Vor hundert Jahren
Die 1. Internationale Sozialistische Konferenz zu Zimmerwald vom 5.-8. September 1915

Ein Bericht aus den Spartacusbriefen und das Manifest im Wortlaut

09/2015

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Als zu Beginn des Weltkrieges die internationalen Bande des kämpfen­den Proletariats jäh zerrissen wurden, da klammerte sich die Hoffnung an ein erneutes internationales sozialistisches Zusammenwirken, an die wissenschaftliche Einsicht, daß der wirtschaftliche und soziale Boden, aus dem heraus die sozialistische Bewegung erwachsen, in dem Chaos des Weltkrieges keineswegs vernichtet, sondern erst noch vorbereitet werde. Die Entwicklung hat dem auf wissenschaftlicher Einsicht gegründeten Glauben recht gegeben. Es zeigten sich bald wieder in den einzelnen Län­dern Spuren eines Wiederauflebens des Sozialismus, die im Laufe der Zeit festere und klarere Formen annahmen. Zugleich zeigte sich das Stre­ben, die international zersprengten Truppen des Sozialismus wieder zu­sammenzuführen. Eine proletarische Internationale wurde angestrebt, die aus den „Fehlern, den Halbheiten, den Unzulänglichkeiten" der vor dem Heranbrausen des stürmenden Weltkriegs erlegenen Internationale lernen sollte. Diese Bestrebungen waren von Erfolg gekrönt. Nach mühe­vollen Vorbereitungen, die besonders von der italienischen Partei und schweizerischen Genossen ausgeführt wurden, kam es am 5. September zu einer internationalen Konferenz in Zimmerwald in der Schweiz. Es waren Sozialisten geladen, die den Beschlüssen der Internationale treu geblieben waren, und die auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes standen.

Die Verhandlungen währten vom 5./8. September. Die Vertretungen der einzelnen Länder waren teils offiziell, teils inoffiziell, je nach der Haltung der betreffenden Gesamtpartei zum Kriege. Die deutsche Delegation war von verschiedenen Gruppen der Opposition entsandt. Es waren zehn Delegierte aus den verschiedensten Teilen Deutschlands anwesend. )ie offizielle Partei war auf Grund ihrer derzeitigen Haltung nicht eingeladen.

Auch die offizielle Partei in Frankreich war aus denselben Gründen icht eingeladen. Doch waren mehrere Gewerkschaften offiziell vertreten. Italien hatte eine offizielle Vertretung der Partei und der sozialistischen Cammergruppe.

Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands hatte eine offizielle Vertre­tung zugesagt; Genosse Jowett und Bruce Glasier, Mitglieder des Inter­nationalen Sozialistischen Büros, wurden zur Delegation bestimmt. In letzter Stunde wurden ihnen jedoch von der englischen Regierung die Pässe verweigert, so daß die ILP keine Vertretung mehr schicken konnte.

Die russische Delegation war von dem Zentralkomitee, ferner dem Or­ganisationskomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und dem Zentralkomitee der Sozialistisch-revolutionären Partei entsandt. Außer­dem hatten der jüdische „Bund" sowie die Sozialdemokratie Lettlands eine Vertretung.

Die polnische Delegation bestand aus den drei auf dem Boden des Klas­senkampfes stehenden Organisationen.

Rumänien hatte eine offizielle Vertretung der Partei.

Von Bulgarien war die Delegation von der Sozialdemokratischen Ar­beiterpartei (Engherzigen) und ihrer Kammerfraktion entsandt.

Aus Schweden und Norwegen hatte die Sozialdemokratische Jugendorganisation zwei Delegierte geschickt.

Die Schweiz hatte keine offizielle Delegation, doch hatte der Parteivor­stand den einzelnen Genossen die Beteiligung an der Konferenz freigestellt.

Die Verhandlungen der Konferenz wurden mit Berichten der einzelnen Länder eingeleitet. Es wurden die näheren Umstände geschildert, die bei Ausbruch des Krieges die Haltung der einzelnen sozialdemokratischen Parteien bestimmten; dann die ganze Entwicklung, die sich während des Krieges innerhalb der einzelnen Parteien vollzogen hat, die Auseinander­setzungen innerhalb der Parteien.

Über Deutschland erstatteten zwei Genossen Bericht, die auf den Ton gestimmt waren: Wenn in Deutschland die Opposition die Möglichkeit haben wird, offen aufzutreten, dann wird sie die Mehrheit der Partei hinter sich haben. Der eine der beiden Genossen kritisierte, durch einige Zwischenrufe dazu veranlaßt, die Haltung Liebknechts im Reichstag, ins­besondere seine Kreditabstimmung als für die Partei nicht förderlich. Ein selbständiges, geschlossenes Auftreten der Fraktionsminorität würde - so behauptete er - die Spaltung der Fraktion und damit auch der Partei hervorrufen. Dem widersprach der andere der deutschen Delegierten, der sich im übrigen noch optimistischer über die Aussichten der Minorität nach dem Kriege äußerte. Bei der Beratung der Resolution schilderte ein dritter deutscher Genosse die Situation als durchaus ernst. Die Hoffnung auf freie Betätigung nach dem Kriege könne leicht täuschen. Imperia­listische Gedankengänge hätten leider im Proletariat Eingang gefunden, und nur engste Fühlungnahme mit den Genossen anderer Länder und die Betonung des internationalen Gedankens könne ein Gegengewicht bilden.

Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand:

Die Friedensbewegung des Proletariats

Die Vorbereiter der Konferenz gingen von der Ansicht aus, daß das Proletariat die geschichtliche Mission zu erfüllen habe, den Kampf für den Frieden zu führen und ihn zum Mittelpunkt seiner Aktionen zu ma­chen. So sollte auch die Konferenz den Zweck haben, eine allgemeine Friedensbewegung des Proletariats einzuleiten.

Die deutsche und französische Delegation waren zu Beginn der Konferenz übereingekommen, sich zu einer gemeinsamen Kundgebung zu ver­einigen. Damit sollte gezeigt werden, daß gerade in den beiden Ländern, in denen sich heute noch die offiziellen sozialdemokratischen Parteien schroff gegenüberstehen, bereits die Möglichkeit zu einer Verständigung, zum gemeinsamen politischen Handeln von Sozialisten vorhanden ist. Das geschlossene, brüderliche, solidarische Zusammengehen der Sozia­listen aus diesen beiden Ländern machte einen packenden Eindruck auf die Konferenz.

Zu dem geplanten Manifest waren mehrere Entwürfe eingereicht. Ein Entwurf war von einem Teil der deutschen Delegation vorgelegt. Einige Genossen der deutschen Delegation versagten dem Entwurf ihre Zustim­mung, da er ihnen nach ihrer Auffassung den sozialistischen Standpunkt und die Aufgaben des Proletariats gegenüber dem Kriege nicht scharf genug kennzeichnete. Ein zweiter Entwurf war von russischen Delegierten, die dem Zentralkomitee angeschlossen sind, von einem polnischen Dele­gierten, von dem Schweden und dem Norweger eingereicht. Gegen ihn wandte sich die überwiegende Mehrheit der Konferenz, da er ihr als taktisch verfehlt erschien. Ein dritter Entwurf war von einem Herausgeber einer russischen Zeitung eingebracht. Er entsprach in seiner prinzipiellen und taktischen Auffassung der Mehrheit der Konferenz, doch wurden Be­denken geäußert, daß er nicht dem Charakter eines Manifestes entsprach. Man kam nun überein, die drei Entwürfe einer international zusammen­gesetzten Kommission als Grundlage zur Ausarbeitung eines Manifestes zu übergeben. In der Debatte, die sich über das Manifest entwickelte, wurde auch ganz allgemein über die Aufgaben gesprochen, die die Oppo­sitionen in den Ländern zu erfüllen haben, in denen die offizielle Partei versagt hatte. An sie wurden besonders mahnende Worte gerichtet; sie sollte in diesem schweren Kampfe nicht erlahmen und ständig die Sache des Sozialismus gegen alle Verfolgungen, woher sie auch kämen, über alles stellen.

Den einzigen wichtigen Differenzpunkt bildete die Forderung der strikten Ablehnung der Kredite.

Die beiden bereits erwähnten deutschen Delegierten polemisierten lebhaft gegen eine solche „Bindung". Die Frage müsse den Deutschen allein überlassen werden. Mit Rücksicht auf den lebhaften Widerspruch beson­ders eines deutschen Delegierten zogen 12 Unterzeichner unter Protest diesen Satz der Resolution zurück, mit der weiteren Begründung, daß der betreffende deutsche Delegierte selbst zugegeben habe, die strikte Ablehnung ergebe sich von selbst aus dem übrigen Inhalt der Resolution.

Das in Kollektivarbeit der verschiedensten Nationen geschaffene Manifest wurde der Konferenz vorgelegt und fand nach unwesentlichen Änderungen einstimmige Annahme.

Von der deutschen und französischen Delegation wurde beantragt, das Manifest persönlich zu unterzeichnen. Die Massen könnten nur dadurch das Vertrauen zum Sozialismus wiedergewinnen, wenn sie sähen, daß die Führer bereit sind, mit ihrer ganzen Person für ihre Sache einzutreten.

Eine prinzipielle Resolution wurde als Grundlage der stattfindenden Konferenz von einem Vertreter des polnischen Landesvorstandes, dem russischen Zentralkomitee, der Letten, Schweden und Norweger vorgelegt. Von verschiedenen Delegierten wurde zum Ausdruck gebracht, daß die Aufgabe der Konferenz darin bestehe, die verschiedenen sozialistischen Parteien der verschiedenen Länder vor allem zum gemeinsamen Kampf für den Frieden zusammenzuführen. Die Zeit erfordere vor allem einen Kampfruf an die Arbeiterklasse. Einer späteren Zeit müsse es vorbehal­ten sein, sich über den prinzipiellen Standpunkt der sich zum Kampf ver­einigten Sozialisten aller Länder zu verständigen.
Schließlich fand noch eine Sympathiekundgebung für die im Kampfe für den Sozialismus Verfolgten und Gefallenen einstimmige Annahme. Unter anderen spricht die Kundgebung die Sympathie mit den Genossen Liebknecht, Luxemburg und Zetkin aus.

Zur Fortsetzung des gemeinsamen Kampfes für den Frieden, zur Festigung der neugeknüpften Bande der Internationale wurde ein Zentral­punkt geschaffen: ein Internationales Sozialistisches Komitee. Es wurde ausdrücklich betont, daß das Komitee nicht eine dauernde neue Einrich­tung gegen das Sozialistische Büro sei, es sollte nur so lange bestehen, so lange das Büro seine Pflichten nicht erfüllt. Dem Komitee gehören an: Grimm, Naine, Norgari und Genossin Balabanowa als Übersetzerin.

Die Vertreter der verschiedenen Länder schieden mit dem Bewußtsein, daß die Bande der internationalen proletarischen Solidarität von neuem geknüpft und daß diese internationalen Bande ihnen neue Kraft und Zuversicht im Kampfe im eigenen Lande geben.

Editorische Hinweise

Quelle: Spartacus, Nr.10 vom November 1915, reprinted in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrg.): Spartakusbriefe,  Berlin 1958, S.78-82, OCR-Scan: red trend. Der/die Verfasser/in dieses Berichts ist unbekannt.

Eine ausführliche Darstellung der Zimmerwalder Konferenz und daran anschließender Treffen revolutionärer Sozialist*innen stammt von Angelica Balabanoff, Die Zimmerwalder Bewegung 1914-1919, Leipzig 1928, Nachdruck, Frankfurt/Main 1969. Aus diesem Buch entnahmen wir den folgenden Wortlaut des auf der Konferenz beschlossenen Manifests:

Proletarier Europas!

Mehr als ein Jahr dauert der Krieg. Millionen von Leichen bedecken die Schlachtfelder, Millionen von Menschen wurden für ihr ganzes Leben zu Krüppeln gemacht. Europa gleicht einem gigantischen Menschenschlachthaus.

Frieden — das ist die Losung. Gegenüber allen Illusionen, daß es möglich wäre, durch irgendwelche Beschlüsse der Diplomatie und der Regierungen die Grundlage eines dauernden Friedens, den Beginn der Abrüstung herbei­zuführen, haben die revolutionären Sozialdemokraten den Volksmassen immer wieder zu sagen, daß nur die soziale Revolution den dauernden Frieden wie die Befreiung der Menschheit verwirklichen kann.

Die ganze, durch die Arbeit vieler Generationen geschaffene Kultur ist der Verwüstung geweiht. Die wildeste Barbarei feiert heute ihren Triumph über alles, was bis jetzt den Stolz der Menschheit ausmachte.

Welches auch immer die Wahrheit über die unmittelbare Verantwortung für den Ausbruch dieses Krieges sei — das eine steht fest: Der Krieg, der dieses Chaos erzeugte, ist die Folge des Imperialismus, des Strebens der kapitalistischen Klassen jeder Nation, ihre Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren.

Wirtschaftlich rückständige oder politisch schwache Nationen fallen dabei der Unterjochung durch die Großmächte anheim, die in diesem Kriege ver­suchen, die Weltkarte ihrem Ausbeutungsinteresse entsprechend mit Blut und Eisen neu zu gestalten. So droht ganzen Völkern und Ländern, wie Belgien, Polen, den Balkanstaaten, Armenien, das Geschick, als Beutestücke im Spiel der Kompensationen, ganz oder in Teile zerrissen, annektiert zu werden.

Die treibenden Kräfte des Krieges treten in seinem Verlauf in ihrer ganzen Niedertracht hervor. Fetzen um Fetzen jenes Schleiers fällt, mit dem der Sinn dieser Weltkatastrophe vor dem Bewußtsein der Völker verhüllt wurde. Die Kapitalisten aller Länder, die aus dem vergossenen Blut des Volkes das rote Gold der Kriegsproflte münzen, behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der Demokratie, der Befreiung unterdrückter Völker. Sie lügen. In Tat und Wahrheit begraben sie auf den Stätten der Verwüstung die Freiheit des eigenen Volkes mitsamt der Unabhängigkeit anderer Nationen. Neue Fesseln, neue Ketten, neue Lasten entstehen und das Proletariat aller Länder, der siegreichen wie der besiegten, wirf", sie zu tragen haben. Hebung des Wohlstandes ward beim Ausbruch des Krieges verkündet — Not und Entbehrung, Arbeitslosigkeit und Teuerung, Unter­ernährung und Volksseuchen sind da6 wirkliche Ergebnis. Auf Jahrzehnte hinaus werden die Kriegskosten die besten Kräfte der Völker verzehren, die Errungenschaften der sozialen Reformen gefährden und jeden Schritt nach vorwärts verhindern.

Kulturelle Verödung, wirtschaftlicher Niedergang, politische Reaktion — das sind die Segnungen dieses greuelvollen Völkerringens.

So enthüllt der Krieg die nackte Gestalt des modernen Kapitalismus, der nicht nur mit den Interessen der Arbeitermassen, nicht nur mit den Be­dürfnissen der geschichtlichen Entwicklung, sondern mit den elementaren Bedingungen der menschlichen Gemeinschaft unvereinbar geworden ist.

Die herrschenden Gewalten der kapitalistischen Gesellschaft, in deren Händen das Geschick der Völker ruhte, die monarchischen wie die republi­kanischen Regierungen, die Geheimdiplomatie, die mächtigen Unternehmer­organisationen, die bürgerlichen Parteien, die kapitalistische Presse, die Kirche — sie alle tragen das volle Gewicht der Verantwortung für diesen Krieg, welcher aus der sie nährenden und von ihnen geschützten Gesellschaftsordnung entstanden ist und für ihre Interessen geführt wird.

Arbeiter! Ausgebeutet, entrechtet, mißachtet nannte man euch beim Aus­bruch des Krieges, als es galt, euch auf die Schlachtbank, dem Tode entgegenzuführen, Brüder und Kameraden. Und jetzt, da euch der Militarismus ver­krüppelt, zerfleischt, erniedrigt und vernichtet, fordern die Herrschenden von euch die Preisgabe eurer Interessen, eurer Ziele, eurer Ideale, mit einem Wort: die sklavische Unterordnung unter den Burgfrieden. Man beraubt euch der Möglichkeit, eure Ansichten, eure Gefühle, euren Schmerz zu äußern, man verwehrt es euch, eure Forderungen zu erheben und sie zu vertreten. Die Presse geknebelt, die politischen Rechte und Freiheiten mit Füßen ge­treten — so herrscht heute Militärdiktatur mit eiserner Faust.

Diesem Zustand, der die gesamte Zukunft Europas und der Menscheit bedroht, können und dürfen wir nicht weiter tatenlos gegenüberstehen. Jahr­zehntelang hat das sozialistische Proletariat den Kampf gegen den Militaris­mus geführt. Mit wachsender Besorgnis beschäftigten sich seine Vertreter auf ihren nationalen und internationalen Tagungen mit der aus dem Imperialismus immer bedrohlicher hervorgehenden Kriegsgefahr. Zu Stuttgart, zu Kopen­hagen, zu Basel haben die internationalen sozialistischen Kongresse den Weg gezeichnet, den das Proletariat zu betreten hat.

Sozialistische Parteien und Arbeiterorganisationen verschiedener Länder, die diesen Weg mitbestimmten, haben die daraus fließenden Verpflichtungen seit Beginn des Krieges mißachtet. Ihre Vertreter haben die Arbeiterschaft zur Einstellung des Klassenkampfes, des einzig möglichen und wirksamen Mittels der proletarischen Emanzipation, aufgefordert. Sie haben den herr­schenden Klassen die Kredite zur Kriegsführung bewilligt, sie haben sich den Regierungen zu den verschiedensten Diensten zur Verfügung gestellt, sie haben durch ihre Presse und ihre Sendboten die Neutralen für die Regierungspolitik ihrer Länder zu gewinnen versucht, sie haben den Regierungen sozia­listische Minister als Geiseln zur Wahrung des Burgfriedens ausgeliefert und damit haben sie vor der Arbeiterklasse, vor ihrer Gegenwart und ihrer Zu­kunft die Verantwortung für diesen Krieg, für seine Ziele und Methoden übernommen. Und wie die einzelnen Parteien, so versagte die berufenste Vertretung der Sozialisten aller Länder: das internationale sozialistische Bureau.

Diese Tatsachen haben es mitverschuldet, daß die internationale Arbeiterklasse, die der nationalen Panik der ersten Kriegsperiode nicht anheimfiel oder sich davon befreite, noch bis jetzt, im zweiten Jahre des Völkermordens, keine Mittel und Wege fand, um den tatkräftigen Kampf für den Frieden gleichzeitig in allen Ländern aufzunehmen.

In dieser unerträglichen Lage haben wir, die Vertreter der sozialistischen Parteien, Gewerkschaften und ihrer Minderheiten, wir Deutsche, Franzosen, Italiener, Russen, Polen, Letten, Rumänen, Bulgaren, Schweden, Norweger, Holländer und Schweizer, wir, die nicht auf dem Eoden der nationalen Solidarität mit der Ausbeuterklasse, sondern auf dem Boden der internationalen Solidarität des Proletariats und des Klassenkampfes stehen, uns zusammen­gefunden, um die zerrissenen Fäden der internationalen Beziehungen neu zu knüpfen und die Arbeiterklasse zur Selbstbesinnung und zum Kampfe für den Frieden aufzurufen.

Dieser Kampf ist der Kampf für die Freiheit, für die Völkerverbrüderung, für den Sozialismus. Ea gilt, dieses Ringen um den Frieden aufzunehmen, für einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen. Ein solcher Friede aber ist nur möglich unter Verurteilung jedes Gedankeng an eine Vergewaltigung der Rechte und Freiheiten der Völker. Weder die Besetzung von ganzen Ländern noch von einzelnen Landesteilen darf zu ihrer gewalt­samen Einverleibung fähren. Keine Annexion, weder eine offene, noch eine maskierte, auch keine zwangsweise wirtschaftliche Angliederung, die durch politische Entrechtung nur noch unerträglicher gemacht wird. Das Selbst­bestimmungsrecht der Völker muß unerschütterlicher Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse sein.

Proletarier! Seit Ausbruch des Krieges habt ihr eure Tatkraft, euren Mut, eure Ausdauer in den Dienst der herrschenden Klassen gestellt. Nun gilt es, für die eigene Sache, für die heiligen Ziele des Sozialismus, für die Erlösung der unterdrückten Völker wie der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf.

Aufgabe und Pflicht der Sozialisten der kriegführenden Länder ist es, diesen Kampf mit voller Wucht aufzunehmen, Aufgabe und Pflicht der Sozia­listen der neutralen Staaten, ihre Brüder in diesem Ringen gegen die blutige Barbarei mit allen wirksamen Mitteln zu unterstützen.
Niemals in der Weltgeschichte gab es eine dringendere, eine höhere, eine erhabenere Aufgabe, deren Erfüllung unser gemeinsames Werk sein soll. Kein Opfer zu groß, keine Last zu schwer um dieses Ziel: den Frieden unter den Völkern zu erreichen.

Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen! Verwundete und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg leidet, rufen wir zu: Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg,

Proletarier aller Länder vereinigt euch! Zimmerwald (Schweiz), im September 1915.

Im Namen der internationalen sozialistischen Konferenz (1):

Für die deutsche Delegation: Georg Ledebour, Adolf Hoffmann; für die französische Delegation: A. Bourderon, A. Merrheim; für die italienische Delegation: G.E.Modigliani, Constantino Lazzari; für die russische Delegation: N. Lenin, Paul Axelrod, M. Bobrow; für die polnische Delegation: St. Lapinski, A. Warski, Cz. Hanecki; für die interbalkanische sozialistische Föderation: im Namen der rumänischen Delegation: C. Racovski, im Namen der bulgarischen Delegation Wassil Kolarow; für die schwedische und norwegische Delegation: Z. Högl und, Ture Nerman; für die hollandische Delegation: H.Roland-Holst; für die schweizerische Delegation: Robert Grimm, Charles Naine.

1)  Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands hatte sich mit dem Zweck der Konferenz einverstanden erklärt und offizielle Delegierte zu ihren Verhandlungen bestimmt. Die Regierung des „freien, demokratischen" Englands verweigerte aber den Delegierten ihre Pässe, so daß die Reise nach dem Konferenzort nicht erfolgen konnte. Aus diesem Grunde konnte das Manifest, dessen Richtlinien die Unabhängige Arbeiterpartei beistimmte, von Vertretern der englischen Arbeiter­schaft nicht sofort unterzeichnet werden.