Meerwasser zu trinken bekamen. Es sollte damit ausgetestet werden, wie lange ein in Seenot geratener Flugzeugpilot z. B. ohne Süßwasser auskommen konnte und ob die erwähnten chemischen Zusätze das Meerwasser besser verträglich machten. Die Versuchspersonen kamen dabei nicht zu Tode, erlitten bei den Versuchen jedoch beträchtliche Qualen und von freiwilliger Teilnahme konnte nach Erkenntnissen des Amerikanischen Militärgerichtshofs in Nürnberg keine Rede sein. Dr. Becker-Freyseng wurde in Nürnberg am 20. August 1947 wegen Kriegsverbrechens und Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt (289). Nach Erinnerungen ehemaliger Mitarbeiter war Becker-Freyseng ein harmloser netter Kollege, und die meisten waren völlig verdutzt und schockiert, als sie nach dem Krieg von seiner Beteiligung an den Menschenversuchen erfuhren. Becker-Freyseng hatte auch zum entfernteren Freundeskreis der Nazigegner am Krankenhaus gehört. Man suchte eine Erklärung darin, daß Ehrgeiz und Karrieresucht ihn zu diesen Handlungen getrieben haben mußten. Ilse Kunze, MTA und späterÄrztin am Krankenhaus Moabit, erlebte, mit welcher Selbstverständlichkeit die Verwendung von Häftlingen für medizinische Experimente damals gehandhabt wurde:

»Ich machte meine Doktorarbeit über Durstversuche. Ich hatte freiwillige Versuchspersonen ausgesucht, ich selbst habe auch mitgemacht. Ich entsinne mich, eines Tages saß ich mit meinem Doktorvater im Labor, da kam ein Luftwaffenarzt dazu, der in Nordafrika gewesen war. Der sagte: »Sind Sie verrückt, selber zu hungern und zu dursten, dafür gibt es doch die Kzs..« (290)

Fußnoten

284) Mitteilungen aus dem Gebiet der Luftfahrtmedizin, hrsg. vom Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe, Tagungsbericht 7/43, Inst. f. Zeitgeschichte München

285) Mitteilungen aus dem Gebiet der Luftfahrtmedizin, a. a. O., S. 43

286) Mitscherlich, A., Medizin ohne Menschlichkeit, Frankfurt 1978, S. 57 f.

287) Gohrbandt, E., Auskühlung, Zbl. Chir. 70 (1943) S. 1553

288)Brauer, L, Rein, K, Strughold, H, Luftfahrtmedizin, Berlin 1943, S.160,180

289) Mitscherlich, a.a.O., S.72f.

290) Interview Ilse Bürgel, geb. Kunze, Berlin 12. 7.1983

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen: Christian Pross und Rolf Winau (Hg.), Nicht mißhandeln, Das Krankenhaus Moabit, Westberlin 1984, S. 224-226