„Wir
gedenken in diesen Stunden aller Opfer des Krieges und der
Gewaltherrschaft. Wir gedenken des unendlichen Leids der Völker,
nicht nur derjenigen, deren Vertreter um diesen Tisch versammelt
sind. Unsere Gedanken gelten dabei in besonderer Weise dem
jüdischen Volk. Wir wollen, dass sich dies niemals wiederholen
wird … Wir werden uns unserer Verantwortung stellen, und wir
werden ihr gerecht werden.“
Erklärung des Bundesaußenministers am 12. September 1990 aus
Anlass des Abschlusses des Zwei-plus-vier-Vertrages in Moskau
Heute vor fünfundzwanzig Jahren hat die Regierung der
Bundesrepublik Deutschland dieses Versprechen abgegeben, aber
seitdem hat sich für die Hilfe und Entschädigung der Angehörigen
der Zweiten Generation nichts getan. Das ist eine Schande
angesichts der ungeheuren Traumatisierungen, Behinderungen und
Diskriminierungen, denen wir, die nächsten Angehörigen der Opfer
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, ausgesetzt wurden
und noch werden. Obwohl wir Mitglieder der deutschen Gesellschaft
sind, gehören wir nicht richtig dazu. Über weite Strecken der
Sozialisation wurden viele von uns konfrontiert mit Mitläufern,
Profiteuren und Tätern der NS-Volksgemeinschaft, und teilweise
reichten diese Negativprägungen bis in die nachfolgende
Generation, wie die Schriftstellerin Erica Fischer in ihrem
Erinnerungsroman „Himmelstraße“ beweist, wo eine
Lebensgemeinschaft nach dem Motto „das Nazikind würde das
Judenkind beschützen“ jämmerlich scheitert 1). Besonders
dramatisch gestaltete sich die Sozialisation von Nachkommen von
Überlebenden für diejenigen, die noch im Verfolgungszeitraum
zwischen 1933 und 1945 geboren wurden, z. B. für die Kinder des
Exils. Viele wuchsen in dezimierten Familien auf. Bundespräsident
Joachim Gauck weist darauf hin, wie reaktionär und taub gegenüber
den Opfern des Naziterrors die Bundesrepublik im deutschen
Nachkrieg war und appelliert an das Mitgefühl der Deutschen heute
mit den Naziopfern, wenn er sagt: „Deutschland ist der
Konfrontation mit den Opfern nationalsozialistischer
Vernichtungspolitik in der Nachkriegsära weitgehend ausgewichen.
Westdeutschland wollte vergessen,
Schuld verdrängen, die Vergangenheit unter den Aufbauleistungen
des Wirtschaftswunders begraben. Viele, die im NS-Regime
Verantwortung getragen hatten, gingen straffrei aus, die meisten
Widerstandskämpfer hingegen galten als Vaterlandsverräter. Und
für die Opfer der deutschen Grausamkeiten fehlte damals das
Mitgefühl.“ 2) |
Sonnabend, 1. August 2015, 15.00 Uhr,
Berlin-Steglitz, Kreuzung Schloßstr. / Grunewaldstr:
Völkische Hetzkundgebung der NPD gegen Flüchtlinge mit
Fahnen, Musik und Reden. Sound und Texte sind teilweise
zusammengestohlen aus Liedern und Texten der
Arbeiterbewegung, der Friedensbewegung, der
DDR-Singe-Bewegung, der DDR-Oppositionsbewegung und – ja, man
glaubt es kaum – aus Versatzstücken der jiddischen Musik.
Demagogie der billigsten Sorte! Durch Polizei getrennt, haben
sich auf der anderen Straßenseite vorwiegend junge und
jüngere Gegendemonstranten postiert, mit Sprechchören,
Stinkefinger und zwei Fahnen – einer Israelfahne und einer
Anti-Nazi-Fahne. Flüchtlingsheime brennen massenweise, böse
Erinnerungen an die brennenden Synagogen von 1938 werden
geweckt. Eine junge Frau postiert sich am Straßenrand und bei
Grün auf dem Fahrdamm mit einem selbstgemalten Schild, mit
dem sie die Autofahrer zu zweimaligem Hupen gegen die Nazis
auffordert. Durchgehend ist auf der Kreuzung ein zweimaliges
Hupen zu hören. Ich fotografiere die Nazis mit Entsetzen und
Abscheu, wie die beiden Frauen auf dem Foto, die die Nazis
beobachten, aber ich, ein Kind von Überlebenden, weiß im
Unterschied zu ihnen nicht immer, während ich fotografiere,
was noch Spuk und Mummenschanz von gestern und was schon
handfeste Realität, schlicht und einfach Wiederkehr und
Kontinuität ist. |
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Hier sollen konzeptionelle,
organisatorische und entschädigungsrechtliche Ansätze und Schritte
vorgestellt werden, die dazu geeignet sind, eine Gesetzesinitiative
für die oberste Volksvertretung der Bundesrepublik Deutschland
vorzubereiten. Eine solche individuelle Bürgerbeteiligung an einer
Gesetzesinitiative ist nicht ungewöhnlich. Sie gründet sich auf
positive Erfahrungen, wie sie in solchen entwickelten Demokratien wie
in den USA, in der Schweiz oder in Österreich gewonnen werden
konnten.
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Die nächsten Schritte auf dem Weg zu
einem Gesetz über die Anerkennung und Entschädigung von unmittelbaren
Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus wären u. a.
folgende:
1. In der Bundesrepublik Deutschland
leben bis zu 500 000 Töchter und Söhne von Verfolgten des
Naziregimes. Zunächst wäre es notwendig, sich über eine
empirisch-soziologische Untersuchung einen Überblick über die Alters-
und Sozialstruktur, die Lebensbedingungen und Lebensansprüche der
Angehörigen der Zweiten Generation, die in der Bundesrepublik
Deutschland leben, zu verschaffen.
2. Im Vorfeld der Erarbeitung einer
Gesetzesinitiative wäre eine Zusammenarbeit der wichtigsten
Opferverbände der Bundesrepublik erforderlich. Dazu gehören u. a. der
Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte mit Sitz in
Köln, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes mit Sitz in
Berlin, der Bund der Verfolgten des Naziregimes mit Sitz in Berlin
sowie der Bund Widerstand und Verfolgung mit Sitz in München.
3. Seit anderthalb Jahren liegt der
Öffentlichkeit ein Grundkatalog von Ansprüchen und Forderungen der
Angehörigen der Zweiten Generation vor 3), der auch Grundlage für
eine gesetzliche Regelung sein könnte. Es geht in erster Linie um
Hilfen und Garantien für die Sicherstellung der materiellen und
geistigen Existenz:
1. Finanzielle Entschädigung mit
dem Ziel, den Anspruchsberechtigten ausreichenden sozialen Schutz
und das Recht auf ein würdiges und unabhängiges Dasein zu
gewährleisten sowie umfassende Teilnahme am sozialen und
kulturellen Leben finanziell sicherzustellen
2. Rechtliche Garantien für
angemessenen Wohnraum auf Lebenszeit
3. Sicherstellung einer besonderen
Gesundheitsfürsorge wie Therapien, Präventivmaßnahmen,
Gesprächskreise von Betroffenen, Erholungsreisen und Kuren
4. Beihilfen wie Stipendien und
Förderungen für die gesellschaftlich hochanerkannte
Erinnerungsarbeit, die die Zweite Generation leistet
5. Besondere soziale und
medizinische Unterstützung für die Alterssicherung
6. Sicherstellung einer
uneingeschränkten Mobilität mit den öffentlichen Verkehrsmitteln
durch entsprechende Kostenübernahmen
Dieser Grundkatalog sollte Grundlage
für die Diskussion einer noch auszuarbeitenden Gesetzesinitiative für
die Angehörigen der Zweiten Generation der Naziverfolgten sein.
Seitens des Amsterdamer Institutes für Holocaust-Studien wurde er
inzwischen ins Niederländische und Englische übersetzt. Auf der
internationalen Konferenz von Holocaust-Überlebenden, die im Oktober
2015 in Houston (USA) stattfinden wird, wird er erstmals einer
breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.
4. In Israel gibt es von Deutschland
getragene Hilfen für Angehörige von Überlebenden des deutschen
Naziterrors. Warum nicht im Land der Täter, in Deutschland selbst?
Möglicherweise wäre für eine solche unbürokratische Unterstützung von
Nachkommen von Naziopfern auch gar kein eigenes Gesetz notwendig,
sondern lediglich eine spezifizierte Anwendung der Härtefallregelung,
wie sie die gültigen Entschädigungsgesetze, beispielsweise das
Berliner Gesetz über die Anerkennung und Versorgung der politisch,
rassisch und religiös Verfolgten des Nationalsozialismus (PrVG) in §
31 PrVG, vorsehen. Juristisch handelte es sich hier um eine
Novellierung der bestehenden Gesetze in Gestalt einer
Durchführungsbestimmung.
5. Sinnvoll wäre die Gründung einer
bundesweiten Arbeitsgruppe, der auch Angehörige der Zweiten
Generation angehören, die eine Gesetzesinitiative ausarbeitet und den
verantwortlichen Organen und Fraktionen des Bundestages als
Arbeitsgrundlage vorlegt. Dies fiele ebenfalls in die Kompetenz der
Opferverbände.
6. Die Angehörigen der Zweiten
Generation der Naziverfolgten brauchen nicht nur die deutsche
Mehrheitsgesellschaft, sondern diese braucht umgekehrt auch sie. Sie
sind die Träger der authentischen Leidenserfahrungen. Sie verfügen
über zuverlässiges Wissen über die geistig-politischen Ursachen und
inneren Entstehungsbedingungen des Nationalsozialismus. Es ist
immerhin Erfahrungswissen von 500 000 Menschen! Eine gesetzliche
Regelung wäre daher nicht nur tätige Solidarität mit den Angehörigen
der Zweiten Generation, sondern auch eine unverzichtbare Stärkung der
natürlichen gesellschaftlichen Abwehrkräfte gegen alle Gefahren von
rechts. Der schwedische Autor Göran Rosenberg, Sohn von
Auschwitz-Überlebenden, engagiert sich gegenwärtig gegen die
Antiflüchtlingsparteien in Europa und gegen die Gefahr von rechts. 4)
Das Bundeskriminalamt hat im Juli 2015 eine Stellungnahme zu dem
Vordringen „einer völkischen Ideologie“ auf breiter Front im
Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation hierzulande erarbeitet. In
dem neunzehnseitigen Papier wird auf die real existierende Gefahr
einer neuen Art von „Harzburger Front“ für unsere gesamte
demokratische Gesellschaft hingewiesen. Im August 2015 warnte der
Bundesverfassungsschutz (VS) vor einer Eskalation der Gewalt gegen
Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte. Die Zahl der Angriffe auf
Asylbewerberheime hat sich, so der VS, im letzten Jahr verdreifacht.
Der organisierte Rechtsextremismus, so die politische Analyse des VS,
versuche, „volkszornartige“ Angriffe auf Flüchtlinge zu
instrumentalisieren. Mehr und mehr übernimmt er aber inzwischen auch
die Rolle des unmittelbaren Organisators. Die Argumentation ist im
Kern national-sozialistisch.
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In der legendären britischen
Exilzeitschrift „Freie Tribüne“ erschien im Januar 1944 ein
bemerkenswerter Beitrag zur Wiedergutmachung gegenüber den jüdischen
Opfern des Nationalsozialismus, die nach der Befreiung Deutschlands
vom Hitlerfaschismus einsetzen müsste. Dort heißt es: „Nach
Auffassung der Freien Deutschen Bewegung wird aber ein wahrhaft
demokratisches Deutschland den politischen Beweis liefern müssen,
dass es mit der Nazivergangenheit gebrochen hat, auch was die Juden
angeht. Schöne Gesten werden nicht ausreichend sein. Zwar Leben und
Gesundheit kann nicht wiederhergestellt werden, Leid nicht
ungeschehen gemacht werden, wohl aber können und müssen Zerstörungen
und Beraubungen gutgemacht und Plätze für die deutschen Juden
freigemacht werden, auf die sie nach ihren Fähigkeiten Anspruch
haben“. 5) Von diesem Geist eines aufrichtigen Verantwortungsgefühls
der Verantwortlichen der deutschen Gesellschaft für die Not der
Nachkommen der Verfolgten des Nationalsozialismus ist auch heute
auszugehen, Mit der feierlichen Erklärung des
Bundesaußenministers vom 12. September 1990 aus Anlass des
Abschlusses des Zwei-plus-vier-Vertrages in Moskau ist
völkerrechtskonform an einen Auftrag angeknüpft worden, den die
Alliierten der Anti-Hitler-Koalition mit dem Potsdamer Abkommen vom
2. August 1945 an das deutsche Volk erteilt haben, das nach Artikel
139 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor seine
volle Gültigkeit hat. Diesem Auftrag liegt die Erkenntnis zugrunde,
dass der deutsche Staat zwischen 1933 und 1945, wie der
Friedenspolitiker und Faschismusforscher Karl Jaspers hervorhob, „ein
Verbrecherstaat (war), nicht ein Staat, der auch Verbrechen begeht.“
6) Der Wissenschaftler dazu weiter: „Dass er ein Verbrecherstaat sei,
konnte jeder Mensch wissen in Deutschland. Dass zwar die meisten es
sich nicht klargemacht haben, ist nicht zu leugnen. Bei ihnen rede
ich in vielen, nicht in allen Fällen, weder von Kriminalität noch von
moralischer Schuld, sondern nur von politischer Haftung.“ 7) Und es
ist exakt diese staatrechtliche Prämisse der politischen Haftung, die
die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung für
Unterstützungsleistungen für bedürftige Angehörige der Zweiten
Generation der Naziverfolgten juristisch legitimiert.
Anmerkungen:
1) Erica Fischer: Himmelstraße, Berlin
2007, Seite 28
2) Joachim Gauck: Rede auf dem Festakt 60 Jahre Yad Vashem in Berlin
am 04. 03. 2014 in Berlin
3) Antonín Dick / Alice M. Schloesser: Resolution der Zweiten
Generation der Naziverfolgten, in TREND onlinezeitung, 04 / 2014
4) Göran Rosenberg: Flüchtlinge, damals, in: Der Tagesspiegel vom 21.
08. 2015
5) Freie Tribüne, Verlag Freie Deutsche Jugend, London 1944, Seite 49
6) Karl Jaspers in einem Interview mit dem „Spiegel“, in: Der
Spiegel, Nr. 11 / 1965, Seite 52
7) Karl Jaspers, ebenda
Berlin, den 12. September 2015
Editorische
Hinweise
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Bildtext erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
Zum Thema erschien in
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