Marokko nach den Regional- und Rathauswahlen
Erster Wahltest für islamistische Regierungspartei

von Bernard Schmid

09/2015

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Am 04. September d.J. wählten die neu besetzten Regionalparlamente in Marokko ihre jeweiligen Regionalpräsidenten. Aufgrund von konträren Koalitionen zog die islamistische Regierungspartei PJD dabei, trotz ihres hohen Abschneidens bei dem Urnengang vom 04.09.2015, letztendlich insgesamt den Kürzeren. Zwei Drittel der Regionalpräsidentschaften gewinnt deswegen, laut jüngsten Angaben vom 14. September 15, die parlamentarische Opposition/ vgl. http://www.le360.ma

Nicht alle waren in den letzten Tagen mit Marokko so mit Wahlen beschäftigt, dass sie sich für nichts Anderes mehr interessiert hätten. Wie die Zeitung L’Economiste am Montag, den 07. September 15 bekannt gab // vgl. http://www.le360.ma/// , nahmen wütende Arbeiter in den Tagen zuvor die Druckerei Med Paper im nordmarokkanischen Tanger auseinander und zerstörten Teile der Produktion. Voraus ging ein Streit zwischen der Betriebsleitung und Beschäftigten um Schichten an ursprünglich arbeitsfreien Tagen sowie um die Kündigung von Lohnabhängigen, die zuvor an der Gründung einer Sektion der Gewerkschaft UMT teilgenommen hatten. Die Direktion droht nun allerdings damit, sie verfüge über Videoaufnahmen von der Aktion.

Zu Handgreiflichkeiten kam es in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch, den 02. September 15 auch in der Stadt Fes. Hier handelte es sich allerdings um offene Gewalttaten, denen drei Menschen zum Opfer fielen, und sie standen im Zusammenhang mit den landesweit stattfindenden Regional- und Kommunalparlamentswahlen. Aufeinander los gingen in diesem Falle zwei Clans, die derselben Partei zugerechnet werden, der als „thronnah“ – also Unterstützerin der Institutionen der Monarchie geltenden – politischen Vereinigung namens Parti Authencité et modernité (PAM). Bei den Streitigkeiten drehte es sich allerdings weniger um politische Inhalte, sondern der marokkanischen Internetzeitung 360 zufolge // vgl. http://www.le360.ma/fr/ // um die Verteilung von Geldern, die an willige Wahlhelfer und auch an potenzielle Wähler zwecks Stimmenkaufs ausgeschüttet werden – umsonst betreibt in diesen Kreisen niemand Politik. Es ging, darüber hinaus, demnach auch um die Kontrolle des Drogenmarkts und des Schwarzmarkts für Alkohol.

Dies vermittelt einen kleinen Eindruck davon, wie etablierte Politik in Marokko funktioniert. In einem Teil der Bevölkerung gibt es durchaus Menschen, die sich wünschen würden, dass Wahlperioden nie zu Ende gehen, denn so lange Wahlkämpfe laufen oder Stimmen eingekauft werden sollen, müssen finanzielle Mittel ausgeschüttet werden. Dennoch scheint sich ein Teil der Bevölkerung als ausgesprochen wahlmüde erwiesen zu haben. Die offizielle Wahlbeteiligung bei den jüngsten Regionalparlaments- und Rathauswahlen vom Freitag, den 04. September 15 lag zwar bei 53,6 Prozent, doch wird dies durch kritische Beobachter/innen unter Verweis auf den geringen Zulauf zu örtlichen Wahllokalen angezweifelt. Der marokkanische Marxist und Aktivist der Menschenrechtsvereinigung AMDH, Ali Fkir, spricht auf der Grundlage von Kalkulationen mit den konkreten Stimmenergebnissen einzelner Parteien in einzelnen Wahlbezirken von einer realen Beteiligung, die unter 28 Prozent liege. Andere Akteure auf der Linken beziffern sie inzwischen, nach Abzug der Nichtwähler/innen, der nicht ins Wählerverzeichnis eingetragenen Stimmberechtigten sowie der ungültig gemachten Stimmzettel, mit „rund 25 %“.

Es ist vor allem die Stimmbeteiligung, auf die es gegenüber den internationalen „Partnern“ und Investoren Marokkos ankommt, um den Eindruck von Stabilität des monarchisch-mafiösen Regimes zu erwecken.

Kampagne für Stimmboykott

Auf Ebene der bei den Wahlen antretenden politischen Kräfte zeichnet sich hingegen kein Ansatz einer progressiven Alternative ab. Zwar trat die „Föderation der demokratischen Linken“ (FGD), ein Zusammenschluss unter maßgeblicher Beteiligung der laizistisch-marxistisch inspirierten „Vereinigten sozialistischen Partei“ (PSU) zu den Wahlen an. Allerdings war sie eher in Vierteln der Mittel- oder Oberschichten mit Intellektuellenanteil vertreten als in denen der Unterklassen, und im Ergebnis konnte sie keine Schnitte machen. Eine andere aus der radikalen Linken kommende Kraft, die ex-maoistisch inspirierte Vereinigung La Voie démocratique oder An-Nahj ad-dimokrati (Demokratischer Weg), warb ihrerseits aktiv für den Wahlboykott. Deswegen wurde sie seit Ende August zur Zielscheibe einer Repressionskampagne, die bis nach Spanien und Frankreich für Solidaritätserklärungen sorgte. Mindestens 91 Menschen wurden in diesem Zusammenhang festgenommen, und der Zugang zu Medien blieb dem „Demokratischen Weg“ anders als in der Vergangenheit vollständig versperrt. Dabei finden diese Verfolgungen ohne Rechtsgrundlage statt, denn ein Aufruf zum Stimmboykott ist nicht gesetzlich verbuchen.

Glühbirne und Ölfunzel

Unter den etablierten Kräften teilen den Kuchen die, seit 2008 mit tatkräftiger Unterstützung der Administration gebildete, Partei PAM und die als moderat-islamsitisch geltende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (PJD) unter sich auf. Letztere trägt, übersetzt man ihre vollständige Bezeichnung, denselben Namen wie die türkische AKP, die historisch ihr Vorbild darstellte, und benutzt auch ein ähnliches Symbol – eine Glühbirne im Falle der AKP, eine Ölfunzel respektive Petroleumleuchte in jenem der marokkanischen Islamistenpartei unter Abdelillah Benkirane, der seit dreieinhalb Jahren als Premierminister amtiert. Beide Parteien argumentierten bei ihrem Aufstieg im vergangenen Jahrzehnt damit, dass politischer Islamismus und bürgerliche Demokratie vereinbar seien, propagierten einen faktischen Wirtschaftsliberalismus und kombinierten ihn mit Slogans gegen „Korruption“ – aus denen sich ihre „soziale“ Reputation ableitet - und für eine „Moralisierung“ des öffentlichen Lebens. Allerdings fiel die türkische AKP vor allem in den letzten drei Jahren aufgrund der zunehmend offen autoritären Regierungsmethoden ihres nunmehrigen Staatespräsidenten Recep Tayyip Erdogan hinter ihre früheren Popularitätswerte zurück.

Dies gilt nicht in vergleichbarem Ausmaß für ihr marokkanisches Pendant. Dies liegt hauptsächlich daran, dass der PJD gar nicht dazu kommt, einen ihm eigenen Autoritarismus zu entwickeln. Obwohl die Partei den Premierminister stellt, im Rahmen einer Drei-Parteien-Koalition, besitzt sie nämlich nicht wirklich einen entscheidenden Zipfel der Macht. Die wirklichen Entscheidungsbefugnisse bleiben bei den monarchischen und feudalen Institutionen, die zusammen ein als Makhzen bezeichnetes, formelles und informelles Geflecht bilden. Die bürgerlichen, parlamentarischen Institutionen haben nur so viel zu sagen, wie die Monarchie gerade zulässt.

Deren Machtfülle wurde zwar theoretisch durch die 2011, als offizielle Antwort auf die Umwälzungen und Erhebungen des „Arabischen Frühlings“, verabschiedete und relativ demokratische Verfassung eingeschränkt. Marokko wurde dadurch, juristisch betrachtet, von der quasi-absoluten zur konstitutionellen Monarchie umgewandelt. Doch dies steht auf dem Papier. Denn in der Realität findet die neue Verfassung in vielfacher Hinsicht keine Anwendung, nachdem der 2011 aufgebaute gesellschaftliche Druck für progressive Veränderungen zurückging. So verbietet die neue Verfassung Folter in jeglicher Form, diese wird aber nach wie vor praktiziert. Und auch etwa die marokkanischen Emigranten im Ausland können laut Verfassungstext bei den Wahlen mitstimmen; in der Praxis jedoch noch immer nicht.

„Zivile“, nicht – wie der PAM - aus dem Makhzen hervorgewachsene Parteien werden deswegen mitunter vom König mit der Regierungsbildung betraut, sitzen dabei aber auf die Dauer am kürzeren Hebel, weil das Könighaus – als größter wirtschaftlicher Akteur in Marokko mit seinen Stiftungen und Investimentfonds – faktisch über Investitionen im Land, über den Zugang zu Reichtümern und über die wichtigsten Weichenstellungen entscheidet. Internationale Investitionen fließen ins Land und reißen sich mittlerweile auch etwa das teilweise privatisierte Bildungswesen unter den Nagel, müssen dabei aber mit Partnern aus den Reihen des Königshauses teilen, die als passive Anteilseigener ein Aktienpaket übernehmen. 1997/98 wurde die marokkanische sozialistische Partie USFP mit der Regierungsbildung beauftragt, 2011 dann der PJD. Beide enttäuschten einen beträchtlichen Teil ihrer Wähler/innen/schaft, da sie nicht wirklich entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung im Land nehmen konnten. Beide verzichteten im Vorfeld ihrer Machtbeteiligung auf jegliche ernstzunehmende Kritik an der Monarchie, eine fundamentale strategische Entscheidung.

Für die USFP trug dies längerfristig zur Erosion ihres Stimmenanteils und zum Einflussverlust bei. Bislang nicht jedoch im Falle des PJD. Die institutionell-islamistische Partei gewann 25,6 Prozent der Sitze in den insgesamt neun Regionalparlamenten, und wird künftig wohl drei der vier mit Abstand bevölkerungsreichsten und urban geprägten Regionen allein oder in Koalitionen regieren. Bei den Regionalwahlen ist sie zugleich mit Abstand stärkste Partei. Auf der Ebene der Kommunen landet die Partei Benkiranes zwar nur auf dem dritten Platz mit 15,9 Prozent der Mandate, doch dies vor allem deswegen, weil weder der PJD noch irgendeine andere Partei flächendeckend in allen 31.000 Wahlkreisen anzutreten vermochte. Die Partei musste deshalb beträchtliche „weiße Flecken“ auf der Landkarte belassen. Auf der kommunalen Ebene liegt der PAM in Führung, mit 21,1 Prozent der Sitze, während die Partei auf der Ebene der Regionen 19,4 Prozent der Mandate holen konnte.

Es ist davon auszugehen, dass eine Manipulation der Zahlen in den staatlichen Angaben auf die – angebliche - Höhe der Wahlbeteiligung Einfluss nimmt, jedoch nicht oder kaum die proportionalen Stimmenanteile zwischen den einzelnen Parteien verschiebt.

Beide Formationen, PJD und PAM, verkörpern zwei unterschiedliche Varianten der Reaktion und verdanken ihrem Einfluss zu nicht unmaßgeblichen Teilen einem klientelistischen Vorgehend der Bildung von Netzwerken und Loyalitäten. Der PJD tut dies bislang mit einem „sozialeren“ Anstrich, erweckt den Anschein von Wohlfahrtsarbeit und prangert häufig die Korruption an – jedenfalls die der Anderen. Beim PAM geht es um nackte Interessenpolitik und die Verteilung von Geldern. Vor allem auf dem Land, wo viele Menschen von faktisch feudalen Mächten abhängig bleiben, verzeichnet er dabei jedoch Erfolge.

Der Einfluss der Linken ist zurückgegangen, vor allem infolge des weitgehenden Scheiterns der Protestbewegung, die im Jahr 2011 unter dem Namen „Bewegung des 20. Februar“ – nach dem Datum ihrer ersten Demonstration, infolge der Umbrüche in Tunesien und Ägypten – entstand. Diese Protestkraft setzte sich für Veränderungen von unten ein und forderte den Abstimmungsboykott beim Referendum über die, offiziell angeblich mit 98 Prozent Stimmbeteiligung angenommene, neue Verfassung. Doch die Leute vom „20. Februar“ sprachen zu sehr von institutionellen Fragen und zu wenig von sozialen Belangen, so dass sie auf die Dauer überwiegend Intellektuelle, jedoch weniger Angehörige der Unterklassen erreichten. Um diese Kluft zu überbrücken, verbündeten die Linken in der Protestbewegung sich zeitweilig mit der außerinstitutionellen und allenfalls halblegalen islamistischen Vereinigung Al-Adl wahl-ihsane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) unter Nadia Yassine, die dann jedoch ihrerseits das Bündnis platzen ließ. Heute bestehen zwar noch Reste der anfänglich durchaus breiten Protestbewegung, die jedoch das meiste von ihrem früheren Sympathiekapital eingebüßt haben.

Mit dem Abschneiden des PJD fällt der Ausgang dieser marokkanischen Regional- und Kommunalwahlen, die den ersten „Wahltest“ seit dem Antritt der PJD-geführten Regierung im Winter 2011/12 darstellten, gegenläufig zu der Tendenz in den anderen vom „Arabischen Frühling“ berührten Ländern aus. In Tunesien rutschte die islamistische Partei En-Nahdha, 2011 auf dem Platz als stärksten politische Kraft gelandet, nach einer Legislaturperiode Ende 2014 auf den zweiten Platz ab. In Ägypten wurden die 2011 und 2012 gewählten Muslimbrüder im Juli 2013 durch die Armee, mit Unterstützung eines Teils der Bevölkerung auf den Straßen, von der Macht vertrieben und werden seitdem mit brachialen Repressionsmethoden verfolgt. Unterdessen schafften es in Algerien und Libyen Islamisten nicht, sich infolge der Protestbewegungen oder –ansätze von 2011 zur glaubwürdigsten „Alternative“ aufzuschwingen. In Marokko scheinen diesbezüglich die Uhren derzeit anders zu ticken.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Bericht vom Autor für diese Ausgabe.

Eine gekürzte Fassung erschien am 10.9.2015  in der Berliner Wochenzeitung ,Jungle World’.