75 Jahre Zweiter Weltkrieg
Der letzte Tag des KZ Buchenwald


von Rudi Jahn / KPD

09-2014

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Der letzte Tag des Konzentrationslagers Buchenwald unter Nazi­herrschaft kam. Der Tag, auf den manche Häftlinge seit zehn oder mehr Jahren gewartet hatten — und nun kam er doch so plötzlich. Zeitig waren die Häftlinge aus den ärmlichen Bettstellen, und die Ruhe nach all diesen aufregenden Tagen tat beinahe weh. Der Laut­sprecher schwieg. Fast immer hatte man in den letzten Tagen bei Durchsagen mit Besorgnis auf ihn gehört. Erst um 9.30 Uhr rief der Rapportführer Hofschulte den Friseur ans Tor. Wieder trat Ruhe ein. Die Erwartungstieg. Hunderte von Häftlingen belagerten vormittags den Waldesausgang am unteren Teil des Lagers und suchten das Gelände mit Hilfe von Ferngläsern ab, die aus den optischen Werkstätten des Lagers entwendet waren. Schon war MG.-Feuer zu hören. Es kam immer näher. Einige wollten vom dritten Stockwerk der Effektenkammer aus in nordöstlicher Richtung bereits Panzer gesehen haben. Das Artilleriefeuer wurde immer deutlicher. Dumpfe Detonationen erfolgten in einer Ent­fernung von etwa 5 km. Es gab keinen Zweifel mehr, die Panzer­spitzen der 3. amerikanischen Armee schoben sich näher heran. Um 10.15 Uhr heulte die Sirene. Eine Viertelstunde später befahl der Lagerkommandant einen reichsdeutschen antifaschistischen Häftling und den Lagerältesten zu sich. Er erklärte ihnen: „Es ist mir bekannt, daß verschiedene Auslandssender zugeben mußten, daß seit dem Kommandowechsel im KZ Buchenwald die Führung des Lagers besser geworden sei. Ich übergebe Ihnen hiermit das Lager. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß sie diese Tatsache nicht eher bekanntgeben, als bis die Amerikaner da sind, um eine Panik zu verhüten. Von mir aus passiert Ihnen nichts ..."

Wer mochte diese Erklärung glauben? Die Posten standen noch auf ihren Türmen. Betrug bis zur letzten Minute. Man hörte, Pister habe den Kommandanten des in der Nähe liegenden Flugplatzes Nohra angerufen und diesen aufgefordert, einem Befehl Himmlers gemäß, das Lager zu liquidieren. Als keine Bomber zur Verfügung standen, — diese wurden sichtlich ebenso notwendig an der nahen Front gebraucht — machte er den Vorschlag, Tiefflieger zu schicken und das Lager mit Gasbomben angreifen zu lassen. Das Gerücht kann nicht auf seine Wahrheit untersucht werden; richtig ist aller­dings, daß zu dieser Zeit bei der Truppe Gasmasken ausgegeben wurden.

Man kann nicht wissen, was von den Faschisten noch im ein­zelnen geplant war. Die Erlebnisse der Evakuierten waren zum Teil so schrecklich, daß man annehmen muß, daß auch in dieser Stunde die Faschisten ihre Einschätzung des menschlichen Lebens nicht geändert haben und daß es doch das beste ist, sich auf die eigenen Waffen zu stützen. Die amerikanischen Panzerspitzen und die Jabos über dem Lager, die vorhandenen Waffen zum Gebrauch bereit, so wäre jede aggressive Handlung der Faschisten scharf zurückgewiesen worden. Gleichzeitig mit dem Erscheinen neuer Jagdbomber um 11.45 Uhr ertönte die bisher nur probeweise be­nutzte Feindalarmsirene. SS-Leute rannten herum und suchten von ihrem Raubgut zu retten, was sie nur konnten. Der Kom­mandant Pister war schon vorher mit seinem Mörderstab abge­fahren und um 12.10 Uhr hörten die Häftlinge zum letztenmal die verhaßte Stimme des Rapportführers Hofschulte: „Sämtliche SS-Leute aus dem Lager!" In Hochspannung verrannen die letzten Minuten. Langsam kreisten in geringer Höhe Aufklärer. MG-Salven knatterten unaufhörlich.

Dazwischen hörte man die Abschüsse aus Panzerkanonen. Der Kampflärm wurde immer deutlicher. Auf Dächern und auf jedem erhöhten Platz standen Häftlinge und sahen ins Tal hinab. Scheren­fernrohre tauchten auf und man suchte festzustellen, ob die Kampfhandlungen in Hottelstedt, einem etwa 1 km vom Lager entfernten Dorf, klar ausgemacht werden konnten. Die Mühle brannte. Das war die Ostseite. Also schössen die Deutschen dort­hin und demzufolge mußten die Amerikaner im Dorf sein.

Um 14 Uhr marschierte eine Kompagnie SS-Reserve in Richtung Front, bog dann aber ab, um sich in Richtung Osten „abzusetzen". Panzerfäuste waren auf den Türmen verteilt. Um das Lager herum wurde immer noch gewühlt, um Löcher für die Panzerspitzen zu schaffen. Da krachte es im Wald. Hinter dem Wald gingen große, schwarze Rauchpilze hoch. MG-Schüsse gellen auf, Tiefflieger schießen zur Erde. Das müssen flüchtende Panzer sein!

Wie vom Fieber geschüttelt liegen die bewaffneten Stoßtrupps des Lagers hinter Hügeln, zum Sturm auf den Zaun bereit. Noch immer kein Befehl zum Eingreifen. Im oberen Kommandantur­bereich ist es noch ruhiger. Jemand ruft die Posten von den Tür­men. Zwei SS-Russen drücken sich aus der Feuerlinie. Ein rus­sischer Häftling ruft ihnen zu, die Waffen wegzuwerfen. Sie tun es. Der Sturm bricht los. An fünf, sechs Stellen wird der Zaun zerrissen. Schüsse fallen in nächster Nähe. Über den Appellplatz rast eine Gruppe von Bewaffneten. Lagerältester Eiden an ihrer Spitze. Es passieren auch schon die ersten Panzer die Straße nach Hottelstedt-SS-Revier. Sie dringen in den Kommandanturbereich ein und durchfahren ihn, ohne sich aufzuhalten, in Richtung Wei­mar. Am Tor wurde die schwerbewaffnete Wache überwältigt. Ka­meraden vom Lagerschutz erstürmten den Turm, montierten das schwere MG. ab. Die ersten Handgranaten und Panzerfäuste wurden erbeutet. Auch ander hinteren Seite des Lagers wurden die Zäune durchbrochen und die Wachtürme gestürmt.

Um 15.15 Uhr flattert die weiße Fahne auf dem Turm 1. Das Lager rast. Alles will Waffen und drängt nach außen. Die Kaser­nen werden gestürmt. Überall werden Waffen erbeutet, ins Lager gebracht und neue Gruppen mit ihnen ausgerüstet. Die ersten Ge­fangenen werden eingebracht. Der Lagerälteste schickt seinen ersten Aufruf durch das Mikrophon: „Kameraden! Die Faschisten sind geflohen. Ein internationales Lagerkomitee hat die Macht übernommen. Wir fordern euch auf, Ruhe und Ordnung zu be­wahren. Das Lager wird gesichert. Bleibt, soweit ihr nicht einge­teilt seid, in den Blocks!" Das Lager jubelte und blieb nicht in den Blocks. Jeder wollte eine Waffe und wollte dabei sein. Ein seit 1933 in Haft befindlicher Kommunist begrüßte die ersten, den Durchbruchspanzern folgenden Spähwagen und gab ihnen Auskunft. Ununterbrochen rollten die Panzer über die Straße. Laufend wurden SS-Leute, Soldaten und in Uniform gesteckte Hitlerjungen eingebracht. Das Schlachtfeld war mit abgerissenen Achselstücken und den sonst so beliebten Sternen bedeckt. Zwei tote SS-Leute lagen an der Straße ... Einer der gefährlichsten SS-Männer, die Buchenwald kennengelernt hat, — SS-Unter­scharführer Heinrich — suchte in gestreifter Häftlingskleidung das Weite. Er wurde erkannt und eine Salve aus der Mpi setzte seiner schwarzen Seele ein Ende.

Das internationale Komitee hatte sofort nach Auftauchen der ersten Panzer seine Arbeit aufgenommen, und als gegen Abend die ersten amerikanischen Offiziere den Kommandanturbereich betraten, war bereits durch die militärische Leitung eine Sicher­heitskette um das ganze Lager gezogen ... Die amerikanischen Offiziere sprachen sich anerkennend über das tatkräftige Handeln der Häftlinge aus und sagten, nachdem sie über die Lage informiert waren, alle mögliche Hilfe zu.

Die Schlacht um das Konzentrationslager Buchenwald war ge­schlagen und gewonnen. Zwei Kameraden mußten am Tag der Befreiung sterben. Im ersten Getümmel des Sturmes traf sie die Kugel.

21 000 Häftlinge des KZ. Buchenwald sind frei! Hunderte von Häftlingen, seit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Gefangenschaft, unter dem schrecklichsten Terror, den die Ge­schichte bisher kennengelernt hat, Tausende, die mehr als fünf Jahre in dieser Hölle Buchenwald geschmachtet haben, sind frei!

Frei! Sie dürfen nicht mehr geschlagen werden! Man darf sie nicht mehr treten und auspeitschen, man darf sie nicht mehr er­schießen. 21 000 Häftlinge sind wieder Menschen geworden! Sie dürfen wieder an die Heimat denken, an ihre Rückkehr in die Heimat glauben, glauben auch an das Wiedersehen mit Menschen, die ihnen in all den Jahren genommen waren. Und wenn der Vater nicht mehr das Kind findet und einem erwachsenen Menschen die Hand drückt, wenn der Mann, der die junge Frau verlassen hat, nun eine von Gram verhärmte Frau wiederfindet, es war nicht umsonst. Die Knechtschaft ist zu Ende. Die faschistische Bestie liegt im Verrecken.

Editorische Hinweise

Entnommen aus: Rudi Jahn / KPD (Hrg.) Das war Buchenwald! Ein Tatsachenbericht. Leipzig, Verlag für Wissenschaft und Literatur, [1945]., S. 113-116.