Her mit einem Gesetz zur Unterstützung und Entschädigung für die Nachkommen der Naziverfolgten!
Rundschreiben an die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft

von Antonín Dick

09/2015

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onlinezeitung

 „Wir gedenken in diesen Stunden aller Opfer des Krieges und der
Gewaltherrschaft. Wir gedenken des unendlichen Leids der Völker,
nicht nur derjenigen, deren Vertreter um diesen Tisch versammelt
sind. Unsere Gedanken gelten dabei in besonderer Weise dem
jüdischen Volk. Wir wollen, dass sich dies niemals wiederholen
wird … Wir werden uns unserer Verantwortung stellen, und wir
werden ihr gerecht werden.“

Erklärung des Bundesaußenministers am 12. September 1990 aus
Anlass des Abschlusses des Zwei-plus-vier-Vertrages in Moskau


Heute vor fünfundzwanzig Jahren hat die Regierung der Bundesrepublik Deutschland dieses Versprechen abgegeben, aber seitdem hat sich für die Hilfe und Entschädigung der Angehörigen der Zweiten Generation nichts getan. Das ist eine Schande angesichts der ungeheuren Traumatisierungen, Behinderungen und Diskriminierungen, denen wir, die nächsten Angehörigen der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, ausgesetzt wurden und noch werden. Obwohl wir Mitglieder der deutschen Gesellschaft sind, gehören wir nicht richtig dazu. Über weite Strecken der Sozialisation wurden viele von uns konfrontiert mit Mitläufern, Profiteuren und Tätern der NS-Volksgemeinschaft, und teilweise reichten diese Negativprägungen bis in die nachfolgende Generation, wie die Schriftstellerin Erica Fischer in ihrem Erinnerungsroman „Himmelstraße“ beweist, wo eine Lebensgemeinschaft nach dem Motto „das Nazikind würde das Judenkind beschützen“ jämmerlich scheitert 1). Besonders dramatisch gestaltete sich die Sozialisation von Nachkommen von Überlebenden für diejenigen, die noch im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 geboren wurden, z. B. für die Kinder des Exils. Viele wuchsen in dezimierten Familien auf. Bundespräsident Joachim Gauck weist darauf hin, wie reaktionär und taub gegenüber den Opfern des Naziterrors die Bundesrepublik im deutschen Nachkrieg war und appelliert an das Mitgefühl der Deutschen heute mit den Naziopfern, wenn er sagt: „Deutschland ist der Konfrontation mit den Opfern nationalsozialistischer Vernichtungspolitik in der Nachkriegsära weitgehend ausgewichen.

Westdeutschland wollte vergessen, Schuld verdrängen, die Vergangenheit unter den Aufbauleistungen des Wirtschaftswunders begraben. Viele, die im NS-Regime Verantwortung getragen hatten, gingen straffrei aus, die meisten Widerstandskämpfer hingegen galten als Vaterlandsverräter. Und für die Opfer der deutschen Grausamkeiten fehlte damals das Mitgefühl.“ 2)


Sonnabend, 1. August 2015, 15.00 Uhr, Berlin-Steglitz, Kreuzung Schloßstr. / Grunewaldstr:
Völkische Hetzkundgebung der NPD gegen Flüchtlinge mit Fahnen, Musik und Reden. Sound und Texte sind teilweise zusammengestohlen aus Liedern und Texten der Arbeiterbewegung, der Friedensbewegung, der DDR-Singe-Bewegung, der DDR-Oppositionsbewegung und – ja, man glaubt es kaum – aus Versatzstücken der jiddischen Musik. Demagogie der billigsten Sorte! Durch Polizei getrennt, haben sich auf der anderen Straßenseite vorwiegend junge und jüngere Gegendemonstranten postiert, mit Sprechchören, Stinkefinger und zwei Fahnen – einer Israelfahne und einer Anti-Nazi-Fahne. Flüchtlingsheime brennen massenweise, böse Erinnerungen an die brennenden Synagogen von 1938 werden geweckt. Eine junge Frau postiert sich am Straßenrand und bei Grün auf dem Fahrdamm mit einem selbstgemalten Schild, mit dem sie die Autofahrer zu zweimaligem Hupen gegen die Nazis auffordert. Durchgehend ist auf der Kreuzung ein zweimaliges Hupen zu hören. Ich fotografiere die Nazis mit Entsetzen und Abscheu, wie die beiden Frauen auf dem Foto, die die Nazis beobachten, aber ich, ein Kind von Überlebenden, weiß im Unterschied zu ihnen nicht immer, während ich fotografiere, was noch Spuk und Mummenschanz von gestern und was schon handfeste Realität, schlicht und einfach Wiederkehr und Kontinuität ist.

Hier sollen konzeptionelle, organisatorische und entschädigungsrechtliche Ansätze und Schritte vorgestellt werden, die dazu geeignet sind, eine Gesetzesinitiative für die oberste Volksvertretung der Bundesrepublik Deutschland vorzubereiten. Eine solche individuelle Bürgerbeteiligung an einer Gesetzesinitiative ist nicht ungewöhnlich. Sie gründet sich auf positive Erfahrungen, wie sie in solchen entwickelten Demokratien wie in den USA, in der Schweiz oder in Österreich gewonnen werden konnten.

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Die nächsten Schritte auf dem Weg zu einem Gesetz über die Anerkennung und Entschädigung von unmittelbaren Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus wären u. a. folgende:

1. In der Bundesrepublik Deutschland leben bis zu 500 000 Töchter und Söhne von Verfolgten des Naziregimes. Zunächst wäre es notwendig, sich über eine empirisch-soziologische Untersuchung einen Überblick über die Alters- und Sozialstruktur, die Lebensbedingungen und Lebensansprüche der Angehörigen der Zweiten Generation, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, zu verschaffen.

2. Im Vorfeld der Erarbeitung einer Gesetzesinitiative wäre eine Zusammenarbeit der wichtigsten Opferverbände der Bundesrepublik erforderlich. Dazu gehören u. a. der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte mit Sitz in Köln, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes mit Sitz in Berlin, der Bund der Verfolgten des Naziregimes mit Sitz in Berlin sowie der Bund Widerstand und Verfolgung mit Sitz in München.

3. Seit anderthalb Jahren liegt der Öffentlichkeit ein Grundkatalog von Ansprüchen und Forderungen der Angehörigen der Zweiten Generation vor 3), der auch Grundlage für eine gesetzliche Regelung sein könnte. Es geht in erster Linie um Hilfen und Garantien für die Sicherstellung der materiellen und geistigen Existenz:

1. Finanzielle Entschädigung mit dem Ziel, den Anspruchsberechtigten ausreichenden sozialen Schutz und das Recht auf ein würdiges und unabhängiges Dasein zu gewährleisten sowie umfassende Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben finanziell sicherzustellen

2. Rechtliche Garantien für angemessenen Wohnraum auf Lebenszeit

3. Sicherstellung einer besonderen Gesundheitsfürsorge wie Therapien, Präventivmaßnahmen, Gesprächskreise von Betroffenen, Erholungsreisen und Kuren

4. Beihilfen wie Stipendien und Förderungen für die gesellschaftlich hochanerkannte Erinnerungsarbeit, die die Zweite Generation leistet

5. Besondere soziale und medizinische Unterstützung für die Alterssicherung

6. Sicherstellung einer uneingeschränkten Mobilität mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch entsprechende Kostenübernahmen

Dieser Grundkatalog sollte Grundlage für die Diskussion einer noch auszuarbeitenden Gesetzesinitiative für die Angehörigen der Zweiten Generation der Naziverfolgten sein. Seitens des Amsterdamer Institutes für Holocaust-Studien wurde er inzwischen ins Niederländische und Englische übersetzt. Auf der internationalen Konferenz von Holocaust-Überlebenden, die im Oktober 2015 in Houston (USA) stattfinden wird, wird er erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.

4. In Israel gibt es von Deutschland getragene Hilfen für Angehörige von Überlebenden des deutschen Naziterrors. Warum nicht im Land der Täter, in Deutschland selbst? Möglicherweise wäre für eine solche unbürokratische Unterstützung von Nachkommen von Naziopfern auch gar kein eigenes Gesetz notwendig, sondern lediglich eine spezifizierte Anwendung der Härtefallregelung, wie sie die gültigen Entschädigungsgesetze, beispielsweise das Berliner Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch, rassisch und religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) in § 31 PrVG, vorsehen. Juristisch handelte es sich hier um eine Novellierung der bestehenden Gesetze in Gestalt einer Durchführungsbestimmung.

5. Sinnvoll wäre die Gründung einer bundesweiten Arbeitsgruppe, der auch Angehörige der Zweiten Generation angehören, die eine Gesetzesinitiative ausarbeitet und den verantwortlichen Organen und Fraktionen des Bundestages als Arbeitsgrundlage vorlegt. Dies fiele ebenfalls in die Kompetenz der Opferverbände.

6. Die Angehörigen der Zweiten Generation der Naziverfolgten brauchen nicht nur die deutsche Mehrheitsgesellschaft, sondern diese braucht umgekehrt auch sie. Sie sind die Träger der authentischen Leidenserfahrungen. Sie verfügen über zuverlässiges Wissen über die geistig-politischen Ursachen und inneren Entstehungsbedingungen des Nationalsozialismus. Es ist immerhin Erfahrungswissen von 500 000 Menschen! Eine gesetzliche Regelung wäre daher nicht nur tätige Solidarität mit den Angehörigen der Zweiten Generation, sondern auch eine unverzichtbare Stärkung der natürlichen gesellschaftlichen Abwehrkräfte gegen alle Gefahren von rechts. Der schwedische Autor Göran Rosenberg, Sohn von Auschwitz-Überlebenden, engagiert sich gegenwärtig gegen die Antiflüchtlingsparteien in Europa und gegen die Gefahr von rechts. 4) Das Bundeskriminalamt hat im Juli 2015 eine Stellungnahme zu dem Vordringen „einer völkischen Ideologie“ auf breiter Front im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation hierzulande erarbeitet. In dem neunzehnseitigen Papier wird auf die real existierende Gefahr einer neuen Art von „Harzburger Front“ für unsere gesamte demokratische Gesellschaft hingewiesen. Im August 2015 warnte der Bundesverfassungsschutz (VS) vor einer Eskalation der Gewalt gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte. Die Zahl der Angriffe auf Asylbewerberheime hat sich, so der VS, im letzten Jahr verdreifacht. Der organisierte Rechtsextremismus, so die politische Analyse des VS, versuche, „volkszornartige“ Angriffe auf Flüchtlinge zu instrumentalisieren. Mehr und mehr übernimmt er aber inzwischen auch die Rolle des unmittelbaren Organisators. Die Argumentation ist im Kern national-sozialistisch.

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In der legendären britischen Exilzeitschrift „Freie Tribüne“ erschien im Januar 1944 ein bemerkenswerter Beitrag zur Wiedergutmachung gegenüber den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus, die nach der Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus einsetzen müsste. Dort heißt es: „Nach Auffassung der Freien Deutschen Bewegung wird aber ein wahrhaft demokratisches Deutschland den politischen Beweis liefern müssen, dass es mit der Nazivergangenheit gebrochen hat, auch was die Juden angeht. Schöne Gesten werden nicht ausreichend sein. Zwar Leben und Gesundheit kann nicht wiederhergestellt werden, Leid nicht ungeschehen gemacht werden, wohl aber können und müssen Zerstörungen und Beraubungen gutgemacht und Plätze für die deutschen Juden freigemacht werden, auf die sie nach ihren Fähigkeiten Anspruch haben“. 5) Von diesem Geist eines aufrichtigen Verantwortungsgefühls der Verantwortlichen der deutschen Gesellschaft für die Not der Nachkommen der Verfolgten des Nationalsozialismus ist auch heute auszugehen, Mit der feierlichen Erklärung des Bundesaußenministers vom 12. September 1990 aus Anlass des Abschlusses des Zwei-plus-vier-Vertrages in Moskau ist völkerrechtskonform an einen Auftrag angeknüpft worden, den die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition mit dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 an das deutsche Volk erteilt haben, das nach Artikel 139 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor seine volle Gültigkeit hat. Diesem Auftrag liegt die Erkenntnis zugrunde, dass der deutsche Staat zwischen 1933 und 1945, wie der Friedenspolitiker und Faschismusforscher Karl Jaspers hervorhob, „ein Verbrecherstaat (war), nicht ein Staat, der auch Verbrechen begeht.“ 6) Der Wissenschaftler dazu weiter: „Dass er ein Verbrecherstaat sei, konnte jeder Mensch wissen in Deutschland. Dass zwar die meisten es sich nicht klargemacht haben, ist nicht zu leugnen. Bei ihnen rede ich in vielen, nicht in allen Fällen, weder von Kriminalität noch von moralischer Schuld, sondern nur von politischer Haftung.“ 7) Und es ist exakt diese staatrechtliche Prämisse der politischen Haftung, die die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung für Unterstützungsleistungen für bedürftige Angehörige der Zweiten Generation der Naziverfolgten juristisch legitimiert.

Anmerkungen:

1) Erica Fischer: Himmelstraße, Berlin 2007, Seite 28
2) Joachim Gauck: Rede auf dem Festakt 60 Jahre Yad Vashem in Berlin am 04. 03. 2014 in Berlin
3) Antonín Dick / Alice M. Schloesser: Resolution der Zweiten Generation der Naziverfolgten, in TREND onlinezeitung, 04 / 2014
4) Göran Rosenberg: Flüchtlinge, damals, in: Der Tagesspiegel vom 21. 08. 2015
5) Freie Tribüne, Verlag Freie Deutsche Jugend, London 1944, Seite 49
6) Karl Jaspers in einem Interview mit dem „Spiegel“, in: Der Spiegel, Nr. 11 / 1965, Seite 52
7) Karl Jaspers, ebenda
 

Berlin, den 12. September 2015


Editorische Hinweise

Text, Foto und Bildtext erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.

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